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Enklave Ost

Ein Berlin-Fantasy-Roman

©2024 352 Seiten

Zusammenfassung

Seit dem Zusammenbruch der DDR 1989 ist die Stadt nach wie vor geteilt. Während das gesamte Staatsgebiet der DDR jetzt zur BRD gehört, ist Ostberlin zu einer Enklave geworden, weil die Siegermächte sich nicht mit den Russen darüber einigen konnten. Es lebe die „Freie Republik Berlin“ unter internationalem Protektorat! Selbige dümpelt seitdem zufrieden vor sich hin. Ein bedingungsloses Grundeinkommen, finanziert durch den Anbau von Marihuana, das im Westen halblegal verkauft wird, sichert sie materiell einigermaßen ab. Aber das Paradies ist gefährdet, weil der immer hemmungsloser werdende „Bockwurst-Kapitalismus“ in Westberlin sich die Enklave einverleiben will. Gleichzeitig wollen immer mehr Menschen von Westberlin in den Osten fliehen. Grund genug für den Chef des alles beherrschenden Fitzmann-Konzerns, die Enklave Ostberlin mit einer Privatarmee anzugreifen. In dieser brenzligen Situation bietet sich plötzlich einer Gruppe von Revolutionären aus Ost und West die Chance, die Stadt für immer glücklich zu vereinen.
Der ganz andere Berlin-Roman: Schöner wär’s gewesen, wenn’s anders gekommen wär’ ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorbemerkung

Dies ist die Geschichte, wie es zum sogenannten „glücklich vereinten Berlin“ kam, so wie ich sie aufschreiben konnte. Ich habe versucht, aus allem, was ich erlebt habe und was mir die anderen erzählt haben, das zusammenzufassen, was mir wichtig erschien. Ich spreche dabei von mir in der dritten Person, um meine Rolle nicht größer zu machen, als sie war. Sollte ich hier und da Dinge falsch dargestellt haben, sollen mir die, die es betrifft oder stört, sich melden und sagen, wie es wirklich war. In der Erinnerung mag auch das ein oder andere, das ich selber erlebt habe, anders gewesen sein, als ich es hier beschreibe. Gerne bin ich bereit, auch darüber mit denen zu reden, die zu wissen meinen, wie es wirklich war, vielleicht bei einer guten Flasche Wein oder mit was auch immer sie sich vergnügen wollen.

Besonders die Teile, die in der Enklave Ost spielen, musste ich relativ frei wiedergeben, und ich weiß nicht, ob ich ein adäquates Bild der Zustände dort nach der Wende geben konnte: Ich habe nie dort gelebt und bin nur da gewesen, als sich alles bereits veränderte. Wer glaubte im Osten schon, dass es irgendeinen Wessi gibt, der den Ossis erzählen kann, wie es dort war? Und zwar sowohl zu DDR-Zeiten als auch zu den Zeiten danach, als es die Enklave gab. Trotzdem tue ich es hier und vertraue auf die Freundschaft, die mich mit denen aus dem Osten verbindet, mit denen ich die Ereignisse der zweiten Wende erlebt habe, und darauf, dass sie mir verzeihen und mich, wenn nötig, verteidigen.

Max Mommsen, Berlin

1990

Die Russen hatten es langsam satt. Seit mehr als drei Wochen fuhren sie jetzt täglich in ihrer wackeligen Wolgalimousine nach Berlin-Karlshorst in diese alte Villa. Der Saal, in dem sie verhandelten, war in über vierzig Jahren nicht renoviert worden, Ungeziefer kroch aus allen Wandverkleidungen, die Heizung war kaputt, es roch nach Desinfektionsmittel, aber an so was waren sie von zu Hause ja gewöhnt. Das Schlimmste war: Während der Verhandlungen gab es keinen Alkohol. Nichts mochte die russische Delegation weniger, als wenn es keinen Alkohol gab. Natürlich genehmigten sich die Mitglieder auf der Toilette hier und da ein Schlückchen Wodka aus ihren Flachmännern, aber die von zu Hause mitgebrachten Vorräte gingen allmählich zur Neige, und die westlichen Verhandlungsteilnehmer machten keinerlei Anstalten, für Nachschub zu sorgen.

Die drei Herren in höherem Alter, mit Mänteln samt Pelzbesatz und finsteren Gesichtern, ließen den Fahrer an einem Kiosk neben dem Tierpark anhalten und nach Schnaps fragen. Wie immer vergeblich. Die gesamte Scheiß-DDR schien leergetrunken zu sein.

Bisher waren die Verhandlungen der Alliierten über die künftige Aufteilung Berlins und insbesondere dessen Ostens zäh verlaufen. In den Augen der Sowjets wollten sich Franzosen, Briten und Amerikaner einfach nur unter die Nägel reißen, was ihnen 1945 vorenthalten worden war, ohne dass für sie etwas heraussprang.

Die Sowjetunion war am Ende, das war den Verhandlungsführern aus Moskau klar, auch wenn sie es untereinander natürlich nicht aussprachen. Aber sollten sie deshalb Berlin einfach als Verhandlungsmasse zu allem dazugeben, was der kapitalistische Westen sich bereits eingeheimst hatte? Das kommunistische Ostberlin auch noch widerstandslos aufgeben? Auf keinen Fall.

Die westlichen Verhandlungsführer waren keinesfalls einer Meinung, das hatten die Russen schnell begriffen. Es lag in der Natur des demokratischen Systems, dem sie alle verpflichtet waren. Es gab unter ihnen welche, die einen dritten Weg, wie sie es immer wieder nannten, vorschlugen. Dieser dritte Weg sollte irgendwie eine Mischung aus sozialistischem und kapitalistischem System sein, etwas, was sich die Sowjets genauso wenig vorstellen konnten wie die konservative Seite der Westdelegation. Zu Anfang jedenfalls. Aber je länger sie verhandelten und je weniger Wodka da war, desto mehr interessierten sich die Russen für diesen dritten Weg, egal ob es gegen die Direktiven verstieß, die die beiden Seiten mit auf den Weg bekommen hatten, nämlich in der Berlinfrage keinen Zentimeter zurückzuweichen. Aber es schien keinen anderen Ausweg zu geben. Wenn man etwas zu trinken haben wollte, musste man Zugeständnisse machen. Schließlich platzte Rastow, dem Verhandlungsführer, der am schlechtesten Deutsch konnte und am meisten trank, der Kragen.

„Wenn is’ nur dritte Weg, dann, verdammich, wir machen diese dritte Weg und dann gut und dann wir gehen Gaststätte!“

Alle sahen ihn groß an. Die Aussicht, die zähen Verhandlungen um Berlin schnell beenden zu können, war verlockend, auch für die konservativen Westteilnehmer, die sich insgeheim auch nach Hause sehnten, weg von den unbequemen Hotelbetten, dem schlechten Essen und den holprigen Straßen, dem Braunkohlegeruch und der ganzen maroden DDR. Drei Wochen zähe Verhandlungen würden vorbei sein, wenn man dem Vorschlag für einen dritten Weg zustimmen würde. Zum Glück hatte man den Russen keinen Alkohol gegeben, und so bewirkte die russische Trinklust zum ersten und letzten Mal in der Geschichte etwas Positives: Der Osten Berlins sollte zu einer selbstverwalteten Enklave werden.

Die Bürgerbewegung, die die Wende in der DDR eingeläutet hatte, deren Einfluss aber ein Jahr danach bereits im Schwinden war, kam, zumindest auf dem Gebiet von Ostberlin, durch diese Entscheidung zu dem, was sie sich immer gewünscht hatte: zu einer sozialistischen Alternative unter ihrer Leitung. Es war die Geburtsstunde der Enklave Ostberlin.

Die Bürgerbewegung der DDR, die Gorbatschow bei seinem Besuch der DDR anlässlich des 750-jährigen Stadtjubiläums mit den meisten anderen DDR-Bürgern frenetisch begrüßt und gefeiert hatte, legte die geschenkte politische Freiheit dann viel radikaler aus, als die Russen es sich vorgestellt hatten. Aber Genaues hatten sie sich, ehrlich gesagt, gar nicht vorgestellt.

Zwei Jahre nach der Wende war der Osten Berlins schließlich ein in sich geschlossenes Wirtschaftssystem geworden, durch das man Dinge, die linke Politiker im Westen durchzusetzen oder auch nur zu diskutieren versuchten, mit Belegen unterfüttern konnte. Dinge wie das jahrelang vergeblich diskutierte bedingungslose Grundeinkommen zum Beispiel.

„In Ostberlin funktioniert es ja auch“, wurde damals gerne gesagt, und die politischen Gegner konterten gerne mit: „Dann geh doch rüber“, wie sie es immer getan hatten.

Eigeninitiative, Flexibilität und Beziehungen, Eigenschaften, die man sich in der DDR aneignen musste, waren in der Enklave Ostberlin gefragter denn je. Diese Eigenschaften waren jetzt mehr oder weniger gut organisiert. Aus Eigeninitiativen waren Gemeinschaftsinitiativen und aus Beziehungen Netzwerke geworden, die das Leben in der Stadt einigermaßen gewährleisteten. Die demokratische Leitung am Runden Tisch versuchte die Basisdemokratie so gut wie möglich zu repräsentieren und zu verwalten. Die Freie Republik Ostberlin garantierte in politischer Hinsicht ein freies Leben, das jeder so leben konnte, wie er wollte. Die, für die die Enklave ein Paradies des alternativen Lebens war, lebten ein solches neben denen, die dort schon immer gelebt und sich nie beschwert hatten und nie beschweren würden.

Das reale Leben in der Enklave war nicht frei von Versorgungs- und Infrastrukturproblemen. Die Lebensmittel, die in der DDR knapp gewesen waren, waren auch in der Enklave knapp. Das, was in der DDR nicht funktioniert hatte, funktionierte auch in der Enklave nicht. Aber die Menschen, die dort ihren Traum lebten, schien das überhaupt nicht zu stören.

Der Westen stellte die Enklave gerne als so was wie eine verlauste Gemeinschaft von Drogenabhängigen dar, in der man, wenn man ihr angehörte, unweigerlich dem Tod entgegentaumelte, eine Gemeinschaft, die zu Trunkenheit, offener Sexualität und zersetzendem Müßiggang animierte, sich jeder Ordnung und Disziplin verweigerte und unweigerlich untergehen würde. Das meiste dieser Darstellung war richtig. Nur dass die Menschen im Osten das alles aus vollen Zügen genossen. Es wurde gefeiert, als gäbe es kein Morgen mehr, keiner musste arbeiten, und der Müßiggang war Lebensform.

Die Enklave hatte sich dem Schönen gewidmet, den Künsten, der Literatur und Malerei und dem befreienden Aspekt, den all das für den Menschen hatte, davon war man überzeugt.

Das und eine basisdemokratische Selbstverwaltung waren die Mischung, in der es sich in den Augen vieler Bewohner zu leben lohnte und für die man auf einen gewissen Komfort verzichten konnte.

Man wollte das Leben leichtnehmen, das war die Hauptsache. Und wenn man damit leben konnte, dass Lesen Bürgerpflicht war und in der Warteschleife der Ämter Wolf-Biermann-Lieder liefen, war das hier sehr gut möglich.

Aber natürlich gab es noch viele, die das alte System gestützt hatten, die Mitläufer und Handlanger und Denunzianten und Militaristen und Erbsenzähler und Ordnungsfetischisten. Die ordentlichen Deutschen eben, die ihre Trabbis oder Wartburgs am Wochenende vor dem Haus wuschen und wachsten, die Schrankwanddeutschen, die den Hund spazieren führten, die am Sonntag unter Plastikhauben Kuchen von einem Reihenhaus zum anderen fuhren, beim gegenseitigen Besuch die Schuhe auszogen und auf Socken Filterkaffee tranken.

Die Enklave machte internationale Geschäfte mit Cannabis, das schon lange nicht nur als Rausch-, sondern auch als Heilmittel begehrt war und das in der Form ohne psychedelische Wirkung mittlerweile weltweit gängige Medizin war.

Der Ertrag der Plantagen auf dem Gebiet der Enklave, von denen die im Treptower Park die größte war, brachte der Enklave genug ein, um seinen Bürgern ein Leben ohne Erwerbsdruck zu sichern, aber nicht genug, um zum Beispiel die Infrastruktur zu verbessern. Beziehungsweise hätte die Enklave ihren Bürgern kein so sorgenfreies Leben mehr garantieren können, wenn man den Erlös aus dem Grasverkauf zu etwas anderem als dazu benutzt hätte.

Das Problem dabei war die Lieferung. Im Westen war Cannabiskonsum seit Gründung der BRD verboten. Die demokratische Leitung der Enklave Ostberlin stand auf ihrer Seite vor dem Problem, die Ausfuhr ihrer Grasproduktion durch das Gebiet des Westens zu organisieren. Der Vertriebsweg auf dem Lande ins europäische Ausland war praktisch abgeschnitten.

Zum Glück gab es, ebenfalls aus sowjetischen Beständen, noch ein paar Militärflugzeuge, die man tatsächlich wieder flugtauglich bekommen hatte, und seit einiger Zeit hatten sie so was wie eine Luftbrücke, einen Korridor in alle Himmelsrichtungen, auf der rund um die Uhr die Maschinen hin- und herknatterten.

Sie brachten das begehrte Gras nach Stockholm, London, Paris oder Rom, und im Gegenzug Geld und Waren in die Enklave. Die Waren konnte man dort in Läden kaufen, die man Intershops nannte. Jedenfalls wenn man es sich leisten konnte.

Die Piloten der sogenannten Grasbomber waren in der Enklave Ost Helden, und man verschwieg dabei gerne, dass die eine oder andere Maschine abgestürzt war, weil einer von ihnen so stoned gewesen war, dass er das Ding nicht unter Kontrolle hatte. Aber als hätten sie einen Schutzengel, war bisher keiner von ihnen dabei umgekommen.

OST
2023

Ole öffnete die Augen. Wo war er? Seine gute Laune von gestern Abend war wie weggeblasen. Stattdessen machte sich wieder diese allgemeine Sorge breit, die ihn immer überfiel, wenn er aufwachte, diese merkwürdige Sorge um alles, wie er sie immer nannte. Das Gefühl, in einem Meer zu schwimmen und ihm ausgeliefert zu sein. Aber neben dieser allgemeinen Sorge, die in der Regel irgendwann verflog, machte ihm auf einmal etwas Konkretes Sorgen: sein Auto. Er war gestern Abend damit liegen geblieben, die Lichtmaschine war ausgefallen, keine Frage. Irgendwo im Prenzlauer Berg. Aber er war nicht im Prenzlauer Berg, das merkte er schon am Geruch, dem schweren Geruch der großen Marihuanapflanzen, die, überwiegend geordnet angepflanzt, kurz vor der Blüte und Ernte standen. Treptower Park. Da musste er sein. Ganz klar, nirgendwo sonst roch es so.

Ole suchte seine Brille, fand sie schließlich in einem seiner Stiefel und setzte sie auf. Ohne Brille war er so gut wie blind, die Gläser waren so stark, dass sie seine Augen vergrößerten, die dadurch immer ein bisschen ratlos in die Welt blickten.

Graspflanzen soweit sein Auge reichte. Das sowjetische Ehrenmal, das man vor längerer Zeit versucht hatte abzureißen, was mangels des richtigen schweren Werkzeugs misslungen war, lag mittlerweile inmitten einer Marihuanaplantage. Es symbolisierte jetzt den Sieg des alternativen Lebens über die Diktatur. In einen der stolzen Mundwinkel hatte man ihm einen eisernen Joint geschweißt und über den Kopf eine riesige Perücke mit Rastazöpfen gehängt.

Marihuana überall. Das, was wild wuchs, war Allgemeingut, und das, was man geplant anbaute, war für den Verkauf bestimmt. Auf illegalen Wegen gelangte es in den Westen und sicherte das Überleben der Enklave.

Wer Gras wollte, holte es sich im Treptower Park. Oder am besten, man rauchte es direkt dort, langte, im Schneidersitz mit Freunden auf der Wiese sitzend, nur mal schnell über sich, pflückte eine Dolde, trocknete sie an einem kleinen Feuer und rauchte sie dann. Hin und wieder auch gerne in einer sogenannten Erdpfeife, für die man mit der Hand einen kleinen Tunnel in die Wiese grub und den einen Ausgang sozusagen als Mundstück und den anderen als Pfeifenkopf benutzte. Man musste sich kniend über das Loch beugen und kräftig einatmen, und dann taten die Kräfte des Grases und die Kräfte der Erde zusammen ihre betörende Wirkung. Die so Berauschten richteten sich auf und glotzten mit blöde verzückten Gesichtern und roten Augen über die Wiese und waren eins mit sich und der Natur, an der sie bewunderten, dass sie eine solche Wirkung haben konnte.

Auch war es in Mode, in kleinen Zelten eine Faust voll Gras anzukokeln und den aufsteigenden Qualm zu inhalieren. In so einem Zelt war Ole eingeschlafen, jetzt erinnerte er sich wieder. Aber aufgewacht war er draußen.

Ole zog sich seine Stiefel an, hängte sich seine Tasche um und ging in seinem typischen Watschelgang, bei dem er seinen Oberkörper immer leicht hin- und herwippen ließ, in Richtung Parkausgang.

WEST

Max Mommsen war 1976 zum ersten Mal in Berlin gewesen, mit sechzehn, genauer gesagt, in Westberlin, das damals eine Insel in der DDR gewesen war, so wie jetzt die Enklave Ostberlin eine Insel im Westen war. Von Mönchengladbach, seiner Heimatstadt, die man fast ausschließlich durch ihren Fußballverein kannte, war er damals mit der Jugendgruppe seiner evangelischen Gemeinde inklusive des dazugehörigen Pfarrers zum evangelischen Kirchentag gefahren, zu dem Gläubige und auch solche wie Max, die am Glauben zweifelten, auf den ruppigen Transitstrecken über das Staatsgebiet der DDR in den Westteil der geteilten Stadt strömten, um dort zu Tausenden auf Luftmatratzen in Gemeindehäusern und Turnhallen zu nächtigen und eine Zeit zu verbringen, in der einer des anderen Last zu tragen versprach, wie das Motto der Veranstaltung es forderte.

Neben den vielen kirchlichen Veranstaltungen besichtigte er dabei ausgiebig die Stadt. Er fuhr U-Bahn und Bus, immer zusammen mit seiner Gruppe, der unermüdlich gut gelaunte Gemeindepfarrer mit seinem Spazierstock vorneweg. In seiner Erinnerung meinte er, mit ihnen zusammen in der U-Bahn Friedenslieder zur Gitarre gesungen zu haben, wenn er heute daran dachte, errötete er vor Scham. Er konnte Belästigungen in der U-Bahn prinzipiell nicht ertragen.

Er begann das kuriose U- und S-Bahnsystem Berlins kennenzulernen und fuhr durch Geisterbahnhöfe, die im Osten lagen und auf deren Bahnsteigen man hin und wieder Uniformierte mit Maschinenpistolen patrouillieren sah. Er stand albernd mit seinen Freunden auf einem der Gerüste, die am Brandenburger Tor aufgebaut waren, von denen man einen Blick auf den in der Junisonne flirrenden Mauerstreifen werfen konnte, auf dem schon Menschen erschossen worden waren, weil sie ein Leben in Freiheit leben wollten, wie überall und immer wieder zu lesen war.

Bei dieser, seiner ersten Reise nach Berlin, ahnte Max aber auch, welche noch verbotenen Früchte im alternativen Dschungel von Kreuzberg lockten. Denen ging er dann ein Jahr später nach, als er mit seinem Deutsch-Leistungskurs vom Gymnasium erneut und dieses Mal für ein ganze Woche nach Berlin fuhr. Zu dieser Zeit nannte der Westen Westberlin Berlin und der Osten Ostberlin ebenfalls Berlin, während der Osten Westberlin Westberlin nannte und der Westen Ostberlin Ostberlin. So war es nach dem Mauerbau 1961 immer gewesen.

Bildungsreisen nach Berlin wurden zu dieser Zeit im Westen so stark subventioniert, dass der Staat Gruppen für sehr wenig Geld ermöglichte, in einem Hotel auf dem Ku’damm zu wohnen. Doppelzimmer mit Frühstück, 75 D-Mark für die ganze Woche, wenn man dafür ein paar Museen besuchte und zwei Vorträge anhörte, bei denen man viel über deutsche Teilung hörte, was Max’ Klasse aber wesentlich weniger interessierte als die umliegenden Kneipen, in denen es keine Sperrstunde gab. Die Vorträge hatten die meisten verschlafen.

Bei dieser, Max’ zweiter Reise nach Berlin waren sie auch einen halben Tag in den Ostteil der Stadt gefahren. Mit der S-Bahn bis Friedrichstraße, dort im sogenannten Tränenpalast mit Herzklopfen durch die unangenehmen Grenzkontrollen mit den mürrischen grünen Mützengesichtern, die den Blick kritisch zwischen Ausweispapier und Angesicht hin- und herschwenkten und dann ein Tagesvisum einstempelten oder einen, wovon es Gerüchte gab, in andere Zimmer führten und dort bis zur Entwürdigung schikanierten.

Dann nochmal mit der S-Bahn zum Alexanderplatz, auf dessen weitläufig betoniertem Terrain man von DDR-Bürgern darauf angesprochen wurde, Devisen zu tauschen. Aber es war schon schwer genug, das Geld aus dem Zwangsumtausch auszugeben, das man in Form dieser kleinen Scheine und federleichten Alumünzen in der Tasche hatte, und wenn man aus Geldgier dazu noch schwarz und günstig tauschte, wusste man hinterher im wahrsten Sinne des Wortes nicht, wohin mit dem Geld. Max und seine Freunde kauften daraufhin in den repräsentativen Buchhandlungen alles, was an Büchern und Schallplatten halbwegs brauchbar war, von Brecht bis zu Gorki, Gesamtausgaben von Stanislawski, Werke von Heiner Müller oder Anna Seghers oder sogar die Amigapressung einer Westplatte, nur weil sie so billig war. Das, was sie davon in den Westen verschleppten, schimmelte dann ungelesen in den Ikearegalen neben alten Fußballbüchern und Fix-und-Foxi-Heften, während man im Osten zusehen konnte, was man las, weil die Regale leergekauft waren.

Aber trotz dieser zum Teil ernüchternden Erfahrungen in zeitweise berauschtem Zustand konnte sich Max nach seinem Abi nicht vorstellen, Germanistik an einem anderen Ort zu studieren als da, wo man sich mit dem Thema hautnah auseinandersetzen konnte: in Berlin.

1981 war es dann soweit.

WEST
1997

Karlheinz Dräger hatte einen guten Tag gehabt. Er hatte seit einiger Zeit aber eigentlich nur noch gute Tage. Man musste sich im Subventionsparadies Westberlin als Geschäftsmann allerdings schon wirklich blöde anstellen, um keinen Erfolg zu haben. Sicher, seine Versuche im Rotlichtmilieu waren gescheitert, der Laden, den er in der Nähe des Ku’damms aufgemacht hatte, war pleite, ihm egal, er hatte längst das Geschäftsfeld gewechselt.

Nach der sogenannten Wende und der Verwandlung Ostberlins in eine freie Enklave hatte sich in Westberlin wenig verändert, was die Subventionierung betraf. Noch immer wurde blindwütig alles gefördert, was auch nur entfernt nach Stadtentwicklung roch, die Verträge aus den Zeiten, in denen Westberlin eine kapitalistische Insel im Sozialismus gewesen war, galten immer noch und wurden weidlich ausgenutzt.

Alle Revolten aus der Vergangenheit waren erstickt, alle Revolutionäre hatten sich zurückgezogen, die berühmte alternative Berliner Szene wurde erfolgreich in Schach gehalten, keiner wusste mehr, wer Rudi Dutschke war, aber alle kannten Günter Pfitzmann. Seit 1989 war es auch nicht mehr möglich, sich durch einen Umzug nach Berlin der Wehrpflicht zu entziehen, sodass die Stadt an Attraktivität verlor, was die Subkultur betraf. Die fand jetzt sowieso im Osten statt. Was aber nicht hieß, dass im Westen nicht mehr gefeiert wurde. Noch immer gab es keine Sperrstunde, noch immer knallten in den einschlägigen Lokalen die Sektkorken, es wurde getanzt und gelacht, barbusige Tänzerinnen beugten sich über Halbgreise mit blonden Toupets oder fuhren mit ihnen in teuren Cabrios über den Ku’damm. Der alte Berliner Mief lag jetzt überwiegend über der einen Hälfte der Stadt, diese Mischung aus Schweißfußgeruch, Döner, Molle und Parfum, die über den Duft von Freiheit und die Selbstverwirklichung für Künstler, Spontis, Musiker und Ökos gesiegt hatte, die sich jetzt in der Enklave Ostberlin zu verwirklichen versuchten.

Das Geld in Westberlin saß nach wie vor locker, sowohl beim Senat als auch bei denen, die es ihm abgeluchst hatten, indem sie Bauprojekte vorgaukelten, die sie nie realisierten oder nur anfingen zu realisieren und dann nicht weiterverfolgten, aber die bewilligten Gelder einstrichen, indem sie die Lokalpolitiker schmierten, wie es in Westberlin schon immer üblich gewesen war. Der Senat war nach wie vor der Goldesel der Stadt.

Die Westberliner Spaßgesellschaft beherrschte die Stadt und war entschlossen, sich zu Tode zu amüsieren, während das Stadtbild sich veränderte. Das war jetzt neben den nach wie vor zahlreichen Kriegsruinen aus dem Zweiten Weltkrieg von Bauruinen der Nachkriegszeit geprägt, tausende Projekte, die mal angefangen und nie vollendet, sondern buchstäblich versumpft waren und deren traurige Betonanfänge überall in die Gegend ragten.

Dräger war immer noch ein kleiner Fisch. Aber immerhin hatte er sich vom Türsteher zum Bordellbetreiber hochgearbeitet, auch wenn sein Laden jetzt pleite war. Und es war ihm gelungen, sich in diesem Zusammenhang Zutritt zu den Kreisen zu verschaffen, die sich professionell mit der Privatisierung staatlicher Mittel beschäftigten, wie man es untereinander gerne schmunzelnd nannte. Er hatte seinen Teil vom Kuchen in Form eines Wohnblocks abbekommen, der nie gebaut worden war, für den er aber zum Bauunternehmer geworden war und die Fördergelder kassiert hatte. Seit heute morgen war klar, dass er um 100.000 D-Mark reicher war, ohne sich groß angestrengt zu haben. Grund zum Feiern.

Er stand an der Theke der Paris Bar in der Kantstraße, eine Legende unter den Westberliner Lokalen, hier traf man die Promis, und heute schienen sie alle da zu sein. Links neben ihm stand ein bekannter Theaterschauspieler, vor dem, wie bei anderen Stammgästen, ein Metallschildchen mit seinem Namen angeschraubt war, und schwieg in sein Rotweinglas, in der Ecke klampfte unter den missbilligenden Blicken des Barkeepers der unvermeidliche Gunter Gabriel auf einer verstimmten Gitarre rum, Harald Juhnke erzählte zu jedem Schnaps einen Witz, um sich herum lachende Verehrer, und an einem kleinen Tisch saß tatsächlich Günter Pfitzmann, Drägers Idol, als käme er geradewegs aus seiner Praxis Bülowbogen, über eine BZ gebeugt, die er nach Nachrichten über sich selber durchforstete, die er noch nicht kannte.

Dräger war stolz, dass man ihn reingelassen hatte und dass er dazugehörte. Er trank Margarita, Tequila mit Zitronensaft, Likör und Salzrand, es war schon der vierte, er hob das Glas und prostete mit gläsernem Blick einem Mann zu, der mit einem Glas Bourbon auf Eis neben ihm stand.

„Ich bin der Karlheinz“, sagte er.

Der Mann sah ihn an, nahm dann langsam sein Whiskeyglas in die Hand und stieß mit Dräger an.

„Hello. I’m Jeff“, sagte der.

Eine halbe Stunde später waren sie in ein Gespräch vertieft, oder in das, was man ein Gespräch nennen kann, wenn der eine nur schlecht Englisch und der andere nur schlecht Deutsch spricht.

Dräger verstand zunächst nicht, was der Fremde mit den Worten „the web“ meinte, und erst als sie Gunter Gabriel dazuholten, der zwar auch nicht gut, aber besser als Dräger Englisch konnte und versuchte zu dolmetschen, verstand er, dass es sich um dieses Internet handeln musste, von dem jetzt überall die Rede war. Von dem wusste er aber nicht viel mehr, als dass man einen Telefonhörer auf ein Gerät legen musste, woraufhin merkwürdige Geräusche zu hören waren, mit denen man angeblich mit der ganzen Welt verbunden wurde. Aber Dräger tat so, als kenne er sich aus.

„All right, Sir. Internet, I understands“, lallte er und bat Gunter, dem Mann zu erzählen, er habe auch einen Computer und auch Internet, das sei ja eine dolle Sache, dabei besaß er nur eine Schreibmaschine, auf der er Anträge auszufüllen pflegte.

„Is future“, sagte er dann wieder selber. Gunter Gabriel hatte irgendwann keine Lust mehr auf die Dolmetscherei gehabt und war wieder seine verstimmte Gitarre spielen gegangen, und Jeff und Dräger radebrechten weiter zu zweit, und je mehr sie tranken, desto besser verstanden sie sich, wenn sie auch alles mit Händen und Füßen und immer wieder von vorne bis hinten erklären mussten.

Dräger prahlte vor dem Fremden, von dem er glaubte, ihn nie wiederzusehen, wenn er zurück nach Amerika abgereist war, damit, dass er „many money“ gemacht hätte, weil er wüsste, wie das in Berlin lief, „how the Hase runs here“, dass er „knows people and gives them money and they do what I want“.

„I’m king of Berlin!“, grölte er später übermütig und stieß mit seinem neuen Freund wieder an.

Von Jeff kriegte Dräger mit, dass er irgendwie Bücher verkaufte in diesem Internet und dass das in Amerika schon ganz gut lief. Dräger verstand nicht viel von Büchern, aber etwas vom Verkaufen. Er hörte das Wort Astragon an diesem Abend zum ersten Mal. Als Jeff eine Stunde später zu ihm sagte „Koolheins, I think you are my man!“, verstand er nicht gleich.

Und als der Amerikaner ihm dann (sie hatten jetzt schon etwas Übung, was die Unterhaltung betraf, Betrunkene lernen schnell) erklärte, dass er auf der Suche nach jemandem sei, der für ihn das Geschäft in Berlin ankurbelte, war er zunächst nur mäßig interessiert. Was konnte man im Buchhandel schon groß verdienen? Berlin sollte das Testgebiet werden, und wenn es funktionierte, wolle man in Deutschland expandieren. Bei „expandieren“ war Dräger schon interessierter und schließlich sagte er sich: Warum nicht? Wenn dieses Internet wirklich die Zukunft ist? Wer weiß, was daraus wird?

An diesem Abend entschied sich in gewisser Weise das Schicksal von Westberlin.

Am nächsten Morgen, für Drägers Verhältnisse und besonders nach dem Besäufnis in der Nacht zuvor ziemlich früh, wollten sie sich in Jeffs Hotel treffen. Als der Wecker klingelte, überlegte Dräger kurz, sich einfach umzudrehen, weiterzuschlafen und die Sache auf sich beruhen zu lassen, nachher war er der Trottel, der in der Hotelhalle stand, während Jeff seinen Rausch ausschlief und sich an nichts mehr erinnerte. Aber irgendetwas sagte ihm, dass er da hinfahren sollte. Er setzte sich also in sein weißes Mercedescabrio und fuhr mit reichlich Restalkohol und Kopfschmerzen los.

Jeff saß schon in der Lobby, war bestens gelaunt, so als hätte er den Abend vorher nur Kamillentee getrunken, und er hatte eine umwerfend aussehende Assistentin mitgebracht. Dräger stierte sie reflexartig an, als wäre sie eine der Animierdamen im Big Eden, der man ungestraft den Hintern tätscheln durfte, und zwinkerte ihr zu. Sie blickte vernichtend zurück. Dann begann sie, Jeffs Ausführungen in perfektem Deutsch mit charmantem amerikanischen Akzent zu übersetzen.

„Jeff ist der Ansicht, dass Sie angesichts der politischen Erfahrungen und Ihren Möglichkeiten der Einflussnahme der Richtige wären, die Firma Astragon in Westberlin anzusiedeln. Wenn der Modellversuch erfolgreich ist, werden wir bundesweit expandieren.“

Das hört sich nach ziemlich viel Buchhandel an, dachte Dräger, dafür dass ich eigentlich null an Büchern interessiert bin. Vielleicht sollte ich mal aufs Ganze gehen.

„Was springt dabei für mich raus?“, fragte er ziemlich direkt.

Jeff lächelte und sagte etwas.

„Jeff meint, dass sein Unternehmen in wenigen Jahren zu den bedeutendsten der Welt gehören wird“, übersetzte die Assistentin und nickte wie zur Bestätigung ein paarmal.

Das denken alle, dachte Dräger. Er beschloss, eine hohe Forderung zu stellen, wenn sie nicht darauf eingingen, dann zum Teufel mit dem blöden Buchhandel.

„Ich will die Hälfte des Gewinns“, sagte er knapp.

„He wants half of the profit“, übersetzte die Assistentin.

„I got it“, sagte Jeff.

Er schien nachzudenken.

„Ok“, sagte er dann. „It’s only the test run.“

„Er ist einverstanden. Es handelt sich ja nur um den Testlauf.“

„Hab’ schon verstanden“, meinte Dräger. Es wurde besser mit seinem Englisch.

OST
2023

Ole stand an der 96a, Höhe Treptower Park, und hielt den Daumen raus. Er sehnte sich nach einem Kaffee, auch wenn der im Osten in der Regel entsetzlich schmeckte.

Nach kurzer Zeit hielt ein seltsames Gefährt auf drei Rädern an, so etwas wie eine Mischung aus Chopper und Trabbi, von Letzterem stammte offensichtlich die Hinterachse und das, was man bei einem Trabbi so Armatur nannte, sowie die Lichter, die links und rechts an die Fahrradgabel montiert waren, die das einzelne Vorderrad hielten. Mit dem Trabbilenkrad konnte der Fahrer das Rad lenken, mit dem daran befestigten Griff der Fahrradbremse zum Stehen bringen. Mehr oder weniger. Ole hatte im Osten schon waghalsigere Gefährte gesehen.

Das mit den Autos, oder, besser, das mit sämtlichen fahrbaren Untersätzen war in der Enklave ein Problem, das aus Mangel entstanden war, wie so vieles. Aber es setzte auch Kreativität frei, so wie der Mangel auch schon im real existierenden Sozialismus kreativ gemacht hatte. Nur dass man sich früher auf das beschränken musste, was es gab, in Bezug auf Autos also auf Trabbis, Wartburgs und ältere russische Modelle, die man am Laufen halten musste, wenn man dann endlich einen bekommen hatte, und für die man Ersatzteile brauchte, an die nur schwer ranzukommen war.

Es gab aber aus der Nachwendezeit und von dem, was man im Westen erbeutete, relativ viele Westautos oder zumindest Teile davon, wenn auch nicht die neuesten. Der relativ neue Golf, den Ole aus dem Westen mitgebracht hatte, war eine Sensation, eine Kostbarkeit, von der die meisten nur träumen konnten.

Die Sicherheitsbestimmungen im Straßenverkehr in der Enklave waren, gelinde gesagt, lax, de facto nicht vorhanden. Die alten galten nicht mehr, neue waren zwar beabsichtigt, aber in dem allgemeinen Chaos der Selbstverwaltung nie umfassend in Kraft getreten. Und Verkehrskontrollen gab es praktisch keine. Man konnte fahren, wie und vor allem womit man wollte. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt, deshalb gab es neben den normalen Autos die wildesten zusammengeschweißten Vehikel.

Gelernte Mechaniker, Autoschlosser und Schrauber aller Art machten sich selbstständig und nutzten ihre Werkstätten, um Autos zu bauen und nicht nur zu reparieren. Ein Traum für jeden, der sich für Autos interessierte, ein Schweißgerät bedienen oder einen Motor aus- und wieder einbauen konnte.

Jedes Auto ein Unikat, wobei man, wenn man sich auskannte, sehen konnte, aus welcher Werkstatt es kam, jede hatte ihren eigenen Stil, die eine baute schnittige Flitzer, die andere rundliche Asphalteier, oder eine dritte beispielsweise lastentaugliche Dreiräder, von zwei Rasenmähermotoren angetrieben, aber auch Rasenmähermofas, Rafas genannt, der kleine Motor brachte es auf immerhin 20 km/h, und Motorräder, gemischt aus alten DDR-Simsons und Yamahas.

Es passierten leider viele Unfälle, natürlich brach die ein oder andere gewagte Konstruktion schon mal mitten auf der Straße zusammen oder die Bremsen versagten, hin und wieder sah man Fahrer in voller Fahrt abspringen, und ihr Gefährt rauschte dann führerlos gegen irgendeine der alten, aber zumeist bunt angemalten Mauern der Enklave Ost.

Jetzt saß Ole neben dem Fahrer, der einen alten Schutzhelm „Perfekt“ auf dem Kopf hatte, darüber eine Schweißerbrille, weshalb Ole sein Gesicht nicht sehen konnte. Sie knatterten an der Mauer Richtung Strausberger Platz. An ein Gespräch war bei dem Zweitaktmotorlärm nicht zu denken, selbst wenn Ole danach gewesen wäre. Als sie am Alex waren, schrie Ole:

„Bis hier!! Danke!!“

Der Fahrer reagierte nicht. Ole schrie dasselbe nochmal, nur wesentlich lauter. Wieder keine Reaktion. Erst jetzt sah er, dass der Fahrer kleine Ohrhörer trug, deren Kabel links neben ihm in einem Kassettenrekorder Marke Sonett verschwand, der da an eine Metallschiene geschraubt war. Wie laut musste die Musik sein, wenn er sie bei dem Motorenlärm noch hören konnte? Jedenfalls verstand Ole jetzt, warum der Fahrer die ganze Fahrt immer so idiotisch mit dem Kopf gewippt hatte. Er stieß ihn an und machte ihm Handzeichen. Der Fahrer nickte zustimmend, fuhr rechts ran, hielt zum Abschied seinen Daumen hoch und fuhr dann knatternd und wippend weiter. Kurz darauf stand Ole am Alex und sah sich nach einem Kaffee um. Fehlanzeige. Also machte er sich auf den Weg Richtung Schönhauser Allee.

WEST
1998

Ein paar Wochen später war Karlheinz Dräger Leiter des Modellversuchs von Astragon in Westberlin. Den Schriftkram bekam er aus den USA auf einer Diskette zugeschickt und musste ihn nur noch ausdrucken. Wahnsinn! Dräger besaß jetzt einen Computer mit einem dickbäuchigen Monitor und einem Klotz unterm Schreibtisch, der die Beinfreiheit ein wenig einengte.

Es war kinderleicht für ihn, die Unterschriften, die Astragon brauchte, bei den verantwortlichen Politikern oder Beamten mithilfe des einen oder anderen Bündels von Hundertmarkscheinen zu bekommen. Sein Rechtsanwalt, in Sachen Berliner Wirtschaftsfragen mit allen schmutzigen Wassern gewaschen, schaffte es, die Lizenzrechte von Astragon für Berlin unmittelbar an Dräger zu koppeln. Was de facto bedeutete, dass in der Zukunft ohne Dräger in Berlin für Astragon gar nichts ging.

Es dauerte nicht lange – und Dräger hatte mit Astragon jede Menge zu tun. Er, der nichts für Bücher übrighatte, war damit beschäftigt, Bücher zu verkaufen. Es gab jetzt eine Bestellseite in diesem Internet, und obwohl in Berlin Ende der Neunziger nur ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung „im Internet“ waren, mussten die Bestellungen irgendwie ausgeliefert werden. Nachdem Dräger zwei Monate lang Büchersendungen von Zentrallagern zu Privathaushalten gefahren hatte und der Gewinn verschwindend gering war, begann er, sich fast darüber zu ärgern, sich auf die Sache eingelassen zu haben.

Als er dann ein halbes Jahr später drei Leute mit Autos einstellen musste, um die Aufträge abzuarbeiten, war von Gewinn immer noch nicht die Rede, aber wenigstens musste er jetzt nicht mehr so oft selber ran, verbrachte immer mehr Zeit am Computer und begann, sich neben Videospielen und Sexvideos auch mit dem Werdegang Astragons in den USA zu beschäftigen. Die Firma wuchs und Dräger saß da und sah beim Wachsen zu, und allmählich verwandelte sich sein Ärger in helle Freude. Astragon verkaufte im Internet jetzt auch andere Sachen, Kühlschränke und Fernseher und Kleidung und Kochtöpfe und Kloschüsseln ... eigentlich alles. Der Modellversuch Berlin war erfolgreich und Astragon fing an, sich im Rest Deutschlands auszubreiten und auch dort das Warenangebot auszuweiten und Logistikzentren zu bauen und Menschen einzustellen und den Gewinn nicht dort zu versteuern, wo er gemacht wurde, sondern da, wo es am günstigsten war.

Auch Dräger expandierte. Er mietete Hallen an, stellte Leute ein, kaufte Autos, und allmählich stimmte das mit dem Gewinn auch. Natürlich war Astragon seine durch juristische Geschicklichkeit erreichte Selbstständigkeit nicht verborgen geblieben. Sein Verhältnis zu Jeff hatte sich abgekühlt, die Gewinnspanne für ihn aber betrug nach wie vor 50 Prozent. Das sollte auch so bleiben, und zwar bei allem, was Astragon in Berlin verkaufte.

Zu diesem Zeitpunkt war ihm in einem emotionalen Moment der Gedanke gekommen, die angeblich aufstrebende amerikanische Firma umzubenennen. Es musste berlinerischer klingen, nicht so futuristisch. Lokalkolorit musste her. Der Berliner sollte sich fühlen, als kaufe er um die Ecke bei Freunden ein. In seiner Verehrung des gleichnamigen Schauspielers nannte er seinen Bereich der wachsenden Firma Astragon von da in leichter Abwandlung „Fitzmann“. Das klang wie eine Fleischerei um die Ecke, sprach den Berliner an und verschleierte schön folkloristisch, dass es sich dabei um eine Profitmühle handelte. Wenn man die Internetseite aufrief, leuchtete einem der Spruch entgegen, den Dräger erfunden hatte und auf den er stolz war: „Koof nich doof, koof bei Fitzmann!“

Drägers Reichtum und Einfluss in Westberlin stieg rasant und er war der Sache nur bedingt gewachsen. Seine notdürftig zusammengestoppelte Infrastruktur war personell unterbesetzt und von der explosionsartigen Ausbreitung Fitzmanns überfordert. Er musste noch mehr Leute einstellen, viele mit zweifelhafter Qualifikation, aber er musste nehmen, was er kriegen konnte, um die Bestellflut irgendwie zu bewältigen. Und er schaffte es. Fitzmann wurde eine buntscheckige, riesige Firma, die in ihren Strukturen dem organisierten Verbrechen nicht unähnlich war, was die Geschäftspraktiken betraf. Nicht dass das bei Astragon international viel anders war, aber die Provinzialität der Westberliner Version war einzigartig.

Bereits 2006 war die Firma so groß, dass keiner mehr an ihr vorbeikam, weder die Westberliner Bevölkerung noch die Politik, die eigentlich für deren Wohlbefinden zuständig war, aber immer mehr in die Abhängigkeit von Fitzmann geriet.

Dräger saß wie die Made im Speck und kontrollierte praktisch die Geschicke der Stadt. Seit er die Sache mit dem Versand im Griff hatte, ging alles wie von selber, Astragons Internetbestellseite in der Fitzmann-Version lief wie geschmiert, und mit den wenigen in der Stadt, die noch bereit zu Protest und Revolte waren, würde er auch noch fertig werden. Ja, das Internet war die Zukunft. Jeff hatte Recht behalten.

OST
2023

Unter denen, die die Gefährte, die ungehindert knatternd ihre Kreise mitten durch die Enklave Ostberlin zogen, bauten und mit Ersatzteilen handelten, war Zilinski der König. Zilinski, dessen Vater schon zu DDR-Zeiten ein Genie im Organisieren gewesen war, als es noch um ganz andere Sachen als um Ersatzteile für alte West- oder auch Ostautos ging. Er regierte Ostberlins Autoersatzteilszene wie ein kleiner König, und wenn man mal, wie Ole, eine Lichtmaschine brauchte, ging ohne ihn nichts. Zilinski, die langen grauen Haare mit einem Gummiband zum Pferdeschwanz gebändigt, ein Mann wie ein Bär, nicht nur weil er so groß wie einer war, sondern auch, weil er oft nur zu brummen schien statt zu reden.

Er hatte sein Hauptlager in der Nähe des Kollwitzplatzes, auf einem der vielen brachen Gelände im Prenzlauer Berg. Bei gutem Wetter thronte er da in dem abgeschnittenen Vorderteil eines alten Mercedes, rauchte Joints und kubanische Zigarren und hielt Hof. Er lachte gut gelaunt über jeden, dessen Auto liegen geblieben war und der sich zu Fuß oder mit den unregelmäßig fahrenden öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit einem Privattaxi von wer weiß woher zu ihm aufmachen musste, um zu Kreuze zu kriechen und sich eine möglichst gute Verhandlungsposition zu schaffen, um an die ersehnte Zylinderkopfdichtung oder den Keilriemen zu kommen, oder was auch immer an diesen altersschwachen Westkisten oder zusammengezimmerten Ostkisten kaputtgegangen war.

Also betrat auch Ole, weil sein Golf in Pankow mit defekter Lichtmaschine liegen geblieben war, den Hof des Ersatzteilkönigs Eberhard Zilinski. Von Weitem roch er schon die Zigarre und erinnerte sich an das letzte Mal, als ihn Zilinski genötigt hatte, mit ihm vor den geschäftlichen Verhandlungen einen großen Joint zu rauchen, als Friedenspfeife sozusagen, und Ole danach nicht mehr wusste, warum er hergekommen war beziehungsweise zeitweilig gar nicht mehr gewusst hatte, wo er überhaupt war. Es gehörte eben zum guten Ton im Osten Berlins mitzurauchen, und es auszuschlagen, war ein Affront und hätte sein Ziel, die Lichtmaschine, in unerreichbare Ferne gerückt, selbst wenn es erst neun Uhr morgens war.

So war es auch diesmal. Ole saß auf einem Stapel Autoreifen neben Zilinski und der baute wieder so ein Gerät, und schon beim Anblick der Grasmenge, die er reinbröselte, wurde Ole übel. Der Tag würde gelaufen sein. Zilinski entfachte das Ding mit einem flammenwerferähnlichen Feuerzeug. Er nahm zwei tiefe Züge, griff dann mit der anderen Hand wieder die Zigarre, und kurze Zeit hielt er beide Hände, die mit dem Joint und die mit der Zigarre, vor sich hin, pustete gewaltige Mengen Rauch aus und grunzte so was wie ein unverständliches Mantra in die Morgenluft. Dann reichte er den Joint Ole.

„Hier, nimm einen Zug, mein Freund, dann sieht das Leben schon ganz anders aus!“

Ole nahm das Ding vorsichtig, zog kurz dran und hustete den Rauch direkt wieder aus.

„Nein, du musst richtig tief inhalieren, sonst wird das nichts! Nicht wie so’n Mädchen, richtig ziehen!“

Ole lächelte gequält, aber höflich, und zog nochmal und inhalierte tapfer und bekam jetzt einen regelrechten Hustenanfall. Zilinski lachte. Der ist eigentlich immer gut gelaunt, vielleicht weil er so viel Gras raucht, dachte Ole. Wenn er wüsste, dass er dann immer gut drauf kommt, würde er auch die ganze Zeit Gras rauchen. Leider war das nicht so.

„Die Westsofties! Immer schön aufpassen, dass sie die Kontrolle behalten, was?“, meinte Zilinski, obwohl Ole ja nun schon länger im Osten wohnte.

Ole kriegte nur noch „Kontrolle“ mit, als er seine verlor. Sein Hirn schien in kürzester Zeit anzuschwellen, ihm wurde heiß, sein Herz fing an zu rasen, und ihn überkam sofort eine mittelschwere Depression, ein wie eine düstere Gewitterfront auftauchender Zweifel an all seinen Lebensentscheidungen, bei dem er sich unter anderem fragte, ob das alles so richtig gewesen war: einfach abzuhauen von Zuhause damals, alles stehen und liegen zu lassen, seine Freundin, Elternhaus, alles, nur, um im Osten mutmaßlich freier zu leben, ohne Zwänge. Im Osten sei immer Party, hatte man damals immer in seinen Freundeskreisen gesagt, und so war es dann auch, die ersten Wochen waren tatsächlich Party gewesen, jeden Tag eine andere, auf alten Fabrikgeländen, in dubiosen Kellern, romantischen Hinterhöfen, tagelang, nächtelang. Irgendwann hatte er davon genug gehabt, irgendwann regte sich sein alter Westehrgeiz, irgendwann wollte er einfach mal wieder was machen, seinem Leben einen Sinn geben, einen anderen Sinn als Party, oder doch vorübergehend oder vielleicht auch mal nur so zwischendurch einen anderen Sinn als Party. Es wäre schön, den Kopf mal wieder frei zu haben von Drogen und Alkohol, dachte Ole. Aber hier im Osten musste man den Kopf gar nicht frei haben, dachte er dann wieder, es gab ja gar keinen Grund, den Kopf freihaben zu müssen, daran konnte sich er bis heute nicht gewöhnen.

Zilinski in seinem halben Mercedes sah für Ole auf einmal aus wie ein alter Indianerhäuptling, Häuptling Große Zylinderkopfdichtung, dachte Ole und lachte kurz blöde auf, und da fiel ihm auch wieder ein, weshalb er gekommen war, richtig, Auto, das war es gewesen, irgendwas mit Auto, klar, aber was nochmal? Wie aus Versehen zog Ole jetzt nochmal selbstvergessen am Joint, oder vielmehr hatte er sich selbst vergessen, oder sein Selbst hatte ihn vergessen, wie auch immer, was war es jetzt denn nochmal? Lichtmaschine, genau, Lichtmaschine.

„Lichtmaschine“, sagte er dann bedeutungsvoll in die Stille, als könnte das Wort den Platz beleuchten.

Pause.

„Wofür?“, fragte Zilinski. Wofür, ja, wofür, dachte auch Ole. Wofür brauchte man eine Lichtmaschine, vielleicht, um Licht ins Dunkel zu bringen, da, wo kein Licht war …

„Für was für’n Auto?“, fragte Zilinski, schon ungeduldiger, ihm schien der Joint überhaupt nichts auszumachen, so was gibt’s, dachte Ole, Leute, die in riesigen Mengen Gras rauchen konnten und dazu literweise Bier tranken und alles schien bei denen in einen tiefen Brunnen zu fallen und dort wirkungslos zu versickern. Zum Glück wusste Ole, dass das mit der Krise vorbeiging. Es hatte mit dem Kreislauf zu tun, wenn es ganz schlimm wurde, musste man nur aufstehen und ein bisschen rumlaufen, und dann ging es besser. Drei Dinge musste man beim Kiffen beachten, hatte er mal gehört. Welche waren das noch mal gewesen? Richtig: Kiffen geht auf’s Kurzzeitgedächtnis, auf den Kreislauf und ... äh, auf’s Kurzzeitgedächtnis, genau.

„Welches Auto?“, fragt Zilinski wieder.

„Äh, Golf“, stammelte Ole.

„Welche Reihe?“

„Weiß ich nicht.“ War er Automechaniker oder was?

„Na, dann das Baujahr.“

„Äh, so 2003.“

„Hab’ ich da“, knurrte Zilinski und lehnte sich in die Mercedespolster zurück, um die Zeitung zu lesen.

„Ach, du hast auch so’n Golf?“, fragte Ole überrascht.

„Nein, die Lichtmaschine für einen Dreier-Golf von 2003 hab’ ich da, was sonst?“

„Oh ja, super“, stammelte Ole.

Zilinski sagte nichts, und Ole vergaß, was zu sagen, weil ihm jetzt schon im Sitzen schwindelig wurde. Richtig, jetzt musste er fragen, was sie kosten würde, das sollte er jetzt mal langsam machen.

„Und, äh, was soll die dann so kosten?“, fragte er dann tatsächlich.

„180“, sagte Zilinski, und das war natürlich viel zu viel. Aber Ole hatte nicht die Nerven, irgendwas anderes zu sagen als: „Ok.“

Das war dann der Deal, und Ole ärgerte sich, jedes Mal machte der das so, mit allen, und durch das Ärgern ging es ihm gleich ein bisschen besser, als ob das Adrenalin mildernd wirkte.

„Kann ich sie dann gleich mitnehmen und das Geld morgen bringen?“

„Kannst du“, grunzte Zilinski, und es schien so, als wolle er jetzt auf keinen Fall mehr weiter beim Zeitunglesen gestört werden.

„Äh, und wo ist sie, die Lichtmaschine?“

„Hinten im Schuppen. Ist leider noch am Motor dran.“

WEST

Eigentlich wollte Max damals nach der Wende von dem Zeitpunkt an, an dem darüber gesprochen wurde, so schnell wie möglich rüber in den Osten gehen, um an dem entstehenden „Projekt mit Modellcharakter“, wie man die Enklave immer häufiger zu nennen begann, teilzunehmen und Genosse im „Romantischen Sozialismus“, wie er es in seinen Gedanken nannte, zu werden.

Was er im Westen dafür hätte zurücklassen müssen, war nicht gerade wenig gewesen. Immerhin eine geräumige Altbauwohnung am Stuttgarter Platz, die er 1985 günstig vom Erbe seiner Eltern, hauptsächlich dem Haus, in dem er aufgewachsen war, gekauft hatte, und eine Beziehung, aus der es eine Tochter gab und die zu verlassen das größte Problem darstellte. Max war jedoch zu all dem bereit, nur um seinem Ideal eines besseren Lebens näher zu kommen.

Aber genauso wie der Enthusiasmus der Wendezeit nachließ, fing Max’ anfänglicher Enthusiasmus, in den Osten zu gehen, allmählich zu bröckeln an. Täglich wurde er ein bisschen weniger. Bei den Besuchen drüben fiel ihm auf, dass es in vielen Häusern nicht mal fließendes Wasser gab, im Winter Öfen zu befeuern waren, der Strom ziemlich oft ausfiel und der einzige Rotwein ungenießbar war.

Also revidierte Max seinen Entschluss, zu gehen. Letztlich ausschlaggebend dafür war am Ende ein Abend mit Frau und Tochter, an dem es zu einer melodramatischen Szene gekommen war, in denen diese den Mann und Vater zu überreden versucht hatten, bei ihnen zu bleiben, was Letzteren gerührt hatte, wobei das nichts daran änderte, dass die Beziehung zur Frau sechs Monate danach beendet und das Verhältnis zur Tochter heute nachhaltig gestört war. Beide waren kurz darauf nach Westdeutschland gegangen.

Max bereute seinen Entschluss, im Westen zu bleiben, spätestens, als die ersten Anzeichen auftauchten, dass die Zukunft im Westen wahrscheinlich alle schlimmen Befürchtungen übertraf, die er je gehabt hatte. Bis heute hatte er trotzdem nie wieder versucht rüberzumachen, obwohl es angesichts der von der Westseite nur schlecht bewachten Grenze immer eine Möglichkeit dazu gegeben hätte.

Berliner, egal ob zugezogen oder gebürtig, sind eigentlich Provinzmenschen, sie gehen selten in andere Bezirke und wenn mal, kommen sie sich fremd vor und sind froh, wenn sie wieder zu Hause sind. Viele Westberliner sind nie in Ostberlin gewesen, nicht zur Wendezeit und vorher schon gar nicht. Aber genauso wenige Reinickendorfer waren in ihrem Leben in Kreuzberg, und umgekehrt. Beide Stadtteile sind dem jeweils anderen in der Regel dankbar dafür.

Aus dem Max, der mal den Romantischen Sozialismus mit aufzubauen gewollt hatte, war schließlich eine Art Charlottenburger Eremit mit Kordjackett und weißem Bart geworden, der seine Wohnung nur verließ, wenn es unbedingt nötig war. Er versuchte das, was sich um ihn herum entfaltete, auszublenden und, immer ein Glas Rotwein gefährlich nahe an der Tastatur, den Romantischen Sozialismus in der digitalen Welt am Computer zu dokumentieren. Dabei war er zu einem echten Experten geworden, was Geschichte und Realität der Enklave Ostberlin betraf. Er sammelte alles, was darüber erschien, sowohl die legalen als auch die illegalen Veröffentlichungen, die ganze Propaganda, die der Westen und insbesondere Fitzmann verbreiteten, das Wahre und das Falsche. Als es dann das Internet gab, legte er einen gut versteckten Blog an, in dem man vieles nachlesen konnte, was sonst verborgen war, wenn man wusste, wie man ihn fand. Und er hatte noch ganz andere Ideen.

OST

Karen hatte genug vom Osten. Sie war gerade achtzehn geworden und hatte ihr gesamtes Leben in der Enklave Ostberlin verbracht, unter Arbeitern, Künstlern, Aussteigern und Oppositionellen, Berufs-Hippies, Ökos, Esoterikern, Lyrikern, in Töpferbatik, Kerzen- und Räucherstäbchenwerkstätten, in antiautoritären Kinderläden, Kommunen mit freiem Sex, der sich vor ihren Augen abspielte, in der Frank-Schöbel-Tanzschule, bei Wolf Biermann, einem Freund ihres Großvaters, der wieder in der Chausseestraße wohnte, die jetzt Biermannstraße hieß, obwohl sich lange nicht alle mit dem Liedermacher identifizierten. Oder auf dem Gojko-Mitić-Kulturfestival, das die Jugendspiele abgelöst hatte, eine Art jährliches Woodstock in der Enklave, eine Mischung aus Cowboy- und Indianerspiel mit Ostreggae-Konzerten, mit dem alten Häuptlingsdarsteller Mitić als Symbolfigur, der auf einer Bierkiste hockte und den Fans müde zuprostete.

Auch von Theater hatte sie genug, von alten Brechtinszenierungen am Berliner Ensemble, die noch Heiner Müller gemacht hatte, der, hochbetagt, seine Abende meistens in den nach ihm benannten Heiner-Müller-Stuben verbrachte. Seit 30 Jahren spielte man dort außerdem Der geteilte Himmel von Christa Wolf, die Handlung von zwei Liebenden in Ost und West zu Zeiten des Kalten Krieges in bester DDR-Theatertradition brachial auf Nachwende-Enklaven-Zeiten gebogen. Karen hatte die Aufführung drei Mal sehen müssen und war jedes Mal eingeschlafen.

Sie hatte auch genug von den Fernsehwiederholungen mit Helga Hahnemann und Schwester Agnes, mit der Domröse und Armin Müller-Stahl, nach dem sogar eine Allee benannt worden war. Herrich und Preil, das Fernsehkomikerpaar, wurden zum Glück mittlerweile nicht mehr gezeigt, irgendwo hörte der Spaß ja auf, aber als Kind hatte sie sich die beiden immer wieder anschauen müssen. Karen wollte keine Kettwurstbuden, sondern Sushibars wie im Westen, sie wollte von ihrem Leben noch was anderes als in der Katie-Witt-Eisdiele abzuhängen und In der Mokkamilchbar anzuhören! Sie hatte sich geschworen, auf keine Jugendweihe mehr zu gehen und nie wieder DDR-Rockbands wie die Puhdys, Karat oder Keimzeit zu hören.

Alle versuchten, ihr immer zu erklären, dass jetzt Realität geworden sei, wovon die sozialistische DDR immer geträumt hatte, besser, woran sie immer geglaubt hatte: Endlich flohen die Menschen vom Kapitalismus in den Sozialismus! Dass es auch welche gab, die weiterhin aus dem Osten in den Westen fliehen wollten, ignorierten sie.

Nachdem die demokratische Leitung das Thema genauso totgeschwiegen hatte wie ihre Vorgänger, war man jetzt stolz, dass man historisch Recht behalten hatte, dass letztlich der Sozialismus gesiegt hatte, und zwar der mit dem menschlichen Antlitz. Dass es für Karen aber ein schäbiges Antlitz war, dagegen halfen auch die ganzen lustigen Verschönerungsaktionen nicht.

Das Große Anstreichfest zum Beispiel, zu dem alle Bürger einmal im Jahr aufgerufen waren, und bei dem alles, was an Farbe verfügbar war, in deren Hände gegeben wurde, auf dass sie den Osten noch bunter strichen. Man konnte an den zum Teil übereinandergeklatschten Farben wie an Jahresringen erkennen, wann die Anstriche gemacht worden waren, je nachdem, welche Farbe gerade vorrätig gewesen war. Das giftgrüne Jahr 2007 zum Beispiel, dessen Reste immer noch hier und da aufflammten, oder das tiefe Schwarz von Mitte der Neunziger, auf dem dann später, als auf einmal Weiß zur Verfügung stand, viele lustige Zeichnungen entstanden.

Das Anstreichfest war, wie alle Feste in der Enklave, immer Anlass zu Ausschweifungen, das Ganze ähnelte einem großen Happening, einem kollektiven Action-Painting, dessen Resultat die einen für Kunst und andere für reine Verunstaltung und Verschmutzung hielten. Die fehlende Renovierung war durch den Anstrich mangelnder Farbe erneut überdeckt worden, die Unordnung Prinzip, und während dieser und anderer Mangel früher Anlass zu Unzufriedenheit gewesen war, war sie jetzt Anlass zu Kreativität. Man konnte die Funktionsweise des Sozialismus mit menschlichem Antlitz gut am Anstreichfest erläutern.

Karen hatte genug von all dem. Hier gab es ja praktisch nicht mal Internet, höchstens in der Nähe der Grenze, also an der Mauer, wo man bei jedem Wetter Leute fand, die mit altmodischen Smartphones versuchten, ein bisschen Westnetz abzubekommen. Natürlich war es eigentlich verboten, dort im Internet zu surfen, aber erwischt zu werden, war angesichts fehlender Polizeipräsenz eher unwahrscheinlich. Karen liebte Internet und verbrachte einen Großteil ihrer Zeit dort, und damit unausweichlich auch bei Fitzmann.

Stundenlang klickte sie sich durch die Warenwelt und sah sich Dinge an, die sie nie besitzen würde.

Bei diesen Internetpartys waren alle für sich und doch zusammen. Jeder war in das vertieft, was er gerade online machte, trotzdem gab es ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, wenn man aufblickte, sah man um sich herum Gleichgesinnte, die auf die gleichen kleinen Bildschirme starrten, wie es die im Westen taten, nur dass die kaufen durften, wovon sie im Osten nur träumten.

Karen hatte übers Internet auch Kontakt zu Westlern, wie die meisten auf diesen Partys. Seit Tagen chattete sie mit einem jungen Mann, der sich Markus20 nannte, sie unterhielten sich über alles Mögliche, über Vorlieben, Abneigungen, und hatten gemeinsame Interessen für Literatur und Musik. Sie waren sich sympathisch, obwohl Karen nicht wusste, wie Markus20 aussah, sein Profilbild war ein Pandabär anstelle eines Fotos, und sie traute sich nicht recht, ihn nach einem echten zu fragen. Bei allem, worüber sie sich schrieben, hatte es Karen geschafft, Markus20 zu verheimlichen, dass sie aus dem Osten war. Es war ihr peinlich, aus der Enklave zu kommen, wie so manchem aus ihrer Generation.

Gestern hatte Markus20 Karen eingeladen. Also zu einem wirklichen Treffen, was schwierig war. Trotzdem ließ diese Einladung sie nicht los. Wie so oft hatte sie darüber nachgedacht, wie sie in den Westen kommen könnte, also über eine Grenze, die von der Westseite bewacht wurde, die genau zu prüfen vorgab, wen sie reinließ. Karen gehörte sicher nicht dazu, schon wegen der Verwicklung ihrer Familie in die Politik. Die Ostgrenze zu überwinden, war immer noch leicht, bisher konnten sich nur wenige in der Enklave vorstellen, dass es Menschen gab, die das Leben im Westen mit dem im Osten eintauschen wollten. Aber das sollte nicht so bleiben.

OST

Schon in nüchternem Zustand hätte Ole große Schwierigkeiten gehabt, eine Lichtmaschine aus einem Motor auszubauen, aber im gegebenen überforderte es ihn völlig. Nach zwanzig Flüchen, einer Verletzung am Daumen und zwei Tobsuchtsanfällen trat er mit dem Ding in den Händen und Öl im Gesicht aus dem Schuppen und war stolz, und es ging ihm auch besser. Er stapfte an Zilinski vorbei, der ihn gar nicht mehr zu bemerken schien und das Radio angemacht hatte und alte Hippiemusik auf Ostberlin 92.9 hörte, immer dieselbe, scheinbar in Endlosschleife. Bob Marleys No woman, no cry, Satisfaction und Jimi Hendrix’ And the wind cries Mary, immer nur die drei, so kam es Ole jedenfalls vor.

Er winkte Zilinski zu, der ihn aber gar nicht bemerkte, da er die die Augen geschlossen hatte und leicht mit dem Kopf zur Musik wippte.

Aus Oles deprimiertem Gefühl war mittlerweile ein euphorisches geworden, und als er am Senefelder Platz die maroden Stufen zur U-Bahn hinunterging, hatte er bereits wieder seinen leicht wippenden Schritt drauf und fühlte sich großartig. Alle Zweifel waren verflogen, nein, alles war richtig so, er war da, wo er sein wollte, in Ostberlin, in der Enklave, nicht im Fitzmann-Hamsterrad Westberlin. Hier war alles gut, hier konnte man in den Tag hineinleben und ausführlich aus ihm raus und musste sich um nichts kümmern, und wenn man auch nicht immer wusste, ob es morgen noch Strom gab, so wusste man jedenfalls, dass morgen ein neuer schöner Tag sein würde, an dem wahrscheinlich die Sonne scheinen würde, und wenn nicht, dann hatte er die berechtigte Hoffnung, wieder in seinem Golf rumfahren zu können, mit neuer Lichtmaschine. Und aus dem Radio würde schöner, alter Ostreggae laufen. Wenn es funktionierte.

Auf dem Bahnsteig musste Ole seit langer Zeit zum ersten Mal wieder an die AKA7 denken. Sie hatten ihn damals in die Enklave gelassen, weil sie hofften, dass er bei dieser komischen Sondereinheit mitmachen würde, sie hatten ihn gleich zu rekrutieren versucht, und weil er wusste, dass diese Einheit schon lange inaktiv war, hatte Ole zugestimmt, dabei war es geblieben. Die Rekrutierungen hatten dann endgültig aufgehört, sie waren lange weitergelaufen, obwohl sie bereits keinen Sinn mehr gemacht hatten. Es gab nichts mehr zu tun für eine antikapitalistische Einheit, die gegründet worden war, um den Kapitalismus im Westen zu untergraben, was sich aber als eine naive Idee und als völlig unpraktikabel erwiesen hatte. Wie sollte man gegen den übermächtigen Gegner Fitzmann etwas ausrichten, dessen Büro- und Geschäftstürme auf der anderen Seite der Mauer aufragten wie unbesiegbare Riesen?

Alle, die der AKA7 angehört hatten, waren jetzt so was wie Schläfer, und zwar im doppelten Sinne, die Agenten schliefen nämlich nicht nur im Sinne der Geheimdienstsprache, nein, ihre Mitglieder schliefen auch sonst gerne und lange, und wenn sie mal wach waren, lebten sie das entspannte Leben, um das Ole den Osten immer beneidet hatte, bis er selber dorthin gegangen war. Dass er der AKA7 verpflichtet war, hatte er schon beinahe vergessen gehabt. Jetzt dachte er wieder kurz daran. Er wusste nicht, warum auf einmal.

Die U-Bahn kam nach 20 Minuten quietschend angekrochen, sie schien alle Zeit der Welt zu haben. Alle Zeit der Welt – eigentlich ein schönes Motto, dachte Ole. Könnte er einen Song draus machen. Ja, Ole machte jetzt Songs. Er hatte früher im Westen schon Songs gemacht, aber wegen seiner Arbeit war er nicht mehr dazu gekommen, wie man im Westen überhaupt zu nichts mehr kam, was Spaß machte, sondern nur noch der Kohle hinterherhetzte.

Er stieg ein und versuchte, die Türen zusammenzuschieben, was wie meistens nicht klappte. Also blieben sie offen und Ole konnte sehen, wie sich der Boden entfernte, als die Bahn aus dem Untergrund nach oben fuhr und die Fahrt als Hochbahn fortsetzte. Unter sich das Kopfsteinpflaster der Schönhauser Allee, auf dem das typische Gemisch von alten West-und Ostautos und Fahrrädern unterwegs war, wenig Verkehr, hin und wieder ein Reisebus aus dem Westen, aus dem Touristen aus ganz Westeuropa neugierig das Leben in der freien Enklave beglotzten, von denen wohl keiner seine westliche Existenz mit einer in diesem Osten eintauschen wollen würde.

So war es jedenfalls in der Regel immer gewesen. Aber die Zeiten hatten sich geändert, und auch Ole hatte mitbekommen, dass immer mehr Leute aus dem Westen nach Ostberlin wollten, für die Ostberlin eine Alternative zu ihrem Leben war, das immer schwerer erträglich wurde.

Die U-Bahn fuhr nur bis Schönhauser Allee, Betriebsschaden, das passierte so oft, dass es keinen mehr kratzte. Ole musste also zu Fuß weiter, zwei U-Bahnstationen hatte er noch, dann hatte er es geschafft. Genauso wie er eben euphorisiert war, war er jetzt plötzlich müde, und so schleppte er sich und seine Lichtmaschine bis zur Wisbyer Straße, wo er sein Auto hatte stehen lassen müssen. Es war weg.

WEST

Karlheinz Dräger konnte mal wieder an nichts anderes denken. Er saß in seinem Designersessel an seinem riesigen Schreibtisch, drehte sich ein paarmal um sich selber, sah dabei mal aus dem Fenster des Fitzmann-Hochhauses hinaus auf die Skyline von Berlin, dann wieder in sein Büro, stand auf, stapfte unruhig herum, nahm eine Handvoll Gummibärchen aus dem bereitstehenden Eimer, stopfte sie sich in den Mund, setzte sich wieder, dann alles von vorn. Sessel drehen, aufstehen, rumlaufen, Gummibärchen, wieder hinsetzen. Er schnaubte vor Wut.

Dräger war die Enklave Ostberlin ein Dorn im Auge, eine permanente Provokation, eine offene Rechnung, ein persönliches Anliegen, ein Problem, das er gerne in den Griff kriegen wollte, wie er sonst alles in den Griff gekriegt hatte und alles erreicht hatte, was er erreichen wollte in seinem erfolgreichen Leben, in dem er es zum führenden Unternehmer in Westberlin gebracht hatte. Da würde er dieses Ökoländchen auch noch unter seine Kontrolle kriegen, wäre doch gelacht.

Diese offene Rechnung hatte auch mit seiner Vergangenheit zu tun. Dräger kam ursprünglich aus der DDR, das wussten die wenigsten, denn er hatte seine Wurzeln dort sorgfältig ausgerissen und seine Ostidentität verwischt. Alles, was damit zusammenhing, die Repressalien, denen sein Vater ausgesetzt war, die miesen Lebensumstände, unter denen er aufgewachsen war, auch die gesamte Flucht, kurz vor der Wende, als Familie Dräger genug hatte von diesem real existierenden Sozialismus, und abgehauen war und dabei seine Schwester hatte zurücklassen müssen, im allerletzten Moment.

Die Ablehnung, die er dann als Kind im Westen erfahren hatte, jahrelang Deutscher zweiter Klasse, so hatte er sich gefühlt, auch noch lange nach der Wende. Seinen leicht thüringischen Akzent, den seine Eltern ihm vererbt und anschließend mit nach Berlin genommen hatten, hatte er sich mühsam abgewöhnt und sich stattdessen mehr schlecht als recht das Berlinern angewöhnt. Seine Eltern hatte er begraben, die ihre Tochter nie wiedergesehen hatten. Dräger erinnerte sich immer wieder an sie, auch wenn er diese Erinnerung zu unterdrücken versuchte. Als Kinder hatten sie in Thüringen dem Vater oft bei der Gartenarbeit geholfen, hatten gejätet, gepflanzt und geerntet und sich gegenseitig auf dem Rückweg vom Komposthaufen in der Schubkarre gefahren. Sie hatten unter Apfelbäumen gesessen und Kirschkerne gespuckt. Dräger hatte seine Schwester geliebt. Der Osten hatte sie verschluckt.

Von seiner Vergangenheit dort wusste jetzt praktisch keiner mehr, und Dräger musste aufpassen, damit keiner merkte, dass sein Interesse, den Osten zu vernichten, nicht nur ein kommerzielles war, sondern auch ein persönliches.

Jetzt jedenfalls schien die Zeit dafür reif zu sein, die Pestblase Ostberlin einzunehmen. Scheiß auf den politischen Status, die Politiker hatten sowieso jeden Tag weniger zu sagen, und wenn es nur nach Fitzmann und Dräger gehen würde (und bald schon würde es nur noch nach Fitzmann und Dräger gehen), dann würde man die einfach überrennen. Sich einverleiben, mit Billigsmartphones überschütten und ihnen Verträge andrehen, die sie sich zwar leisten konnten, sie aber bis an das Ende ihres kümmerlichen Lebens an Fitzmann binden würden. Eine digitale Leibeigenschaft, die noch einmal alles in den Schatten stellen würde, was man bisher in Westberlin gemacht hatte! In diesem Lotter-Osten mit seinen naiven Gesetzgebungen würde man dann keinen Zweifel mehr aufkommen lassen, wer das Sagen hätte, keine Gewürzgurke würde man mehr ohne Fitzmann kaufen können, dafür würde er sorgen! Dann würde er der Herrscher über Ostberlin sein, wie er praktisch schon der Herrscher über Westberlin war, und er würde alles einreißen lassen, mit Bulldozern plattmachen, diese gesamte Öko-Enklave, das ganze sogenannte alternative Leben, diese ganzen verlotterten Post-Wende-Gammler und Müslifresser. Und stattdessen die Menschen zu funktionierenden Mitgliedern eines funktionierenden Kapitalismus machen, und das Geld, das sie bei Fitzmann oder einer Fitzmann zugehörigen Firma verdienen würden, würden sie bei Fitzmann wieder ausgeben müssen!

Jetzt meldete seine Sekretärin ihm, dass Udo da war, der ihm seine Haare schneiden sollte, die immer lichter wurden, und nur der greise Udo, der bekannte Berliner Friseur, der ausnahmsweise auch Hausbesuche machte, bekam hin, dass das nicht ganz so auffiel.

OST

Danners Wohnung war riesig. Fünf Zimmer, so viele brauchte er eigentlich gar nicht.

Ostberlin, Prenzlauer Berg, Helmholtzplatz, Blick über den Park, 380 Mark warm, wobei er nach wie vor Kohlen aus dem Keller in die vierte Etage schleppen musste, um den großen Ofen zu befeuern, der angeblich die ganze Wohnung heizen konnte, es aber nicht tat. Deshalb saß Danner im Winter meistens in der Nähe des Ofens in seinem alten Sessel, eine Decke über den Knien, auf dem wackeligen Tischchen daneben ein Stapel Bücher, hauptsächlich historische Sachen, das meiste hatte er schon mal gelesen, und tat es jetzt wieder.

Er hatte ja Zeit.

Im Sommer saß er auf dem Balkon, oller Liegestuhl, dasselbe Tischchen. Die Küche war renovierungsbedürftig, die Feuchtigkeit und der Schimmel sichtbar, aber nicht dramatisch, im Bad musste man den Boiler anheizen, um zu duschen, also duschte Danner kalt, das härtete ab und sparte Arbeit. In der Küche kochte er auf dem Herd Tee, goss Wasser in ein mit der Zeit dunkelbraun gewordenes Teesiebsäckchen, wenn es nicht in Betrieb war, baumelte es am Wasserhahn, die alte Nirostaspüle darunter hatte vom Tee bräunliche Flecken. Danner hatte sie zur Wendezeit angeschafft, als man als DDR-Bürger etwas bekam, das man Begrüßungsgeld nannte. 100 Mark West, die die meisten verprassten, er aber hatte sich die Spüle gekauft und noch ein paar andere Küchensachen, weil er der Sache nicht traute, weil er zu viel wusste, weil er nicht glauben konnte, dass Berlin vereint sein würde, weil er schon von dem Streit mit den Russen gehört hatte. Und so war es auch gekommen.

Danner damals mit der Nirostaspüle in der U-Bahn, zusammengequetscht mit wendetrunkenen Genossen, die sich auf das Kommende freuten und das Vergangene schon vergessen zu haben schienen. Danner auf dem Rückweg nach Berlin, Ost, wo er hingehörte und auch nicht weggehen würde, was auch immer die da oben auskegelten.

Im Wohnzimmer die alte Couch, auf der er abends manchmal während einer alten Polizeiruf-Folge einschlief, zwei Korbsessel für Besucher, von denen nur noch wenige kamen.

Wo Karen bloß war? Sie bewohnte das kleine Zimmer hinten links, aus dem, wenn sie da war, meistens Technobeats wummerten, die sich manchmal seltsam mit Klaviersonaten von Schostakowitsch mischten, die Danner auf seiner alten Stereoanlage im Wohnzimmer hörte, während er das abgegriffene russische Cover in der Hand hielt und sich freute, fast alles zu verstehen, was hinten draufstand. Oder mit Beethovens Neunter, deren Text ihn immer wieder faszinierte.

Karen war Danners Tochter. Glaubten jedenfalls die meisten. Wenige wussten, dass sie nicht nur einen anderen Vater als Danner, sondern auch eine andere Mutter hatte als die Frau, mit der Danner so lange zusammen gewesen war.

Wenn man Danner so sah, wie er zum Einkaufen ging, langsamen, aber immer noch festen Schrittes, das Einkaufswägelchen hinter sich herziehend – den altmodischen Hut auf dem Kopf, die große Brille im Gesicht, die immer ein bisschen an Honecker erinnerte (nur dass besser aussah, wenn er sie abnahm) –, würde man nicht so leicht darauf kommen, dass es sich hier um den ehemaligen Leiter der AKA7, oder besser, um deren schlafenden Agenten, den ehemaligen Leutnant der Nationalen Volksarmee Joachim Danner, handelte. Danner hatte bis zu seinem 30. Lebensjahr in der alten DDR gelebt, sozialistischer DDR-Adel sozusagen, mit preußischen Vorfahren, ein Leben in Pflichterfüllung, schon der Vater war so gewesen. Nach der Wende zum Guten und der Entstehung der Enklave war er hauptsächlich wegen seiner Beziehung zu Mechthild einer der wenigen gewesen, dem die neue Führung vertraute. Aber auch wegen seines hohen Zins’ für Gerechtigkeit und dem Glauben an das Gute am Sozialismus. Und er wurde öfter sichtbar, als es Danner bewusst war. So jemanden könnte man brauchen, in der Enklave Ostberlin.

Wenn er die, die ihm zu seinen AKA7-Zeiten unter die Fittiche gekommen waren, unter militärischen Gesichtspunkten hätte beurteilen sollen, dann hätte er sie soldatenuntauglich genannt, im Krisenfall nicht verwendungsfähig, zu faul und beratungsresistent.

Jetzt schlief die AKA7, die Tätigkeit war eingefroren, aber alle, die dazugehörten, bekamen Geld, von dem man zusammen mit dem bedingungslosen Grundeinkommen recht gut leben konnte und das sie zu weitgehendem Stillschweigen verpflichtete. So lebte Danner ein gemütliches Leben im Prenzlauer Berg

Er war ein freundlicher Mann, der jeden, der ihn grüßte, zurückgrüßte, hier und da ein Schwätzchen hielt und über alles, was so im Viertel passierte, informiert war, ohne dass irgendjemand den Eindruck haben musste, dass das, was man ihm erzählte, irgendwie in falsche Hände geraten könne. Danner vertraute den Leuten, und die Leute vertrauten ihm.

Alles was ihn mit der Vergangenheit der AKA7 verband, in der sie davon geträumt hatten, den Kapitalismus im Westen zu bekämpfen, war ein altmodisches Handy, mit dem er kontaktiert werden konnte oder Kontakt aufnehmen konnte, falls es aus irgendwelchen Gründen nötig war. Jedes AKA7-Mitglied musste es regelmäßig monatlich kontrollieren, manche taten es monatelang nicht. Danners Exemplar lag in einer Schublade im Flur, und er überprüfte es einmal mehr als vorgegeben, zum einen aus Pflichtbewusstsein, zum andern in der leisen Hoffnung, es könnte etwas passieren, das ihm Abwechslung in seinem angenehmen, aber auch manchmal etwas langweiligen Leben brachte. Das den Offizier und Agenten in ihm wieder forderte, wie er früher gefordert gewesen war, als er die ganze Einheit befehligte.

Danners Einkaufsweg führte ihn vom Helmholtzplatz zur Gysistraße, die zu DDR-Zeiten Dimitroffstraße geheißen hatte, zum Lebensmittelladen von Tayfun, bei dem er seit dreißig Jahren einkaufte. Im Sommer gab es ganz gute Auswahl, und Danner kriegte gute Laune, als er von Weitem sah, dass draußen ein paar Stiegen Erdbeeren standen. Dann sah er, dass die Schlange dafür bis auf die Straße reichte. Mit ein bisschen Pech würde er keine Erdbeeren mehr bekommen. Früher hatte man Schlange gestanden und schlechte Laune gehabt, und das war schlimm gewesen. Heute stand man Schlange und hatte gute Laune. Erdbeeren gab es oft in beiden Fällen nicht mehr.

Aber er hatte Glück. Tayfun, der ihn mittlerweile ganz gut kannte, hatte ihm ein Schälchen zurückgehalten. Danner sammelte ein, was er sonst noch brauchte, und trank dann mit Tayfun, dessen Laden sich geleert hatte, weil die Erdbeeren ausverkauft waren, zwei Flaschen Bier, Petro-Hell genannt, die Standardmarke im Osten. Er wusste, dass er davon Kopfschmerzen bekommen würde.

WEST

Karlheinz Dräger überflog mit seinem Hubschrauber Westberlin. Er hörte heute Wagner, ihm gefiel der Walkürenritt, er erinnerte ihn an einen Film, in dem zu seinen Klängen ein Armeeoffizier (in seiner Erinnerung war es Curd Jürgens) ein Dorf mit Hubschraubern angriff in irgendeinem lange zurückliegenden Krieg. So fühlte sich auch Dräger, wie ein Offizier, dessen Befehlsbereich ganz Berlin war. Dräger drehte nach Westen ab, Richtung Grunewald. Er war stolz, dass er den Hubschrauber selber fliegen konnte, und der Pilotensitz ächzte unter seinem 130 Kilo Gewicht. Dräger unterschied sich mit seinem Gewicht nicht von vielen der Menschen, die in Westberlin wohnten. Er rauchte auch hier im Hubschrauber und stopfte dabei Gummibärchen in sich hinein – kiloweise, überall hatte er neben sich einen ganzen Eimer davon stehen, in den er alle paar Sekunden griff –, die er fast ohne zu kauen hinunterschlang.

Jetzt hatte er wieder dieses Gefühl der Entschlossenheit, was den Osten betraf, er wusste zwar nicht genau, wie er dem Treiben da drüben ein Ende machen sollte, aber immerhin hatte er eine Idee.

Zunächst musste er dafür sorgen, dass der Fitzmann-Sicherheitsdienst größer und stärker wurde und nicht nur in der Lage war, anstelle einer staatlichen Polizei das öffentliche Leben zu kontrollieren (was er in Wirklichkeit mehr schlecht als recht tat), sondern auch militärisch aktiv zu werden. Ihm schwebte eine ganze Armee vor, die da drüben im Handstreich für Ordnung sorgen würde, eine gut funktionierende Privatarmee, die mit unerbittlicher Härte vorgehen würde. Ungefähr so wie in dem apokalyptischen Film mit Curd Jürgens. Oder war es doch ein Amerikaner? „Ich liebe den Geruch von Palmen am Morgen“, hatte er jedenfalls gesagt. Oder so ähnlich.

Genau diese Armee würde Dräger ins Leben rufen. Natürlich müsste das zunächst heimlich geschehen, denn auch wenn die sogenannte Politik mittlerweile kaum mehr Einfluss hatte, wäre es gewagt gewesen, öffentlich zu machen, dass er danach trachtete, Ostberlin quasi militärisch einzunehmen. Das Aufsehen darüber – besonders bei den Ländern, die sich immer noch als die Alliierten verstanden – würde groß sein und ungelegen kommen, und außerdem versprach er sich von einer Armee, die es offiziell gar nicht gab, mehr, als wenn man von ihrer Existenz wusste.

Dräger brauchte jemanden, der das für ihn erledigte, einen Experten, der in der Lage war, Soldaten zu rekrutieren und sie nach den Anforderungen der modernen Kriegsführung auszubilden.

Gossen, der dieses Witzministerium für deutsche Zusammenarbeit führte und den Osten nach wie vor schützte, hatte er wenigstens abgerungen, dass die Penner da drüben versprechen mussten, in Zukunft ihre Grenze zu schützen, zum Glück hatten die da offensichtlich auch ihre Probleme mit den Flüchtlingen, das kam Dräger gelegen. Er würde auf der Westseite seine als Grenzschutz getarnte Armee in Stellung bringen, der Osten würde versuchen, die zahllosen Löcher in der alten Mauer dicht zu halten, und irgendwann würde er zuschlagen.

Dräger landete mitten auf einem alten Sportplatz in Wilmersdorf. Vor dem Start von seiner Landeplattform auf dem Fitzmann-Haus hatte er sich bereits in einen schmuddeligen Trainingsanzug gezwungen, wodurch man ihn von anderen, die im dreckigen Wilmersdorf lebten, nicht unterscheiden konnte, ein Dicker unter vielen. Sich mal unter die mischen, die von ihm abhängig waren.

Er verließ den Sportplatz zu Fuß, zwei Sicherheitsleute, die er über Smartphone angefordert hatte, bewachten seinen Hubschrauber, solange er weg war. Zehn Minuten später lief er über die Wilmersdorfer Straße, die früher mal belebt und jetzt verödet war, nur ein einziger, einsam vor sich hin leuchtender Matratzenmarkt war geblieben.

Dräger schnaufte, weil es für ihn ungewohnt war, zu Fuß zu gehen, alle paar Sekunden musste er stehen bleiben. Dabei langte er immer wieder in die Tasche der Trainingshose und schob sich eine Handvoll Gummibärchen in den Mund, die roten mochte er am liebsten. Als er an seinem Ziel angekommen war, warf er den Zigarrenstummel achtlos auf die Straße.

WEST

Aus dem Lautsprecher plärrte Schlagermusik, als Berker sich an dem Bierzapfautomaten noch einen Becher holte. Nachdem er zwei Euro eingeworfen hatte, kam der Strahl, das Bier lief wie immer über, daran, dass Bier schäumte, hatten die, die diese Dinger erfunden hatten, wohl nicht gedacht, wenn man den Dreh nicht raushatte, bekam man nur die Hälfte von dem, was für zwei Euro versprochen wurde. Man musste mit zwei Bechern arbeiten, während der eine überlief, musste man den zweiten unter die Auffangvorrichtung halten und das, was überlief, einigermaßen geschickt auffangen, dann, wenn der Schaum aus dem Hauptglas sich gelegt hatte, schüttete man beides zusammen und hatte so was wie ein ganzes Bier.

Es gab keinen Wirt und keine Bedienung, das Mompereck in Wilmersdorf war eine reine Fitzmann-Automatenkneipe, wie die meisten heutzutage in Westberlin, die Tische aus robustem Stahl, die Bänke mit ihnen fest verschraubt. Es sah aus wie ein Gefängnisbesuchsraum, und von außen wie eine alte Berliner Eckkneipe, aber das war nur Fassade für Touristen. Alle paar Tage holte jemand von Fitzmann das Geld aus den Automaten und spritzte den Raum mit einem Wasserschlauch ab, ansonsten waren die Gäste sich selber überlassen. Wenn es zu Streit kam, und es kam oft dazu, gab es hier nichts zum Kaputtmachen außer sich selber oder seinen Gegner.

Das Mompereck hatte rund um die Uhr auf, einige waren immer da, verteidigten ihren Platz, schliefen dort sogar, tranken sich langsam zu Tode. Sie mussten nur aufpassen, dass sie bei der wöchentlichen Reinigung durch den Wasserschlauch nicht nass wurden. Die Stahltoiletten stanken, die Tür war ausgeleiert, und jeden Moment konnten Leute reinkommen, die gefährlich waren, die einem wegnehmen konnten, was man besaß, egal wie wenig es war.

Berker wurde von einem Mann angerempelt.

„Vorsichtig“, sagte Berker sanft, aber bestimmt.

„Was willzu denn?“, lallte der Vierschrötige, machte einen Schritt auf Berker zu und sah ihm angriffslustig ins Gesicht.

„Dass du ein bisschen vorsichtiger bist“, sagte Berker ruhig und blickte dabei freundlich auf ihn herunter. Er war ein großer Mann, der sich immer ein bisschen nach vorne beugte, als wolle er dadurch von seiner Größe ablenken.

„Und wenn nicht?“ Der Vierschrötige funkelte ihn an.

„Dann gibt’s was aufs Maul“, sagte Berker trocken. Das wirkte.

„Ok, ok“, sagte sein Gegenüber, hob beschwichtigend die Hände und zog sich zurück.

Berker hatte keine Angst vor den Gästen im Mompereck, eher hatten sie Angst vor ihm. Wenn er da war, nahmen sich alle anderen zurück, weil sie wussten, dass Berker es nicht duldete, dass man anfing, sich zu prügeln, er ging dazwischen und sorgte für Ordnung, ohne dass es ihm jemand dankte.

Berker bereute es nicht, in den Westen gegangen zu sein, obwohl es ihm kein Glück gebracht hatte. Er hatte im Gegensatz zu anderen im Mompereck wenigstens noch eine Wohnung. Das war schon Glück genug heutzutage. Und er hatte einen Job bei einer Sicherheitsfirma, die ihre Aufträge von Fitzmann erhielt.

Berker stand tagsüber vor einem der Fitzmann-Märkte, prüfte die Identitäten, passte auf, dass es nicht zu Plünderungen kam, und übergab Ladendiebe dem Fitzmann- Sicherheitsdienst.

Berker stellte sein Bier ab, setzte sich an einen Tisch in der Ecke, schlängelte seinen großen Körper zwischen Stahlbank und Stahlstuhl, nahm einen Schluck Bier und knipste sein Fitzmann-Smartphone an. Erlegte es mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch, trank einen Schluck Bier und wartete, bis die 15 Werbespots durchgelaufen waren, die man über sich ergehen lassen musste, wenn man keinen Premiumvertrag hatte. Berker hasste die Spots nicht, er kannte sie nur alle schon. Er gehörte nicht zu den Leuten, die sich über so was aufregten, er regte sich selten über irgendwas auf. Geschweige denn, dass er in seinem Leben gegen irgendwas protestiert hätte.

Er würde sich anhören, was der ominöse Mann, der sich mit ihm im Mompereck verabredet hatte, ihm zu sagen hatte, und im Voraus keinen weiteren Gedanken daran verschwenden, ob dieses Treffen seine Lage verändern könne. Trotzdem kam ihm der Gedanke daran immer wieder. Und das Gefühl der Hoffnung ebenfalls.

Als Nächstes sah er auf dem Tisch einen voluminösen Bauch, auf dem übergangslos ein Kopf saß, in dem eine Sonnenbrille steckte.

„Ick bin hier mit einem Gunther Berker verabredet. Sind det Sie?“

Berker hörte, dass der Mann nur so tat, als ob er Berliner wäre. So seltsam übertrieben.

„Das bin ich“, sagte er betont hochdeutsch, woraufhin der Mann nickte und sich mühsam hinter den Metalltisch klemmte. Er roch nach Schweiß, Zigarrenrauch und Parfum. Trinken wollte er nichts.

„Krichick nicht runter, die Plörre hier, wa.“

„Warum wollten Sie mich treffen?“, fragte Berker.

„Ick komme im Auftrag von einen, der lieber nich jenannt werden will, deshalb hat der mir jeschickt, wa. Mein Auftraggeber hat viel Einfluss und würde es sich wat kosten lassen, wenn Sie für ihn, na, sagen wir mal, jewisse Aufräumarbeiten erledigen würden.“

„Was für Aufräumarbeiten?“, fragte Berker.

„Welche in jroßem Umfang, wa“, sagte der Mann bedeutungsvoll und sah ihn über seine Sonnenbrillengläser an.

„Genauer gesagt, will mein Ufftragjeber den jesamten Osten uffräumen. Noch jenauer gesagt, will er grundsätzlich mit ihm ufffräumen.“

„Mit was für einem Osten?“, fragte Berker.

„Mit der sojenannten Freien Enklave Ostberlin, wa. Und da sind Sie ihm als Experte jenannt worden.“

„Sehe ich aus, als hätte ich ein Umzugsunternehmen oder eine Reinigungsfirma?“

Der Dicke lachte.

„Jut jejeben! Nein, unser Interesse bezieht sich auf ihre militärische Erfahrung. Um es konkret zu sagen: Die Unternehmensleitung von Fitzmann hat beschlossen, ihre Geschäfte auf den Osten Berlins auszudehnen, wa. Dazu sind allerdings jewisse Veränderungen da drüben nötig. Das Gammlernest muss irgendwie ausjeräuchert werden.“

Berker sah ihn ungläubig an. Er hatte seine ganz eigenen Erfahrungen mit diesem „Gammlernest“ gemacht, wie der Dicke es nannte, und das waren keine guten gewesen. Die sogenannte demokratische Leitung dieses sogenannten ökosozialistischen Staates hatte ihn nach 15 Jahren Dienstzeit bei der NVA rausgeschmissen. Über die Gründe hatte Berker nie etwas erfahren, aber er konnte sie sich denken.

„Das müssen Sie genauer erklären. Kleinen Moment“, sagte er und ging noch ein Bier holen.

OST

Mechthild wachte so gegen sieben in ihrem Hochbett auf. Alles war ruhig. Sie hörte nur die Vögel zwitschern, manchmal das Gackern der Hühner. Sie würde als Erstes in den Garten gehen, so früh am Morgen war das meist am schönsten. Sie zog sich die Wollsocken aus und warf sie auf den Haufen Wäsche im Flur, der immer größer wurde. Manchmal war es ihr ein Angang, mit der Hand zu waschen, aber das gehörte dazu, wenn man ein paar Tage auf der Datsche verbringen wollte.

Barfuß ging sie dann in den Garten, der Morgentau machte ihr die Füße nass, sie liebte das. Es sah so aus, als hätte sie die Schnecken im Gemüsebeet erfolgreich bekämpft, aber nicht getötet, und man konnte kleine Tomaten an den Sträuchern erkennen. Die Sonne war schon ein bisschen warm, Mechthild schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in den Himmel, die Strahlen wärmten sie. Sie begann mit ihren Yogaübungen und setzte sich dann im Schneidersitz auf die Holzbank vor ihrem kleinen Haus. Sie atmete tief ein und schloss erneut die Augen. So machte sie es hier jeden Morgen.

Die Datsche hatten ihre Eltern schon gehabt. Mechthild war eine der wenigen, die hier nicht ständig wohnten, aber so viel Zeit verbrachte wie möglich, um sie herum gab es viele, die versuchten, hier weitgehend autark zu leben, im Einklang mit der Natur. Es gab welche, die Strom hatten, andere verzichteten ganz darauf, Mechthild hatte nur welchen für das Nötigste, ein ratternder Generator hinter dem Schuppen, sie machte ihn selten an.

Aus ehemaligen Wochenendhäusern waren kleine Dörfer geworden, mit regen sozialen Kontakten und nachbarschaftlicher Hilfe.

Oft saß man abends zusammen, rauchte den einen oder anderen Joint, es wurde Bier und Kartoffelschnaps getrunken, zusammen gekocht und gegessen oder Musik gemacht. Die Geburtstagsfeiern machten so viel Spaß, dass manche angefangen hatten, ihren mehrmals im Jahr zu feiern.

Mechthild atmete ein paar Mal kräftig aus, erhob sich dann entschlossen, betrat das Haus, zündete den Gasherd an und kochte Kaffee in einem bräunlich angelaufenen italienischen Espressokocher. Der Kaffee war südamerikanisch und natürlich Bio, ziemlich teuer, weil aus dem Westen, aber das gönnte sich Mechthild. Sie schnitt ein Stück selbst gebackenes Brot ab, setzte sich mit Kaffee und Brot an den groben Holztisch mit der Plastedecke, träufelte kalt gepresstes Olivenöl auf ein Stück Brot und frühstückte.

Die Hütte war vollgestopft, aber aufgeräumt, saubere Stapel von Büchern und Zeitungen, der alte Küchenschrank, die blauen Teller mit den weißen Punkten.

Mechthild stand auf, stellte die Tasse in die Spüle und setzte sich in ihren Lesesessel, der von zwei Bücherstapeln flankiert war, sank tief in die alten Federn, die man dabei hören konnte. Aus einem Bücherstapel ragten ein paar Fotografien heraus, sie zog und bekam sie in die Hände, fast wäre der ganze Stapel umgefallen.

Fotos der friedlichen Revolution, Szenen im Prenzlauer Berg, Ende der Achtziger, Bürgerbewegung, Partys, Konzerte, die ganzen Feiern zur Unabhängigkeit des neuen zweiten Staates. Ihr damaliger Mann, Demos am Alex. Alle rauchten.

Karen, die so etwas wie ihre Tochter war, als Kind hier im Garten, wie klein der Kirschbaum da noch war, Nacktbaden im nahen See, auf einem Bild verdeckte Mechthild verschämt ihre Brüste. Fotos von Mechthild bei Ehrungen, offiziellen Anlässen, vor und nach der Wende, nach ihr gelöste Stimmung, gut gelaunte, fröhliche Menschen, nachlässig angezogen, Blumensträuße schwenkend, die Masse von Menschen, als im Treptower Park das berühmte Friedensfest gefeiert worden war, ganz anders als die Feste vorher und auch die danach, die mittlerweile Unter den Linden stattfanden.

Bilder aus DDR-Zeiten, mit streng blickenden Menschen, Zuschauertribünen, spießiger Kleidung, privaten Familienfeiern in Reinhilds Jugend, bei denen die Familie auf Sofas und Sesseln und zu hohen Stühlen am Couchtisch saß und mit Weinbrandgläsern in die Kamera winkte. Ferien auf dem Darß, Zelt und Liegestühle. Erinnerungen.

Ein Bild von ihr und Danner, den sie nach der Wende kennengelernt hatte, niemals hätte sie gedacht, sich in einen Mann zu verlieben, der Soldat war, und dass er das war, war auch der Grund, weshalb die Beziehung letztlich gescheitert war. In ihren Augen jedenfalls.

Mechthild seufzte, als sie an die Zeit dachte, in der sie glücklich gewesen waren, hauptsächlich, weil sie sich zusammen um ein Kind gekümmert hatten, von dem sie zwischenzeitlich vergaßen, dass es nicht ihres war. Karen lebte jetzt bei Danner. Mechthild sah sie nur noch selten. Zu viel zu tun.

Sie legte die Fotos zurück auf den Stapel und versuchte, sich wieder auf das Sonnengeflecht zu konzentrieren, was nicht so recht klappen wollte.

Eine Stunde später wurde sie abgeholt, in einer alten schwarzen Limousine, sie passte so gar nicht dazu in ihren groben Lederschuhen, dem Wickelrock, dem Hut und den Wollsocken.

WEST

Berker war immer noch im Mompereck. Während er mal wieder am Bierautomaten wartete, dachte er über das nach, was der komische Dicke gesagt hatte, der sich schließlich als Karlheinz Dräger persönlich entpuppt hatte, Chef des Fitzmann-Konzerns. Was der von ihm wollte, war nichts anderes als der Aufbau einer geheimen Armee, um den Osten zu überfallen! Nicht dass Berker sich so was nicht zutraute. Als ehemaliger NVA-Ausbilder im Range eines Oberleutnants hatte er Erfahrung genug. Ihm würde schon was einfallen. Die Frage war nur, wer ihm dabei helfen sollte.

Er wusste, dass es im Westen nicht nur an Willigen für eine solche Unternehmung fehlen könnte, sondern auch daran, dass die wenigen Willigen physisch und psychisch kaum in der Lage sein würden, eine solche Mission durchzuführen. Und dass, selbst wenn es sie gab, davon viele schlicht wegen ihrer Leibesfülle im Osten auffallen würden wie Elefanten, die sich auf dem Alexanderplatz verirrt hatten. Da nutzte das ganze Geld, das Dräger ihm versprochen hatte, wenig. Na ja, zunächst würde er sich mal das eine oder andere besorgen, das er brauchte, dann konnte man weitersehen.

Berkers Eltern waren in der DDR evangelische Christen gewesen, die ihren Glauben unter eingeschränkten Bedingungen gelebt hatten, wie sie immer wieder beklagt hatten. Er und seine Geschwister waren zu Hause evangelisch erzogen worden, in einer kühlen und strengen Weise, die der des DDR-Systems so sehr ähnelte, dass sich Berker, als er anfing zu denken, gefragt hatte, warum diese Kirche in diesem System überhaupt Schwierigkeiten hatte, das genauso kühl und streng war. Schließlich hatte er herausbekommen, dass sein Großvater als Pfarrer zu denen gehört hatte, die mit den Nazis zusammengearbeitet hatten, er hatte sogar ein Foto von ihm gesehen, auf dem auf seinen Talar ein Hakenkreuz genäht war.

Das war der Moment gewesen, in dem ihm die ganze Verlogenheit seiner Familie klar geworden war, der Opportunismus, mit dem sie zunächst in dem einen System gedient hatte und sich jetzt in dem anderen als von Kommunisten verfolgt stilisierte.

Berker hatte sich dann für das weltliche System entschieden, in seinen Augen das geringere Übel, er war der NVA beigetreten und zum Offizier aufgestiegen und hatte seine Familie, in der von Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Menschlichkeit zwar gesprochen und gepredigt, aber nicht danach gelebt wurde, hinter sich gelassen.

Seine Entlassung nach der Wende war ein Trauma für ihn, und die Aufgabe, an der Zersetzung der Enklave zu arbeiten, deshalb reizvoll.

Zufrieden zapfte er sich noch ein Bier, jetzt war es egal, wie viel davon an dem Automaten überlief. Hinter ihm stand wieder der Mann von eben, der ihn jetzt freundlich angrinste. Wer weiß, vielleicht kann ich den noch brauchen, dachte Berker.

OST

Wie bei manchen Berlinern schien bei Jenny Rehwig manchmal das Denken erst einzusetzen, wenn sie den Mund schon aufgemacht hatte. Das musste aber nicht unbedingt bedeuten, dass Unsinn herauskam. Manchmal kam auch etwas Blitzgescheites heraus, nur wusste man das vorher nie so genau.

Jennys Temperament war überschäumend, aber sie hatte auch eine nahezu unerschöpfliche Energie, mit der sie Leute mitzuziehen vermochte. Wenn sie sich einer Sache hingab, dann mit Haut und Haaren. Mit der gleichen Leidenschaft, Spontanität, Rigorosität, dem gleichen Insistieren, dem gleichen Den-anderen-nicht-ausreden-Lassen und dem gleichen Anspruch, Anführerin zu sein und dabei immer so zu tun, als sei sie keine Anführerin, dazu mit der immer gleich großen Berliner Klappe, hatte sich sie ihrer neuen Aufgabe verschrieben, nachdem die AKA7 in den Schlaf versetzt worden war.

Sie machte jetzt Theater. Aber nicht so was wie das lahme Berliner Ensemble, sondern eine ganz andere, neue Art von Ensembletheater, mit dem ersten Ensemble, das diesen Namen in vollem Umfang verdiente, weil es wirklich ein Zusammen war, kein Pseudoensemble, wo letztlich immer einer das Sagen hatte, meistens auch noch ein Mann.

Jenny kannte das Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm gut, ihr Vater hatte dort sein Leben lang gespielt, sie war als Kind viel da gewesen und als Erwachsene hatte sie ihr Kind wiederum oft dorthin mitgenommen. Ihr Vater war eine Berühmtheit in der DDR und danach gewesen, jeder kannte Horst Rehwig, ob groß oder klein, von der Bühne, aus Funk und Fernsehen. Einer der führenden sozialistischen Schauspieler und Komiker, wobei nicht ganz klar war, ob Sozialismus und Komik zusammengingen oder aber zusammen vielleicht nur unfreiwillig komisch waren. Horst Rehwig war komisch gewesen, daran bestand kein Zweifel.

Er hatte ein auch für DDR-Verhältnisse lustiges Leben inmitten des Ganzen geführt, sich dabei allerdings langsam, aber zielstrebig ins Grab getrunken. Horst Rehwig war jemand gewesen, in dem man sein Land wiedererkennen konnte, zum überwiegenden Teil das Positive daran, das, was die neue demokratische Führung in den neuen demokratischen Staat hinüberretten wollte, nicht das, was abgeschafft gehörte, Mangel, Bespitzelung, Repression und totalitäres Gehabe. Bespitzelt wurde nicht mehr in der Enklave, Repression und totalitäres Gehabe waren weitgehend abgeschafft, aber wie lange das mit dem Mangel noch dauern würde, wusste niemand.

Jenny versuchte ein Leben lang, aus dem Schatten ihres Vaters zu treten, etwas anderes zu sein als nur die Tochter von Horst Rehwig, und doch sprachen immer alle zuerst von ihrem Vater, wenn die Rede auf sie kam, das ist die Tochter von Rehwig, als ob das alleine schon ein Verdienst sei oder eine Hypothek, ähnlich erfolgreich zu werden wie er.

Jenny war deshalb dem Theater zunächst ferngeblieben und wollte unbedingt etwas anderes machen, obwohl sie sowohl das Interesse als auch das Talent dafür von ihrem Vater geerbt hatte. So war sie über Umwege bei der AKA7 gelandet und jetzt also doch beim Theater.

Im halbverfallenen Pfefferberg an der unteren Schönhauser Allee hatte sie mit ihrer Truppe einen Probenraum gemietet, in dem es weder Heizung noch eine Toilette gab, dafür aber ein paar alte DEFA-Scheinwerfer und eine Kiste Kostüme, die sie über ihren alten Kontakt zum Berliner Ensemble organisiert hatte. „puterrot“ nannten sie sich, immer kleingeschrieben, und hatten schon eine Produktion rausgebracht. Eine Tragödie, Büchners Dantons Tod. Sie wurde manchmal vor nur drei bis sieben unverdrossenen Zuschauern zu Ende gespielt, aber Jenny meinte:

„Dit is ejal, wie ville da unten am Ende hocken, solange man die paar würklisch erreischt.“

Trotzdem machte sich die Truppe Sorgen ums Überleben angesichts der niedrigen Zuschauerzahlen und hatte beschlossen, als Nächstes eine Komödie zu machen, wovon nicht alle begeistert waren, weil Komödien dem Spießer und dem Kapitalismus nur Bestätigung gäben und sie sich nicht im Winter im arschkalten und im Sommer bullenwarmen Probenraum für Kommerzkacke abrackern wollten.

Aber Jenny hatte sich durchgesetzt, mit dem Argument, dass Lysistrata keine Kommerzkacke sei, sondern ein Stück über Frauenbefreiung und sexuelle Revolution. Es ging darin um Frauen im alten Griechenland, die sich ihren Männern sexuell verweigerten, damit die mit dem Krieg aufhörten. Jenny machte den Vorschlag, dass sich die Schauspielerinnen für die nächsten Monate den Männern tatsächlich sexuell verweigerten, während die Männer sich in Anti-Aggression übten.

„Dit bringt uns die komische Enerjie, die wir da broochen, dadurch wird det erst richtisch komisch, man muss da ne eschte Not spüren, nur dann müssen die Leute über euch wiehern, det muss wat anderet werden als wie so ’ne Sexwitzchenparade, bei der man nur über seine eijene Verklemmung lacht!“

Die Reaktion war nicht besonders positiv gewesen, denn alle mochten Sex eigentlich gerne. Jenny hatte gut reden. Da sie nicht mitspielte, sondern nur Regie führte (soviel zur Mitbestimmung), musste sie sich auch keine sexuelle Not erarbeiten und vergnügte sich heimlich mit dem zwanzig Jahre jüngeren Regieassistenten.

Ein paar Tage vor der Premiere war an dem Ergebnis der Proben nichts komisch, ob mit oder ohne sexuelle Not. Krise. Sie waren jetzt nicht mehr in den Proberäumen, sondern im Theater, wobei Theater ein etwas romantisierender Begriff für den abgehalfterten Saal war, in dem sie spielen sollten und in dem die Bühne zu hoch und die Bestuhlung morsch war und in dem es im Winter noch ein bisschen kälter war als im Pfefferberg und im Sommer wärmer als in der Sauna.

Sie saßen draußen zur Krisensitzung auf alten Rohrstühlen im Hof in der Sonne. Von außen betrachtet sah das alles ganz harmonisch aus, doch die Stimmung war alles andere. Obwohl es noch am Morgen war, tranken einige bereits mit Bier gegen die Krise an. Auch als Jenny darauf hinwies, dass es „wohl jetzt besser wäre, ’ne nüchterne Birne zu haben“, hörten sie nicht damit auf. Alle wurden immer gereizter.

Die einen wollten die Aufführung gar nicht rausbringen, und die anderen waren der Ansicht, dass jetzt nur noch Handwerk helfen könne. Man müsse jetzt konkret „Wirkungsmechanismen“ finden und „Comedyelemente“ – und bei „Comedy“ gingen wieder andere hoch, die keine Anglizismen wollten, weil die einen dem kommerziellen Ausverkauf auslieferten, und überhaupt war Jenny der Ansicht, dass Lachen eigentlich lediglich die Befriedigung eines billigen Bedürfnisses sei und unpolitisch und dafür sei sie bestimmt nicht hier angetreten und ihr sei egal, ob ’ne Komödie lustig sei oder nicht. Daraufhin sagte ein älterer Schauspieler, wenn eine Komödie nicht lustig sei, sei es keine Komödie. Jenny lachte ihn aus und empfahl ihm, seine bürgerlichen Kategorien mal zu überprüfen und am besten komplett über den Haufen zu werfen.

Je länger sie darüber stritten, was komisch war und was nicht und wann das eine für den einen komisch und für den anderen nicht komisch war, weil es auf Kosten dritter komisch war, und die Biertrinker weiter Bier getrunken und sarkastische Kommentare abgegeben hatten und die auslachten, die ihnen „Ruhe auf den billigen Plätzen“ zuriefen, desto lauter wurde es, und als ein junger Kollege auf einmal brüllte: „Deswegen durften wir drei Monate nicht ficken, oder was?“, schrien auf einmal alle durcheinander wie bei einem umstrittenen Platzverweis im Fußball. Es kam zu Handgreiflichkeiten.

Niemand bemerkte den kleinen Hausmeister in seinem grauen Kittel, der eine Aschetonne an ihnen vorbeirollte, innehielt, sich das Ganze einen Moment ansah, den Kopf schüttelte und sagte: „Ihr seid ’ne komische Truppe.“ Was eben nur bedingt stimmte.

WEST

So, wie es zu Zeiten, in denen es in Europa einen kommunistischen Block gegeben hatte, im Osten den „Gulaschkommunismus“ der Ungarn gegeben hatte, nannte man das System, das Dräger mit Fitzmann als relativ unabhängig von Astragon in Westberlin errichtet hatte, unter vorgehaltener Hand „Bockwurstkapitalismus“. Man konnte froh sein, dass das neue System, das das alte, demokratische nahezu ersetzt hatte, mit vielem überfordert war. Es baute ganz auf die digitale Abhängigkeit seiner Bewohner, die in der überwiegenden Mehrheit dazu bereit waren, Verwahrlosung, Ghettoisierung, Ungerechtigkeit und das weitgehende Fehlen einer öffentlichen Ordnung hinzunehmen, wenn sie nur ein Smartphone hatten.

Fitzmann beherrschte den Handel, die Verwaltung, alle wirtschaftlichen Bereiche, den Devisenhandel, Sport, Unterhaltung, Kultur, soweit man sie noch so nennen konnte, einfach alles. Fitzmann versprach das Berliner Paradies auf Erden.

Statt dessen herrschte in den Straßen Tristesse, außer in denen, die man aus touristischen Gründen schön gemacht hatte, in denen die letzten zwei nicht an Motorschaden verreckten Doppeldeckerbusse auf und ab fuhren und die alten schnuckeligen Straßenlaternen noch leuchteten, unter denen man die Berliner Luft atmete, die aber nach Müll roch, nach Emissionen aus den Fabriken, nach Mopskacke und Kölnisch Wasser. Das Gelände um den alten Lehrter Bahnhof lag immer noch brach, immer noch war dessen Verwandter, der Anhalter Bahnhof, eine Ruine, in die neue Nationalgalerie war ein Fitzmann-Discounter gezogen, genauso wie in das Gebäude, in dem mal das KDW gewesen war und das immer noch so hieß, aber nur noch äußerlich Ähnlichkeit damit hatte. Im Strandbad Wannsee watete, wer noch auf die Idee kam, baden zu gehen, durch Plastikmüll. Auf dem Luftbrückendenkmal prangte eine neonrote Fitzmann-Reklame.

Dräger malträtierte seine Bürger mit Fortsetzungen seiner alten Lieblingsfernsehserien, von Bonanza, wonach eine Burgerbratereikette benannt war, bis zu Drei Damen vom Grill, von dem es unter dem Namen Fitzmanns Damen vom Grill unzählige Versionen an jeder dritten Ecke gab.

Berliner Humor war jetzt praktisch verordnet. Edith Hancke und Wolfgang Gruner faselten in ihrem meckernden Berlinstaccato aus Lautsprechern an nahezu jeder Straßenecke, die Gebrüder Blattschuss sangen immer noch, dass Kreuzberger Nächte lang sind, trugen aber jetzt kurze Haare und Krawatte, und ihre dicken Finger trafen die Töne auf dem Griffbrett der Ukulele nicht mehr. Inge Meysel warb immer noch auf einem der Fitzmann-Plakate mit Kapotthut und Handtasche für Fitzmann-Filterkaffee, obwohl sie schon lange tot war.

Eine Zeitlang hatte ein anonymer Sprayer in seiner Verzweiflung „Berlin ohne Berliner!“ auf alle möglichen Wände gesprüht, es hieß, er sei wegen Sachbeschädigung und Volksverhetzung in Fitzmanns Produktionsmühlen in Tempelhof verschwunden.

Der Zuzug der türkischen Gastarbeiter ab den Sechzigerjahren, der die Stadt belebt hatte, wurde von Fitzmann gänzlich gestoppt, und wenn Westberlin einmal die größte türkische Stadt außerhalb der Türkei gewesen war, gab es jetzt nur noch vereinzelt ein paar Familien, die freiwillig geblieben waren. Allen anderen war das strenge muslimische Regime, das zu Hause herrschte, immer noch lieber als der Bockwurstkapitalismus von Fitzmann. Viele waren wahrscheinlich auch einfach vor der schrecklichen Musik geflohen.

Westberlin war endlich wieder Westberlin, so wie die Westberliner sich das angeblich immer gewünscht hatten. Sie konnten sich endlich wieder mit dem beschäftigen, was sie mochten, mit Skat, Swimmingpools, Partykellern, Sparclubs, Dackeln und Möpsen, Molle mit Korn, Kaffeeklatsch, Schrippen, Spätis und Schrebergärten. Sie liefen mit fettigen Haaren in Fitzmann-Jogginganzügen über die Straße oder saßen auf Parkbänken und balancierten Bierdosen und Pizzakartons auf dem Bauch.

Alte Damen saßen im Café Kranzler, das nur noch so hieß und natürlich lange zu Fitzmann gehörte, und aßen Cremetorte aus künstlicher Sahne, wobei sie den Hut aufbehielten, während am Nebentisch bei Kaffee und Cognac die Preisabsprachen im Baugewerbe konkretisiert wurden, die man am Abend vorher in den spießigen Sündenbabeln, dem Kleistcasino oder Red Rose, bei einem Herrengedeck vereinbart hatte. Man hatte den Eindruck, als habe Fitzmann die Stadt zurück in die frühen Sechziger katapultiert. Alles auf Anfang.

OST

Die Touristen, die sich auf eigene Faust und auf verschiedenen Wegen in den wilden Osten aufmachten, stolperten dort über desolate Gehwege mit betonierten Straßenlaternen durch eine wundersame Stadt. Alles war bunt und verfallen, neben den seltsamen motorisierten Vehikeln gab es hier und da noch Pferdewagen, Kohlenhändler mit schmutzigen Gesichtern fuhren ihre Ware aus. Eine Stalinstatue, fünf Meter hoch, hatte die Hand ins Jackett gesteckt, auf das jemand „Wanna buy some dope?“ geschrieben hatte.

Sie konnten der symbolischen Wachablösung am alten Reichstag beiwohnen, bei der einmal am Tag ein Hippie einen Sowjetsoldaten ablöste, Letzterer grüßte zackig, während der Hippie einen Joint schwenkte und das Peace-Zeichen machte.

Details

Seiten
352
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2024
ISBN (eBook)
9783958942851
ISBN (Buch)
9783958942844
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (März)
Schlagworte
Osten DDR Ostberlin Wende alternative Geschichte Fantasy

Autor

Stefan Hufschmidt hat als Kolumnist für das Satiremagazin Kowalski und die FAZ geschrieben, war der Hauptdarsteller der TV-Serie „Die Zeit ist reif für Ernst Eiswürfel“ und als Autor und Comedian Mitglied der „Comedy Factory“ auf Pro 7. Außerdem hat er Sketche und Drehbücher für verschiedene andere TV-Projekte geschrieben sowie drei Soloprogramme verfasst und gespielt. „Enklave Ost“ ist sein erster Roman.
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Titel: Enklave Ost