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Die Reichen und Hässlichen

Roman

©2024 364 Seiten

Zusammenfassung

Kai Brommel lebt sein nutzloses Dasein als Millionärserbe auf Sylt. Die Nachfolgefrage im Familienunternehmen scheint ihm die Chance zu sein, der Existenz einen Sinn abzutrotzen. Sein exzessives Unvermögen endet aber in einer wahnwitzigen Katastrophe. Eine brutale Persiflage auf den leistungslosen Wohlstand der oberen 1% im heutigen, neofeudalen Zeitalter. Dieses gesellschaftskritische Buch ist für alle, die Satire im Angriffsmodus schätzen und die diese Zustände nicht akzeptieren.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1

Kai Brommel war wunschlos unglücklich. Er konnte sich alles bestellen, wollte aber nichts mehr. Bisschen Sodbrennen schon. Der 30 Jahre alte Erbmillionär betrachtete die blubbernde Champagnerflöte in seiner Hand. Für einen Moment hörte er nicht die platzenden Bässe und sah nicht die schreienden Lichter, die sich auf seiner gebräunten Stirnglatze vor dem blondierten Haarkranz spiegelten. Er sah nur die Bläschen, die eilig nach oben stiegen. Die Party war öde. Auf dem Tisch stand eine Magnumflasche Belvedere Wodka. Zwei Frauen mit Wunderkerzen tanzten im Kreis darum, als ob die Flasche ein heidnisches Feuer wäre, wobei sie sich vermutlich Brandflecken in ihre aus Jersey gefertigten Gucci-Kleidchen brannten.

Wer hatte das bestellt? Gut möglich, dass es Kai selbst gewesen war. Er sah auf seine Breitling Navitimer. Es war ein Uhr nachts und im Münchener Edelclub P1 dampfte der heiße Schweiß zur Decke. Überall um die VIP-Lounge, die Kai mit seinen Kumpels bezogen hatte, drängten sich die nicht ganz so Wohlhabenden, die nicht ganz so Reichen. Immer wieder wurde verschämt ein Handy gezückt und ein Foto gemacht – vor der roten VIP-Cordel. Sicher waren ein paar Mittelklasse-Aschenputtel darunter, die auf den großen Prinzen-Fick hofften.

„Ich war letztens auf dem Viktualienmarkt“, schrie Lars Jaster über den Tisch.

Genauso wie Kai trug er einen grauen und maßgeschneiderten Anzug von Brioni, der seinen schwammigen Kartoffelsack-Körper bestmöglich kaschierte. Kai beugte seinen Oberkörper leicht herüber, um zu signalisieren, dass er zuhörte. Er exte seinen Champagner und deutete den Ladys, ihm aus der Magnumflasche Wodka nachzugießen. Stattdessen ließ sich eins der Mädchen neben ihn auf das schwarze Leder gleiten und legte ihre Hand auf seinen weichen Bauch.

„Ich habe mir so eine scheiß Kochsendung angesehen und dachte, ich versuche das mal.“

„Was?“, fragte Kai und ließ seinen Blick dabei weiter auf die tobende Tanzfläche gerichtet.

Hier der König, dort das Volk.

„Na zu kochen!“, antwortete Lars, „Ich wollte mal selbst etwas kochen.“

„Du hast noch nie gekocht?“

„Nee, eigentlich nicht. Hast du schon mal gekocht?“

„Nein, wir haben einen Koch“, sagte Kai beiläufig.

Sein Blick war zu dem Dekolleté des Mädchens neben ihm gewandert. Er dachte, dass er diese Brüste schon mal gesehen hatte. Sie lächelte und streichelte ihn. Ab und zu rutschten ihre Finger zwischen die Knöpfe unter das Hemd und berührten seine bleiche Haut. Sie war bestimmt erst 20.

War sie wirklich reich oder hatte sie sich von ihrem Erspartem ein Gucci-Kleid gekauft, um Anschluss an die Oberklasse zu finden?

„Alter, wir haben auch einen Koch. Darum geht es doch!“

Dann kam das andere Mädchen auf sie zugetorkelt. Nun sah Kai keine Chance mehr an den Wodka zu kommen, außer eine Bedienung würde sich erbarmen – oder er stünde selbst auf. Davon sah er ab. Besorgt blickte er sich um. Die junge Frau streckte ihr von Armani designtes Samsung-Handy zu der Gruppe, sodass sie den Bildschirm sehen konnten. Kai warf einen kurzen Blick darauf und erkannte – trotz der Dunkelheit – einen Lastwagen, der neben einem Weihnachtsmarkt stand. Überall flackerte Blaulicht durch die Nacht.

„Putin wird diese Bastarde erledigen“, sagte sie entschlossen und steckte ihr Handy wieder in ihre Handtasche.

Sie verschwand auf die Tanzfläche. Das Girlie neben Kai lachte hysterisch, um wieder Aufmerksamkeit zu bekommen.

„Früher haben wir viel mehr Geschäfte mit Putin gemacht. jetzige Regierung macht uns alles kaputt. Es ist ja nicht so, als baue Putin keine Gaspipelines mehr, aber die Kugelhähne meiner Familie stehen auf der Sanktionsliste. Danke!“, sagte Lars.

„Der Firma meines Vaters macht das auch Probleme. Ich hätte jetzt aber trotzdem gerne ein Glas von dem Wodka“, entgegnete Kai.

Er rang sich dazu durch, doch selbst aufzustehen, wobei das Mädchen ihn nicht loslassen wollte. In diesem verzweifelten Moment kam eine Servicekraft angeschossen und half beim Eingießen.

„Wenn ihr keine Kräne verkauft, verkauft ihr halt Betonmischer. Mein Vater hat nur die Kugelhähne“, sagte Lars.

Kai dachte, dass er sich über den unaufmerksamen Service beschweren würde. Zumindest wenn er die Rechnung bekam. Es war nie so klar, wer am Ende das alles bezahlte. Darauf kam es einfach gar nicht an.

„Naja, was ich auch eigentlich erzählen wollte“, setzte Lars wieder an, „ist, dass ich mit dem Cabrio in die Stadt bin und es offen stehen gelassen habe.“

Kurz stockte Lars, als er sah, wie das Mädchen anfing seinem Freund, die Hoden zu massieren, aber dann grinste er und fuhr fort:

„Und es ist tatsächlich passiert: Mir hat einer ins Cabrio geschissen. Einen richtigen Haufen, direkt in den Wagen!“

Kai guckte kurz interessiert auf. Lastwagen, Hand an den Eiern, ein Kackhaufen im Cabrio – es war eine interessante Mischung, die seine Aufmerksamkeit abzuarbeiten hatte. Auf der Tanzfläche flog eine Sektflasche durch die Luft und zerschellte an einem Betonpfeiler. All die jungen, perfekt gestylten Möchtegern-Rich-Kids tanzten einfach weiter und schwitzten die teuersten Düfte aus. Kai glaubte zu hören, wie jemand schrie:

„Putin wird sie alle töten!“

Es konnte aber auch ein abgefahrenes Sample sein.

„Das ist dir doch schon mal passiert?“, fragte Norbert Schinder lachend und ließ sich neben Lars auf das Leder fallen.

Er war genauso wie Lars und Kai Anfang dreißig, trug einen grauen Anzug ohne Krawatte, hatte aber sein Hemd sehr weit geöffnet. Dadurch kamen die schwarzen Brusthaare auf seiner kalkweißen Haut besonders zur Geltung.

„Nein, man hat mir schon mal Müll ins Cabrio geworfen, aber reinscheißen ist neu“, sagte Lars.

Kai nahm die Hand des Mädchens von seinen Hoden und legte sie auf ihr Knie.

„Süße, hol mir doch mal ´ne Packung Kippen.“

Irritiert sah sie ihn an, lächelte unsicher und stand auf, um auf High-Heels schwankend davon zu tippeln.

„Warum lässt du dein Cabrio auch immer offen?“, fragte Norbert.

„Ist das kein freies Land mehr?“, erwiderte Lars und rückte seine Rolex zurecht.

Kai legte sein Jackett zur Seite.

„Warum ist der Alarm nicht angegangen?“, fragte Norbert.

„Wenn interessiert das? Vielleicht sind die Sensoren nicht auf Kackwürste eingestellt. Die Frage ist: Warum? Kackt? Jemand? In MEIN Cabrio?“

„Einfach Neid“, warf Kai gelangweilt ein, um ohne Ansatz anzufügen: „War heute irgendwas mit einem Laster?“

„Ja, du kannst nicht mal mehr deinen Wohlstand genießen. Alle nur von Neid zerfressen“, geiferte Lars und spuckte dabei ein bisschen.

Zur Beruhigung entnahm er seinem Jackett ein kleines Döschen, schüttete etwas Pulver auf die Fläche zwischen Daumen und Zeigefinger und zog es durch die Nase wie Schnupftabak.

„Ein Terroranschlag“, sagte das Mädchen mit einer Packung Zigaretten (Marlboro) in der Hand.

Kai nahm sie ihr achtlos aus den Fingern. Sie ergänzte:

„Der Weihnachtsmarkt in Berlin.“

Kai steckte sich einen Glimmstengel an, lehnte sich zurück und blies den Rauch in die feuchte Diskoluft. Eigentlich war Rauchen hier verboten. Eigentlich interessierte ihn das nicht.

„Was hast du denn gekocht?“, wollte Norbert schließlich wissen.

Lars schaute starr auf die Brüste eines Mädchens, dessen mit Pailletten verziertes Kleid auf der Tanzfläche schimmerte wie ein goldener Fisch in der Sonne. Norbert stieß ihn an die Schulter.

„Ey!“

„Was du gekocht hast, will ich wissen?“

Kurz starrte Lars ihn entgeistert an, dann sagte er: „Nichts, ich habe diesen Tennisprofi getroffen und wir sind zu Schuhbeck gegangen.“

Dann stand er auf und verschwand auf der Tanzfläche.

Norbert schaute ihm kopfschüttelnd nach und sah auf seine (billige!, wie es Kai durchfuhr) Holzkammeruhr. Das namenlose Mädchen unklarer Herkunft lehnte sich zu Kai:

„Bist du jetzt soweit, dir einen blasen zu lassen?“

Kai ließ sie umgehend sitzen. Ohne ein Wort zum Abschied griff er sein Jackett. Der VIP-Kellner leuchtete ihm mit einer Taschenlampe den schnellen Weg zum Hinterausgang, wo sein Chauffeur seit vier Stunden nutzlos wartete und sein Audiobook „Mindset der Millionäre“ hörte. Kai fiel auf den Rücksitz und fühlte sich wieder sicher.

Diese Disko-Weiber sind tückische Sprengfallen. Du kannst als Mann ab einem gewissen Vermögen leider nicht unbeschwert in einen öffentlichen Club gehen. Du willst nur Spaß haben, mal ein bisschen den Stress vergessen, einen kleinen Rausch genießen. Aber dann wirst du eben auch verletzlich. Unaufmerksam. Das wissen die Biester. Sie sehen, wenn du taumelst und schwubs kriechen sie dir unter den Arm. Lächeln dich an, berühren sanft deine Haut und viel zu oft passiert es im Suff, dass du dir irgendwie einbildest, dass da so was wie Wärme für dich ist. Sonst ist ja immer alles so kalt, aber da zwischen den Armen dieser Frauen im Suff, fühlst du dich plötzlich: angenommen. Und dann traust du deinem Verstand nicht mehr, weil der Alkohol das Herz so stark gemacht hat. Habe ich echt schon oft gesehen: Alle Männer mit einer Libido fallen regelmäßig auf so was Herzloses rein. Sie guckt dir beim Blasen nicht auf den Schwanz – sondern auf die Kreditkarte. Im schlimmsten Fall ist ihre Muschi eine Falle. Effektiver als jede gottverdammte Knarre. Mit einer Knarre kannst du mir einmal das Portemonnaie leer machen, mit einer Muschi schaffst du dir für Jahre Unterhalt. Ich bin da echt auch fassungslos, wie gewissenlos diese Frauen sind. Klar, Geld ist wichtig, aber sonst heißt es doch auch: All you need is love. Selbst Kinderkriegen ist eine taktische Option. Kinder, nur für die Kohle – ohne Liebe. Unfassbar.

Diese Irren gehen so weit, sich das Sperma aus dem Mund in die Muschi zu stopfen. Du kannst leider niemandem vertrauen. Das ist Vampirland da draußen. Ein paar Promille können dich schon so schwach machen, dass eine Muschifalle zubeißt und dann blechst du wie blöde, für Jahre. Du wolltest vielleicht nur nett sein, du wolltest vielleicht nur, dass sie aufhört, dich zu nerven. Hast halt deinen Schwanz rausgeholt. PENG! AUSGEFICKT!

Und hast wieder gelernt, dass Liebe eine Waffe sein kann. Du kannst eigentlich niemandem vertrauen, dessen Konto nicht mindestens genauso schwer ist wie deins. Für alle anderen Geier bist du ein Wanderer in der Wüste. Sobald du stolperst, stürzen sie sich hinab und hacken dir die Haut vom Fleisch. Dann pissen sie auf dich und erzählen dir, es sei Regen.

Nun gut, du kannst einer Schlange nicht übel nehmen, dass sie beißt. Sie ist eine Schlange und beißt nun mal. ABER du kannst wachsam sein.

2

„Entweder ist man berühmt oder man bleibt unauffällig“, notierte Britta in ihr digitales Notizbuch von Remarkable. Kais Kopf rutschte zur Brust. Die quälende Frage war, ob er nach links auf ihre Schulter oder nach rechts auf die Schulter des fremden Jungmanagers knicken würde?

Der Flug von München nach Westerland war total ausgebucht. Unmöglich, sich zusätzlichen Platz zu kaufen. Der Brommel-Firmenjet war irgendwo auf der anderen Welthalbkugel. Britta wäre unter diesen Umständen nicht geflogen, aber ihr Mann hatte darauf bestanden. Nun schlief er in dieser rasenden Viehkammer der Lufthansa seinen Rausch aus und nur sein grobmaschiges Jackett von Lardini (im maritimen Blau) bewahrte ihn davor gewöhnlich zu wirken.

Britta hatte sich ein Glas Rotwein bringen lassen und starrte Würde wahrend ins Nichts. Das faltenfreie Gesicht umschmeichelt von rot-blonden Haaren. Die ewige Langeweile fest im Blick nippte sie das Glas leer und schrieb von Zeit zu Zeit einen Gedanken auf. Viele Frauen reicher Männer schrieben Lebensphilosophien, warum nicht auch sie?

Die Königin der Nordsee kam in Sichtweite. Sylt. Mit dem von Mittelmaß zerfressenem Tinnum, dem vom Pöbel überlaufenen Westerland, aber auch den exklusiven Adressen in Kampen oder Keitum. Kais Kopf fiel nach einem Ruck des Flugzeugs auf die Schulter seiner Frau. Sie war angeekelt und erleichtert zugleich, als sie seinen Säuferatem roch. Wäre er zum Sitznachbar gependelt; es hätte eine peinliche Szene geben müssen. So konnte die Fassung für alle gewahrt bleiben. Britta versuchte ihre Gedanken auf das Rote Cliff zu konzentrieren. Dieser magische Ort, an dem sie Weihnachten verbringen würden. Dort, wo man – besonders bei schlechtem Wetter – eine Zeit lang einsam und ohne Ballast stehen konnte und vor nichts als Wellen und Gischt. Abgesehen davon wusste sie schon, was passieren würde: Sie würde den ganzen Tag in der Friesen-Villa sitzen, Instagramfotos von Freundinnen angucken und dreimal am Tag irgendwo einkehren, um Champagner und Austern zu schlürfen. Gegen Abend würde Kai anfangen, den moderaten Alkoholismus in eine vulgäre Sauferei zu verwandeln. Schließlich war man auf Sylt. Stößchen!

Am Flughafen wartete ein Chauffeur mit schwarzem Maybach und fuhr sie die letzten Kilometer aus dem Einfallstor der Gewöhnlichen (Westerland) durch die Dünen der Millionäre nach Kampen. Einem Refugium der Reichen. In diesem Ort war man reich oder man war draußen. 35.000 Euro kostete ein Quadratmeter Wohnfläche. Wie Reihenhausbesitzer sich auf dem Campingplatz begegneten, so reihten sich hier die Feriendomizile der Industriemagnaten und des Geldadels aneinander. Dazwischen hatten sich ein paar Sportler und Showstars gemogelt, aber man war im Grunde unter sich. In der „Whiskeymeile“ genannten Straße Strönwai drängten sich die Porsches vor Gucci- und Prada-Geschäften. In der hochnäsigen Gastronomie bezahlte man für eine kleine Flasche Becks zehn Euro. So was gewährleistet, dass sich der Westerländer Prollkult nicht bis Kampen ausdehnen konnte. Lediglich die Flüchtlingskrise und ihr Verteilungsproporz hatten dazu geführt, dass vier Asylbewerber in einem Container am Ortsrand untergebracht waren und daran zu Grunde gingen, mit ihrer Zeit nichts anfangen zu können, als zuzusehen, wie Menschen nicht nur Sicherheit, sondern auch unerreichbaren Wohlstand genossen. Im Winter war davon in der Regel weniger zu sehen, aber um die Weihnachtstage wurden auf der Whiskeymeile die Heizpilze ausgepackt.

Überhaupt hatte sich Sylt gewandelt. Im Sommer schon immer überlaufen von mehr als einer halbe Millionen Touristen, genossen die wenigen tausend echten Einwohner im Winter für gewöhnlich eine wohltuende Einsamkeit. Zunehmend wurde Sylt aber als Winterziel entdeckt. Durch die getönten Scheiben erblickte Britta eine radelnde Familie. Im Sommer zogen diese Menschen wie Büffelherden auf ihren billigen Mieträdern schwitzend, die 40 Kilometer lange Insel rauf und runter. Aber nun auch noch im Winter ...

Und für einen kurzen, unmöglichen Moment hatte Britta das Gefühl, als würde der Familienvater auf seinem klapprigen Fahrrad, sie direkt durch die getönten Scheiben taxieren. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen unter einem hässlichen Fahrradhelm berührte sein Blick sie direkt an der Stirn. Britta schrak von der Scheibe zurück und warf einen Blick zu Kai. Der tippte zusammengesunken im braunen Leder eine Nachricht in sein Handy, vermutlich an den fetten Chinesen. Sie blickte wieder aus dem Fenster, aber die Familie war verschwunden. Nervös notierte Britta in ihr digitales Notizbuch: „Wenn du reich bist, verstößt dich die Gesellschaft.“

Der Chauffeur machte sich diskret bereit, Kai aufzufangen, als dieser im Hobooken Weg schwankend aus dem Auto stieg. Langsam gewann er wieder an Farbe. Britta stöckelte auf Higheels von Valentino um die schwarze Limousine und stellte sich ungeduldig vors hohe, mit altem grünem Lack bemalte Gartentor. Es gab keinen Namen – weder an der Klingel noch am Tor – aber das gab es hier nirgends. Kai folgte ihr zurückhaltend.

„Das wird schon nicht so übel werden. Weihnachten und Familie gehört ja irgendwie zusammen“, sagte Kai.

Britta nahm sich vor, zu schmollen, bis er mit ihr zum Schmuckhändler gehen würde. Irgendeine Gegenleistung musste er erbringen für diesen grässlichen Flug.

„Deine Mutter schnippt und alle müssen tanzen“, zischte sie.

Kai rieb sich unsicher die Stirnglatze.

„Und jetzt stehen wir vor diesem Tor und niemand erwartet uns.“

Ihr Ton wurde schriller. Kai drückte schnell auf den Klingelknopf.

„Ach was, wir waren bestimmt nur zu schnell.“

Britta meinte zu spüren, wie sich die Blicke des Chauffeurs in ihren Rücken bohrten. Dann als sie den Drang zu Schreien verspürte, öffnete sich das bescheidene Tor zwischen den hohen Friesenwällen und den noch höheren Büschen. Der Chauffeur stieg in den Wagen und fuhr davon. Als Britta mühselig auf dem Kiesweg den weitläufigen Garten betrat, fühlte sie sich schon wieder ein bisschen besser. Als das Tor wieder hinter ihr schloss: beinahe erleichtert. Begrüßt wurden sie von der Haushälterin, ihr folgte sofort Isabelle, Kais birnenförmige Schwester, und tat überschwänglich.

„Kai, Britta, so gut euch zu sehen. TOLL! Hattet ihr einen guten Flug?“

Kai gab ihr ein Küsschen und erwiderte:

„Das musst du Britta fragen.“

„Er hat nur geschlafen“, fügte Britta an und ließ sich dazu hinreißen, dem Satz ein leises Seufzen anzufügen.

Isabelle kreischte und bedeutete ihnen ins Haus zu gehen.

„Nur immer herein in die gute Stube, haha.“

Die Haushälterin ging eilig zu den am Tor stehenden Koffern. Das Haus hatte auf den ersten Blick nur zwei bescheidene Stockwerke unter Reetdach. Dies war der Bauordnung von Kampen geschuldet. Der Charakter des Friesendorfes sollte erhalten bleiben, deswegen war überall einzig roter Backstein unter Reetdach zu entdecken. Nur das exquisite Hotel „Sturmhaube“ stand so weit über den Dorfrand hinaus, dass es von dieser Ordnung verschont geblieben war. Der Schein der Bescheidenheit war nur äußerlich. Um alle Annehmlichkeiten genießen zu können, hatten die Reichen einfach in die Tiefe gebaut. Die meisten der kleinen Villen waren mit mehreren Stockwerken unterkellert. Ein äußerst aufwendiges Verfahren, bei dem das Haus auf Stahlträgern abgesetzt wird, während der Ausbau nach unten von statten geht. Und so verfügte das Haus der Familie Brommel über einen großen Empfangsbereich – für den Fitnessraum mit Pool, das Heimkino, das Arbeitszimmer mit künstlichem Ausblick, die vier Schlafzimmer und drei Bäder, dem Essraum und der Küche mit modernsten Gerätschaften, war trotzdem noch genug Platz vorhanden.

Kai ließ Britta und Isabelle einfach stehen und begab sich ins Wohnzimmer, wo ein Innenarchitekt einen wunderschönen, äußerst symmetrischen Weihnachtsbaum geschmückt hatte. Die beiden Frauen hörten um zwei Ecken seine Frage:

„Ist Mutter noch gar nicht da?“

Isabelle versteinerte und sagte nur an Britta gerichtet:

„Mutter wird gar nicht kommen. Sie ist geschäftlich in Brasilien und hat ihren Aufenthalt dort über den Jahreswechsel verlängert.“

Britta wich alles Blut aus dem Gesicht.

„Aber wir sind doch jetzt hier?“

Isabelle griff beruhigend ihren Arm:

„Und wir werden es richtig schön gemütlich haben.“

Ihr kaltes Grinsen schnitt sich von Ohr zu Ohr. Offenbar hatte sie schon eine Tavor genommen, eventuell sogar mit Rotwein runtergespült. Konsterniert blickte Britta ihrer Schwägerin in die Augen und sagte nichts. Isabelle ließ sie los und ging ins Wohnzimmer, wo Kai vor dem Fernseher saß und sich die Berichterstattung über den Terroranschlag in Berlin ansah. Niemand kümmerte sich um Britta. Nach kurzem Zögern (sie hatte keine Lust sich deprimierende Nachrichten anzusehen) ging sie in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Im Türfach war eine angebrochene Flasche Moët.

Auch das gehörte in Sylt zum guten Ton: Die Stimmung der feinen Gesellschaft war nicht von Natur aus so aufgekratzt. In ihrem ersten Jahr mit Kai hatten sie einen berühmten Schlagersänger, der nicht weit weg wohnte, in seinem Haus besucht. Es war 11 Uhr und er begrüßte sie bereits mit dem zweiten Glas Champagner in der Hand. Das hatte nichts mit Alkoholismus zu tun, man feierte das Leben. Wer ein Glas Wodka um 11 Uhr in der Hand gehabt hätte, wäre nicht so toleriert worden. Aber beim Frühstück das erste Glas Schampus und kontinuierlich über den Tag zwischen jedem Bussi ein weiteres – das war normal.

Das Glück wurde perfekt mit einer Flasche Aperol, die Britta auf einer Anrichte zwischen diversen anderen Likören entdeckte. Nicht ganz nach Rezept, aber brauchbar würde dieser Drink trotzdem werden.

Britta hatte sich schnell angepasst. Sylt war Neuland für sie gewesen, als sie mit Kai zusammengekommen war. Wie eine Schimpansenforscherin eignete sie sich ein künstliches Lachen an, konnte nunmehr freundlich und zugleich doch voller Arroganz gucken und verstand die Regeln des Smalltalks: Einfach schrill und zusammenhangslos Blödsinn reden. Am besten darüber, dass man es als Mensch mit Geld auch immer schwerer habe im Leben. Für Kai war das Muttermilch gewesen. Als Enkel des Baumaschinenkönigs Franz Brommel war Kai schon bei Geburt mit einem Stahlimperium ausgestattet worden. Der „mittelständische“ Familienbetrieb umfasste knapp 80.000 Mitarbeitende, über die ganze Welt verstreut. Es war eine geniale Idee von Franz Brommel gewesen, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf den Verkauf und die Fertigung von Baumaschinen zu setzen. Ganz Deutschland und halb Europa mussten wieder aufgebaut werden. Die Beschäftigten fertigten Mischfahrzeuge für Beton, Baukräne sowie große Bohrmaschinen und riesige Trucks für den Abtransport beim Minenbau. Fast zehn Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftete das in dutzende GmbHs aufgespaltene Firmenkonglomerat, wovon viele Millionen Euro jedes Jahr als Gewinn in den Schweizer Firmensitz flossen, über den alleine das Einzelkind von Firmengründer Franz, Uwe Brommel mit seiner Frau Gertrude, herrschte. Deren Kinder wiederum dankbare Küken waren, die über stimmlose Anteile am Unternehmen gefüttert wurden.

Zwei Teile Moët, ein Teil Aperol und ein Spitzer Soda. Das Glück sprudelte im Glas und Britta konnte kaum das warme Gefühl erwarten, wenn der Alkohol in die Blutbahnen überging. Diese Vorfreude vertrieb die düsteren Gedanken, ob sie nach Erfüllung ihres Jugendtraums (traumreich zu werden) mit 28 ihren Lebensantrieb schon abgewürgt hatte. Es war ja alles erreicht. Sie hatte Kai geheiratet und das ohne Ehevertrag. Ihnen gehörte nicht nur das Anrecht auf eine gesunde Firmengruppe mit Milliardenumsatz, sondern hunderte Immobilien, weitere Firmenanteile, Weingüter und Schließfächer voller Gold auf der ganzen Welt. Sicher, Kai machte sich einen Spaß daraus, mit einem Teil seines Vermögens riskant zu spekulieren (wobei er in der Regel noch reicher wurde), aber irgendwo ab einem Kontostand von 100 bis 200 Millionen Euro machte es keinen Unterschied mehr. Es ging immer nur nach oben. Es gab keine Schlacht mehr zu schlagen, nur noch auf der Rolltreppe ans Ende zu fahren. Zwischendurch konnte man sich annehmlich die Zeit mit Pelz, Maserati und Traumstränden vertreiben – oder eben unter Reetdach.

Kurz bevor das Kristallglas ihre mit Calvin-Klein-Rot bemalten Lippen berührte, ließ sie das Getränk vor Schreck fallen. Vor dem Fenster war ein Terrorist. Wie im Fernsehen sah er aus. Die ockerfarbene Haut, die schwarzen Haare, die Augen dunkel wie eine Leichengrube. Britta widerstand dem Drang zu Schreien, stieß aber, als sie hastig vom Fenster wegsprang, eine Keramikdose für Tee von der mit Granit belegten Küchenzeile. Der Mann mit dem südländischen Aussehen blickte verwundert durch das Fenster, sah aber nur noch den Hauch einer Bewegung an der Küchentür.

Britta hastete in die Wohnstube, das Gesicht verzerrt von dem Versuch, trotz Panik die Contenance zu behalten. Im Wohnzimmer saß Isabelle stocksteif auf einem kleinen Sessel, während Kai sich auf ein wuchtiges Samtsofa mit edlen, goldenen Stickereien gefläzt hatte. Das Hemd war ihm aus der Hose gerutscht und seine Wampe schaute heraus.

„Hey, Liebste, sieh dir das an“, sagte Kai und deutete auf den riesigen Plasmabildschirm.

„Das sieht doch aus wie diese Videoinstallation, die du in Stuttgart letztens so toll gefunden hast.“

Der Bildschirm zeigte über der dahinrasenden Nachrichtenzeile das Luftbild, das die Öffentlichkeit schaudern ließ: Ein Berliner Weihnachtsmarkt in der Nacht, eine Schneise geplatzter Glühweinstände, am Ende ein verkrümmter Lastwagen. Überall Blaulicht. Keine Menschen.

„Da ist ein Nafri im Garten“, stieß Britta hervor.

Kai und Isabelle blickten zu ihr herüber.

„Er ist im Garten, wir müssen die Polizei rufen.“

Brittas Stimme zitterte. Sie fürchtete, auf den Teppich zu pinkeln. Kai schaute zu seiner Schwester. Isabelle hatte kurz vergessen, Luft zu holen, und schaffte es dann, ihrem Dämmerzustand zu entfliehen:

„Das ist Abudi.“

Von diesem Satz breitete sich eine große Verständnislosigkeit im Raum aus. Kai verzog das Gesicht.

„Er ist ein syrischer Flüchtling. Wurde auf Sylt einquartiert. Mutter hat ihn eines Tages angeschleppt.“

Isabelle macht mit einer abweisenden Handbewegung deutlich, dass sie diese Aktion missbilligt hatte.

„Sie hatte vermutlich eine Tagesdosis zu wenig – oder zuviel – aber irgendwie hat sie diesen Typen gefunden oder er sie und sie hat ihn hergebracht.“

„Und was macht er hier?“, fragte Kai.

„Er legt im Garten Zeitschriften auf den Tisch oder lässt den Gartenschlauch liegen, anstatt ihn aufzurollen. Er hat auch schon am Tisch draußen gefrühstückt und dann alles stehen lassen“, sagt Isabelle.

„Ist er ihr Lover oder so was?“, fragt Britta unschön.

„Natürlich nicht. Dieses Haus steht ja die meiste Zeit leer und Mutter dachte, es wäre eine gute Idee, wenn es auch in den Zeiten, wo wir nicht hier sind, bewohnt aussieht. Du verstehst? Damit niemand denkt, es ist leer“, führte Isabelle aus.

Kai schien kurz darüber nachzudenken und diese Antwort zu akzeptieren, fragte aber dennoch:

„Darf er ins Haus?“

„Nein, er darf nur in den Garten. Mutter überwacht das sehr genau. Er schläft in seinem Flüchtlings-Container. Ein oder zweimal hat sie ihn zum Tee nach oben eingeladen. Ihr Herz ist einfach zu gut.“

Isabelle zeigte mit einem Finger an die Decke hinter einem großen Buchregal aus Teakbaum, wo sich erst beim genauen Hinsehen eine kleine schwarze Kugel offenbarte. Wie die Kameras in den Supermärkten und Kaufhäusern. Diese Information stellte Kai vollends zufrieden und er widmete sich wieder dem Nachrichtenprogramm.

„Warum ein Nafri?“, fragte Britta.

„Er ist aus Syrien. Du weißt? Da wo dieser Krieg mit diesen Typen in Schwarz und den langen Bärten ist. Mutter hatte da irgendwas von gelesen und wieder tagelang geweint. Sie hörte erst auf, als sie Abudi eingestellt hat. Aber erzähl das nicht rum. Ich glaube, er arbeitet hier schwarz.“

Auch Isabelle begann ihren Blick wieder tief in das flackernde Blaulicht auf dem Plasmaschirm zu versenken. Britta drehte sich auf dem Punkt um und ging zurück in die Empfangshalle. Von dort führte eine Treppe in das Obergeschoss, aber an der Seite dieser Treppe gab es eine Tür, die wiederum den Abstieg in die unterlegten Stockwerke freigab. Mit eiliger Ruhe ging Britta zwei Stockwerke tiefer, in den als nackte Backsteinröhre gebauten Weinkeller. Ohne den edlen Flaschen einen Blick zu schenken, ging sie in eins der anderen Zimmer auf der Ebene. Es war ein Arbeitszimmer mit einem riesigen Wandbild, das die Dünenlandschaft von Sylt zeigte. Es war von hinten beleuchtet, um auch hier – knapp zwei Meter unter der Erde – den Eindruck zu erzeugen, man könnte aus dem Fenster gucken. Britta schloss die Tür ab und setzte sich in den Bürostuhl. Sie entnahm dem Tisch einen Schreibblock und einen Bleistift. Dann begann sie Mickey und Mini Maus zu zeichnen. Ihr Atem wurde flacher.

3

Perle in der Auster, so nannte man einst den Kampener Nachtclub „Pony“. Normalerweise öffnete der Club seine Pforten für gelangweilte Millionärssöhne, gestraffte Stars und nimmermüde Lebemänner mit ihrem ganzen Nuttenanhang nur in der Saison von Mai bis September, aber an Weihnachten und Ostern gab es eine kleine Ausnahme.

Draußen, in der Nacht, peitschte ein leichter Sturm die Gischt an den Strand. Mit jedem Atemzug, den das Meer tat, spülten die Wellen ein Stück Land von der Insel hinaus in die See. Tagsüber versuchten Pumpschiffe die Zeit zurückzudrehen und spuckten Sand aus dem Meer wieder auf den Strand. Die Nordsee wird dieses Tauziehen irgendwann gewinnen. Es ist vorherbestimmt. Jedes Jahr griffen sich die Wellen ein Stück der Küste. Zu viel, um es mit Sand wieder aufzuschütten. Schon ganze Bunkeranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg waren so zuerst ans Tageslicht und später ins Meeresdunkel gezogen worden. Irgendwann würde der Durchbruch gelingen. Dann würden weite Teile von Sylt zu tief liegen. Nur für einen Teil der Insel bestand Hoffnung. Das Millionärsdorf Kampen steht auf einem Geestkern und dürfte den Untergang überleben. Man würde auf der Uwe-Düne stehen können, den Schampus köpfen und sich in behaglicher Sicherheit ansehen können, wie Westerland absäuft.

„Der da vorne, mit dem weit aufgeknöpften Hemd und dem weißen Sakko“, sagte Sascha.

„Wer?“, fragte Kai.

Er sah mindestens drei ältere und blondierte Herren, die ihre braungebrannte Brust zur Schau trugen. Weiße Sakkos gehörten zum guten Ton. Kai trug selbst ein maßgeschneidertes von Dolce und Gabbana.

„Ich meine den, mit der goldumrahmten Brille und den falschen Zähnen“, konkretisierte Sascha.

Kai entdeckte ihn. Er war von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet, hatte auch jenseits der 60 noch blondierte Haare und einen Mund voller Keramikzähne.

„Der ist ein Fake!“, bestimmte Sascha und entnahm dem Sektkübel die Ginflasche.

Seine Wurstfinger schlossen sich schwerlich um den Flaschenhals. Kai musterte den Mann, der offensichtlich schon ein paar Drinks hatte, wie er sich an HP-Baxter, den Frontmann von Scooter, vorbeidrängelte.

„Kann sein, muss aber nicht“, erwiderte Kai und hielt Sascha sein Glas hin, damit dieser ihm nachschenken konnte.

„Ich finde, er sieht fast aus wie der Besitzer.“

„Auf keinen Fall!“, widersprach Sascha, „Ferdinand hat schwarze Haare. Wie oft bist du eigentlich hier?“

„Die Frage ist, wie oft bin ich hier und kann mich daran erinnern?“, erwiderte Kai. Dann wieder zum Thema: „Im Ernst: Ich glaube, der ist wirklich reich. Der hat einen Pissfleck im Schritt. Der ist einfach nur ein bisschen übertrieben.“

Sascha ließ sich das Argument durch den Kopf gehen.

„Ja, nicht übel. Gut beobachtet Sherlock.“

Kai musste grinsen. Die Bescherung war grauenhaft steif gewesen. Britta hatte sich artig für den Schmuck bedankt und anschließend im Schlafzimmer versucht, ihm einen zu blasen, aber er war sich fast sicher, dass sie dabei auf die Uhr geguckt hatte. Er hatte es getan. Nichts war passiert. Ansonsten hatte seine Frau den ganzen Tag Disneyfilme geguckt und war kaum ansprechbar gewesen. Jetzt, im nahenden Vollrausch, fühlte Kai sich erwacht. Als wäre der Winterschlaf vorüber.

„Siehst du die Milchbubis dahinten?“, sagte er zu Sascha. Sein Kumpel blickte kurz in die Sitzgruppe, die Kai mit einem Kopfnicken adressierte.

„Ich glaube, die halten dich für Fake.“

Kai kicherte betrunken. Sascha blickte kurz unsicher an sich herab. Er trug einen dunklen Tom-Ford-Anzug für knapp 3.000 Euro. Der Leichtigkeit wegen kombiniert mit einem Paar Phillip-Plein-Schuhe für weitere 450 Tacken. Zugegeben, das war bei weitem nicht die teuerste Garderobe in dieser mit Reichtum verstopften Kaschemme, aber alles andere als Blendwerk. Er antwortete:

„Bin mir sicher, die glotzen dich an, weil du keine Haarimplantate hast.“

Kurz wurde Kai unsicher, dann fasste er sich wieder.

„Vielleicht mache ich das mal, wenn ich Zeit habe.“

Es herrschte ein kurzes Schweigen, in dem beide der Lounge-Musik lauschten, die das besinnliche Ambiente unterstrich. Die jugendliche Schnöselgang hatte sich wieder ihren Handys zugewendet.

„Ich glaube, an Weihnachten schleichen sich hier gar keine Blender ein“, sagte Sascha schließlich.

„Mmh“, murmelte Kai und meinte es als Zustimmung.

„Vielleicht“, hob Kai doch nochmal an, „vielleicht, ist er aber auch nur ein gut bezahlter Manager?“

Sascha sah Kai verblüfft an und zog die Stirn in Falten.

„Ja, das kann sein ... Einerseits dieser verzweifelte Drang dazuzugehören, auf der anderen Seite aber genug Geld, um hier mit Sicherheit aufzutreten. Nicht schlecht.“

Er hielt Kai seine Hand hin. Dieser schlug ein.

„So besitzlos wie ein Angestellter, aber dennoch reich genug, um hier ohne Taschenrechnerei einen Sektkübel zu bestellen.“

„Nicht arm, aber trotzdem armselig“, ergänzte Kai trocken. Dann lachten sie beide und bedeuteten der Bedienung, ihnen

eine neue Flasche Tonic zu bringen. Dabei funkelte der Edelstahl von Kais 10.000 Euro teuren Master-Geographic-Uhr im Diskokugellicht. Viele umliegende Gäste bestaunten das Funkeln aus den Augenwinkeln, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Die Rich Kids gegenüber schienen von der Demonstration beruhigt zu sein. Sascha griff das Gespräch wieder auf.

„Im Sommer war hier mal einer, der hat den ganzen Abend mit nur fünf Flaschen Becks verbracht. Also gerade mal 50 Euro! Und das Beste: Er trug ein Camp-David-Polo und versuchte so zu tun, als sei er Dieter Bohlen – ohne zu wissen, dass der die Scheiße auch nur vor der Kamera trägt.“

Kais Handy vibrierte. Er zog es kurz aus der Tasche und entsperrte den Bildschirm. Eine neue WhatsApp-Nachricht von seiner Schwester war eingegangen:

„Vater hatte einen Herzinfarkt. Es sieht nicht gut aus.“

Kai guckte irritiert auf den Bildschirm. Dann drückte er das Handy aus und wandte sich wieder an Sascha.

„Hat man ihn rausgeschmissen?“, fragte Kai.

Sascha verzog das Gesicht.

„Nee. Ferdinand meinte, dass er Angst hatte, die Situation könnte unangenehm werden, wenn er ihn rausbittet.“

Kai zog angewidert die Augenbrauen hoch.

„Un-fucking-fassbar ...“

Dabei dachte er an seinen Vater, wie er in einem Sarg lag.

„Jaaaa.“

Sascha zog das Wort sehr lang, um ihr gemeinsames Verständnis zu unterstreichen.

„Die Prolls trauen sich immer mehr. Sie hängen nicht mehr nur am Roten Cliff rum und werfen einen Geier-Blick auf die Porsches, jetzt trauen sie sich hier schon herein.“

Beide schüttelten synchron den Kopf und genossen die betrunkene Einmütigkeit.

„Lass mal kurz draußen eine rauchen“, schlug Sascha vor.

„Du rauchst wieder?“, fragte Kai.

„Seit es teurer geworden ist“, antworte Sascha und wendete sich in Richtung Ausgang.

Kai war überhaupt nicht danach, den Stehtisch zu verlassen, aber er folgte. Sie mussten sich durch eine Clique Hamburger Werbeagenturbesitzer, die alle die Haare streng zurück gegelt hatten, drängeln, bevor sie an der Außenbar ankamen. Unter weißen Regenschirmen hielten hier Heizstrahler die erlesene Kundschaft bei wohligen Temperaturen warm. Sascha zündete sich eine Zigarette an. Kai folgte seinem Vorbild. Ein junger Mann, der schon deutlich die Anzeichen wachsender Kahlheit zeigte, ging strahlend an ihnen vorüber. Kai dachte an die Glatze seines Vaters.

„Kennst du den?“, fragte Sascha irgendwie düster.

„Nee“, sagte Kai.

„Das ist der Sohn vom Besitzer. Er lässt ihn die Außenbar führen. So als wären das zwei getrennte Clubs. Vermutlich steht er die ganze Zeit nur im Weg und macht das Personal wahnsinnig.“

Kai blickte sich nach dem Personal um, er hatte seinen Drink drinnen stehen lassen. Seine Hand war merkwürdig leer. Er dachte an den Konferenzraum in der Firmenzentrale. An den Stuhl am Kopfende.

„Aber immerhin hat er etwas zu tun“, fügte Sascha im Selbstgespräch an.

Böswillige Gedanken an seinen Hollywood-Vater kamen auf, für den er nur ein Sexunfall war, der ihn ein paar Millionen in einem gerichtlichen Vergleich gekostet hatte. Im Grunde war Sascha im großen Schicksalsplan der Erdgeschichte nicht vorgesehen. Irgendwie war er aber reingekommen und als tröstende Abfindung mit einem dicken Bankkonto ausgestattet worden, mit dem er sich stilvoll totfeiern konnte.

„Ich habe auch nichts zu schaffen“, seufzte Kai und schnipste der Bedienung, die ihn und deswegen auch seinen Wunsch sofort erkannte.

„Du bist Firmenerbe!“, sagte Sascha ärgerlich, „deine Zeit wird kommen.“

Kai bekam einen Gin Tonic in die Hand gedrückt und spürte eine kleine Welle Glück.

„Vielleicht werde ich Schmuckdesigner“, brachte Sascha schließlich auf, „das machen viele und es geht nicht darum, wirklich zu designen, sondern vielmehr darum, Designer zu führen, ihnen eine Vision zu vermitteln.“

Verträumt zog er an seiner Zigarette. Kai überlegte, ob er mit dem Rauchen aufhören sollte. Dachte er an Zigaretten, sah er vor seinem inneren Auge immer häufiger adipöse Arbeitslose, die sich am Fliesentisch eine Tupperdose Kippen stopften.

Fetttriefende Dämonen aus der RTL2-Hölle.

„Vielleicht werde ich auch Schmuckdesigner“, sagte Kai als Scherz, behielt aber einen ernsten Ton.

Bis jetzt führte sein Vater den Gesellschafterkonzern. Kai besaß wie alle Familienmitglieder seinen kleinen Aktienanteil, aber bestimmen durfte nur Uwe. Nun würde die Zeit kommen, an die Enkel-Generation zu übergeben. Insgesamt fünf Sprösslinge. Kai träumte nur selten davon, durch eine der riesigen Stahlbauhallen zu gehen, in der verrußte Arbeiter in Schweißfunken standen. Doch wenn, wollte er dort entlanggehen, in der Gewissheit, mit einem Fingerschnippen den ganzen Laden an die Wand fahren zu können und tausende Familien mit ihren Kindern und Enkeln ins Unglück zu stürzen, die, solange er das nicht tat, dafür sorgten, dass jedes Jahr Millionen von Euro in die Schweiz wanderten.

Das Gefühl von Kaisern und Königen, dachte er, als sich plötzlich ein ehemaliger Partykönig zwischen die beiden Raucher warf. Ein Schwall Kotze spritze auf den Boden. Hustend wischte sich der feiste Mann den Mund mit seinem handbestickten Einstecktuch ab.

„Schnaps, das war sein letztes Wort! HAR HAR.“

Kai und Sascha sahen ihn erschrocken an, was der Betrunkene völlig ignorierte. Er schlug ihnen freundschaftlich auf die Schulter und ging wieder in den Club. Dabei lachte er wie der Weihnachtsmann auf seinem Todesflug. Alle anderen Gäste der Außenbar blickten pikiert herüber, taten aber so, als sei nichts passiert. Nach der Insolvenz und dem Prozess wegen Vergewaltigung war das Partykönig-Geschäft ein Trümmerhaufen, aber er hatte in den Jahrzehnten als Eventveranstalter so viele Ehen geschmiedet und dreckige Geheimnisse gesehen, dass er hochkarätige Gönner hatte, die ihn wie ein Maskottchen mit sich rumschleppten und abfüllten. Er war immer noch drinnen, obwohl er eigentlich draußen war. Kai hatte sich noch nicht vom Schock erholt, da zog Sascha seine weißen Sneaker aus und warf die Schuhe nach draußen auf die Straße.

„Ich glaube, da ist Kotze rangekommen. Ich trage die nicht mehr, wenn sie dreckig geworden sind.“

„Wie teuer sind Zigaretten eigentlich jetzt geworden?“, fragte Kai, aber Sascha antwortete nicht, sondern ging auf Socken zurück in den Club. Sein Tripper juckte.

4

Der Gastgeber (irgendein Hotelerbe mit Namen Stefano), hatte sich wahrlich Mühe gegeben, seiner New Yorker Silvesterfeier Extravaganz zu verleihen. Zwischen den in Eierschalenfarben gestrichenen Wänden stand auf dem alpinweißem Teppich ein ebenfalls weißes Pferd und trug den schwitzenden Kellner durch die Räume, des für Millionärskreise bescheidenen Appartements im 60. Stock des Trump Tower. Es war dem Kellner zwar unmöglich, den Gästen das Tablett mit den Speisen zu reichen, aber extravagant sah es aus.

Stefano war nicht zufrieden. Er versuchte seit einigen Jahren seine nichtsnutzige Existenz damit aufzuwerten, der erste männliche „It-Boy“ zu werden. Aber zu dieser absurden Feier waren keine Boulevardjournalisten erschienen. Nur einige verarmte Fashion-Blogger stopften sich am Büffet die Taschen voll. Unwirsch beäugt von der ansonsten erlauchten Gästeschar aus Reichen und Promis. Kai war unzufrieden. Die Feier war grundsätzlich geeignet in Erinnerung zu bleiben, aber der beiläufige Satz eines anderen Gastes hatte ihn in eine Krise gestürzt:

„Marrakesch ist jetzt total hip. Tom Cruise und Ronaldo sind dieses Jahr dort.“

Er war mal wieder zur falschen Zeit am falschen Ort. Sicher, New York war zeitloser Silvesterspaß. Besonders in einem Appartement vollgestopft mit der feierwütigsten Oberschicht, aber zugleich war Kai sich der Zweitklassigkeit bewusst. In Marokko feierte der Weltfußballer mit einem der größten Hollywoodstars im Schein von arabischen Glitzernächten und er stand an einer übergroßen Zimmerpalme, roch Pferdearsch und beobachtete einen abgehalfterten Schriftsteller, wie er auf einen blutjungen Kellner starrte und heimlich masturbierte. In einer anderen Ecke saß ein europäischer Prinz, versunken in einem antiken Sessel, und versuchte ein Glas Whiskey auf seinem royalen Bauchfett zu balancieren. Dazwischen dieses Pferd, das jeden Moment durchdrehen und eine der austauschbaren Millionärsgattinnen tot trampeln konnte. Das Glas wackelte auf dem Monarchenbauch, das Pferd kackte auf den Teppich (ein Diener entfernte den Haufen diskret und besprühte alles mit Paco Rabanne) und die Hand eines ehemaligen Skandalschriftstellers wühlte sich durch dessen Hose, wie durch einen Sack Murmeln – das war Kais Silvester 2016.

Britta kam zu ihm herüber. In der Hand zwei Gläser Champagner. Kai griff zu und spülte den Frust hinunter. Noch 0,5 Promille und die Welt bekäme einen besseren Anstrich. Britta lächelte und nach einer kleinen Weile spürte er wieder diese merkwürdige Liebe zu ihr aufkommen. Diese Liebe kam immer wie eine Welle am Strand. Er sah sie warm auf sich zurollen, wurde völlig umschlungen und trieb halb aufs Meer raus, bevor er sich wieder fangen konnte. Bis heute hatte er es nicht verstanden, aber irgendwie machte Britta, dieses mittelmäßige Mädchen, ihn glücklich. Zumindest für eine kurze Weile. Das war mehr, als so viel anderes Nutzloses. Dennoch ließ er sie stehen und mischte sich unter einige Investmentbanker, die alle mit ihren Hosenträger-Outfits Michael Douglas aus dem Film „Wall Street“ in den 80ern nacheiferten. Kai fühlte sich überall willkommen und den Menschen zugeneigt. So bewegte er sich ganz natürlich in die fremde Gruppe, die ansonsten – wie auf dem Schulhof – unter sich blieb. Ein paar Gesichter kannte er aber auch schon.

„Kunst oder Rotwein?“, fragte einer.

„Wenn du große Summen schnell waschen willst, dann Kunst. Wenn du Zeit hast und keine Aufmerksamkeit willst, leg eine Weinsammlung an“, antwortete ein Anderer.

„Aber ist die Weinsammlerszene nicht viel zu klein?“, sagte ein Dritter.

„Nein“, antwortete der Vierte, „nur nicht so öffentlichkeitssüchtig.“

„Wenn ich Wein höre, muss ich immer daran denken, wie ich bei diesem französischem Schauspieler auf dem Weingut war. Er fuhr mit mir auf einem klapprigen Mofa durch die Weinreben und wollte mich überzeugen, eine Handvoll Erde in den Mund zu nehmen, um zu schmecken, wie fruchtbar der Boden sei. Da hatte er schon eine ganze Flasche Pernod getrunken. Als ich wieder in Moskau war, habe ich meinem Klienten den Teil der Geschichte verschwiegen“, sagte wieder der Erste und alle mussten ernsthaft lachen.

Kai stimmte selbstverständlich mit ein. Einer der vier musterte ihn.

„Gentlemen, wir haben einen Stahltycoon in unserer Mitte.“

Kai bemerkte den zynischen Ton, aber fühlte sich dennoch geschmeichelt. Ein zweiter musterte ihn und nickte dann:

„Familie Brommel?“

„Darauf trinke ich!“, sagte Kai, leerte sein Glas und warf es an die Wand hinter sich.

Ein Fashion-Blogger schreckte auf, lachte dann aber hysterisch.

„Für Sie hätte ich zahlreiche Investoren, denen ich nichts vormachen müsste. Alle würden sofort Aktien zeichnen“, führte der Zweite fort.

Kai lachte und antwortete: „Bevor die Familie ihre Aktien aus der Hand gibt, wird der Papst evangelisch.“

„Das ist die Haltung von Uwe Brommel. Ist das auch die Haltung der ganzen Familie?“, fragte der Dritte.

Kai sah ihn starr an.

„Es ist Uwes Haltung.“

Alle vier nickten.

„Ein sturer Knochen vom alten Schlag. Immer die kleinen Schritte, immer alles in der eigenen Hand“, sagte einer.

„Das hat uns reich gemacht“, erwiderte Kai.

Mit Lust beobachtete er die Schmerzen der Broker. Sicher, die meisten würden vielleicht zwei, vielleicht vier Millionen Boni kassieren, aber an den Reichtum einer echten Industriellenfamilie würden sie nie heranreichen. Diese Brut zehrte ihre Energie aus dem Traum einmal wirklich besitzend sein zu können. Bis dahin lasen sie Netzwerker-Zeitschriften, um ja jeden wichtigen Namen zu kennen. Die Forbes-Liste der reichsten Männer war ihre Wichsvorlage und sie waren immer auf der Suche nach diesem einen kleinen Vorsprung, der ihnen den Hauptgewinn bringen konnte. Es mag wie eine beiläufige Bemerkung geklungen haben, aber natürlich hatten sie sein reiches Blut gerochen und umflogen ihn wie eine Horde blutsaugender Fledermäuse. Vielleicht würde dem betrunkenen Milliardenerben ja ein entscheidendes Geschäftsgeheimnis rausplumpsen?

Nützliche Idioten, dachte Kai. Solange du nach Geld stinkst und dir regelmäßig mal ein Bündel davon aus der Tasche fällt, würden sie sich, vor ihrer Freundin (!), von dir in den Arsch ficken lassen.

„Aber vielleicht würde ich das anders machen, wenn ich am Ruder wäre“, ließ Kai verträumt fallen, um ihre Gier zum Kochen zu bringen.

Der Brommel-Konzern und seine vielen untergliederten GmbHs wären ein Eldorado für jeden kurzsichtigen Glücksritter. Es war ein gewaltiges Buffet, das man zerschlagen konnte, um es in teuren Einzelgerichten der hungrigen Investorenmeute zum Fraß vorzuwerfen. Und jedes Mal würde der Kaufpreis eine bescheidene siebenstellige Provision beinhalten.

„Und wann wird das Ruder frei?“, fragte der Dritte.

„Bleiben wir doch in Kontakt.“

Kai händigte allen Vieren seine Visitenkarte aus, wohl wissend, dass in diesem Augenblick ein erbarmungsloser Konkurrenzkampf um seine Gunst starten würde. Natürlich ließ sich niemand etwas anmerken. Alle steckten die Visitenkarte in ihre mit Kreditkarten überfüllten Portemonnaies und bedankten sich mit einem schmalen Lächeln. In jenem Moment – es war noch eine halbe Stunde bis Mitternacht – begann Stefano, den Teppich seiner Wohnung kreischend vom Boden zu reißen.

„Hinaus mit der Pferdedecke, hinaus!“

Wie ein wild gewordener Entrümpler warf er Blumenvasen und Stühle um, während er mit unbändiger Kraft Stück für Stück den Teppich emporriss. Die Wall-Street-Kids verdrückten sich auf die Toilette zum Koksen und der dicke Prinz schlich sich zum Ausgang. Allen war klar, was gerade passierte: Im Übermut wirkten die Drogen, die der Hotelerbe genommen hatte, einfach prächtig. Wer in solcher Stunde keinen Freund hatte, der nüchtern das Schlimmste verhinderte, endete im Wahn. Kai wie auch die Fashion-Blogger (von denen einer sich mittlerweile selbst überzeugt hatte, auf Food-Blogger umzusteigen, um derartigen Wahnsinn nicht mehr ertragen zu müssen) beobachten die Szene ebenso gelassen, wie die meisten anderen Gäste. Interessant wurde es, als ein Diener angewiesen wurde, die Ecke, die sich in mühevoller Arbeit vom Boden getrennt hatte, mit einer Haushaltsschere abzuschneiden. Wie ein althergebrachtes Ritual übergab der ausdruckslose Bedienstete seinem Chef den Teppichfetzen und entfernte sich unauffällig. War wahrscheinlich noch nicht der wildeste Abend in seiner Karriere gewesen. Mit einer Zufriedenheit, die eigentlich nur Kinder haben konnten, warf Barron den teuren Stoff aus dem Fenster. Er hatte ein Ergebnis produziert. Alleine. Aus eigener Kraft.

„Flieg Pferdedecke, flieg!“

Kai empfand derweil eine große Liebe zu allen Menschen, die sich gerade in diesen Räumen befanden. Sogar das Pferd war wunderschön, seine Flatulenzen von hypnotischem Klang. Kai verfiel in eine hingebungsvolle Stimmung. Alles war möglich, kein Gedanke wurde verworfen. Zwei Dinge tat er, um diesen Zustand auszukosten:

1. Er textete seinem Chauffeur und auch der Crew des gecharterten Privatjets: Er wollte umgehend zum JFK-Airport, um von dort dem Silvester in den Zeitzonen hinterherzufliegen. Großartige Ideen mussten sofort umgesetzt werden. John Travolta hatte so was mal getan. Das fiel ihm jetzt ein.

Erst jetzt, verdammt!

2. Er öffnete die Amazon-App und kaufte alles, was der Algorithmus ihm empfahl. Betrunken einkaufen steigerte seine Glücksgefühle. Dabei war es unwichtig, was er kaufte und wie teuer es war. Ein weiterer Kick folgte, wenn er dann in irgendeiner seiner Eigentumswohnungen die ganzen Pakete präsentiert bekam und sie wie Wundertüten aufriss. Schließlich hatte er längst keine Ahnung mehr, was in ihnen war.

An diesem Silvesterabend kaufte er ein T-Shirt mit dem Spruch „Eure Armut kotzt mich an“, eine Biografie von Bill Clinton, das Buch „Die Zelle“ über die Naziterroristen vom NSU, einen Handstaubsauger, eine Skimaske, die DVD „Black Anal Mayhem“. Außerdem suchte er in einem kurzen Anfall von Genialität bei Youporn den Begriff „Nafri“, fand aber nichts. Plötzlich stand Britta vor ihm und er wollte vor lauter Liebe zerschmelzen. Er wollte sogar weinen, konnte es aber nicht.

„Was ist los, wem schreibst du so aufgeregt?“, fragte sie.

„Wir müssen los. Die Wichtigen sind auch schon weg“, antwortete Kai.

Dann küsste er Britta heftig auf den Mund. Sie erstarrte für einen Moment, ließ es sich dann aber gefallen. Die Wall-Steet-Kids gingen an ihnen vorüber. Nummer Zwei sah auffallend intensiv zu Britta herüber. Die Gruppe unterhielt sich jetzt über die Chancen von TTIP.

„Einer von denen kam vorhin zu mir herüber und gab mir seine Visitenkarte“, sagte Britta.

Das ist der Kluge, dachte Kai und küsste Britta wieder.

Er wollte sie am liebsten in einen Wandschrank zerren und ablecken. Es könnten andere zusehen und sich dabei wichsen, aber er wollte sie als Leckstein missbrauchen. Sie bemerkte seine Erektion und lächelte zufrieden.

„Lass uns gehen“, schlug sie vor.

Seltene Gelegenheiten sind sofort zu nutzen.

„Die Limousine steht schon unten“, sagte Kai und sie gingen zur Tür.

Draußen startete der Raketenreigen, wodurch das Pferd in Raserei geriet, gegen eine Wand rannte und ohnmächtig auf ein dürres Model stürzte. Am nächsten Tag sollte auf einem neuen Foodblog ein Artikel über alte Canapé als bestes Katermittel erscheinen. Vice Magazin würde den Artikel kaufen und eine Woche später noch mal veröffentlichen. Barron wurde darin nicht erwähnt. Er bestellte sich einen neuen Teppich und betrat die Wohnung nie wieder.

Kai hatte seine abendliche Vision aufgegeben müssen. Er hatte auf der Rückbank des Rolls-Royce Britta gefingert, als sie es irgendwie schafften, Manhattan zu verlassen. Der Chauffeur hatte mehrfach vorsichtig darauf hingewiesen, am Flugfeld konnte Kai nicht abheben. Seine Crew hatte keine Bereitschaft gehabt und war nicht zu erreichen gewesen. In einem Wutanfall fragte Kai im VIP-Bereich, ob der Flughafen etwa „keine verschissenen Notfallpiloten hat, um – sagen wir mal – ein Spenderherz zu transportieren?!“

Seine Ausfälle waren mit einem kühlen Lächeln quittiert worden. Schließlich hatte er aufgegeben. Das Einzige, was der Wahn der Nacht dem nüchternen Tag hatte abtrotzen können, war die Swimming-Pool-Idee.

Für lächerliche 600 Dollar hatte Kai die Schwimmhalle im Sportspark auf der Mainstreet für vier Stunden gemietet. Dort schwamm er an Neujahr sanft rücklings auf und ab und sah seinen Gedanken zu, die wie Luftballons an die Decke schwebten und sich dort sammelten. Er versuchte sich selbst Mut zu machen, um die postnarkotischen Depressionen zu vertreiben. Die Gedanken an den großen Durst in ihm. Dem Durst der alles in ein schwarzes Loch spülte und nichts als Vernichtung kannte.

Er war ein toller Typ. Schwerreich ohnehin, aber auch voller Fachwissen über Modetrends, Luxusmarken und teure Autos. Er konnte jeden Smalltalk mühelos bestehen. Letzte Nacht hatte er es sogar fast geschafft, seine Frau zu penetrieren. Sein Schwanz kann also doch, wenn er wollte. Vielleicht.

Britta beobachtete seinen bleichen Körper, der wie eine rasierte, tote Robbe im Wasser trieb. Die Rosenblätter, die er vorher noch ins Wasser hatte streuen lassen, wirkten wie Laub. Aber Kai war ein bisschen glücklich. Die Ohren unter Wasser, glaubte er die Weltmaschine im Erdkern schnaufen zu hören. Dieses gedämpfte Rauschen ließ ihn an das Schicksal glauben. Daran, dass er sich keine Sorgen machen müsste. Er konnte in die Schweiz fliegen und einfach teilnahmslos zusehen, was das Schicksal ihm servierte. Er brauchte sich nicht nervös zu machen, brauchte niemanden etwas zu beweisen. Entweder der Weltgeist hatte ihn auf der Rechnung oder er würde sich halt auf diesem mit verwahrlosten Gestalten überfüllten Planeten zugrunde richten. So oder so kein schlechtes Leben.

Eigentlich hatte ich immer Künstler werden wollen. Eigentlich war das aber natürlich total unmöglich. Ich weiß nicht mehr wie, aber mir war die Geschichte von einem Filmemacher begegnet, der im Alter von acht Jahren seinen ersten Super-8 Film gedreht hatte. Ich fand das toll. Man musste sich nicht beschränken, nur weil man noch ein Kind war. Man konnte etwas erschaffen. Die Frage auf alles ist: Warum nicht?

Naja, warum nicht? Weil man in der Familie Brommel nicht zum Künstler geboren wird. Es war eines der seltenen Abendessen gewesen, wo wir mit Vater gemeinsam aßen. Er ließ sich das sonst kaum im Kalender blocken. Wir aßen öfters mit Mutter, aber in der Regel mit der Nanny. Sie war die einzige vom Personal, die sich mit an den großen Eichentisch setzen durfte, der das Esszimmer ausfüllte. Schade, dass sie nach ihrer Kündigung noch so einen Terz gemacht hat, ich würde ihr gerne mal eine Postkarte schreiben.

Ich war damals elf Jahre. Der Filmemacher war mir den ganzen Tag durch den Kopf gespukt. Seine Tatkraft. Etwas einfach machen. Mich interessierte auch die Inszenierung. Ich hatte Lust den Alltag zu sezieren und kleinste Szenen in Slow-Motion auszubreiten. Ich stellte mir eine Szene vor, in der ich versuchte, verschiedene Sachen zu tun. An den Kühlschrank zu gehen, ein Glas Saft zu holen. Die Fernbedienung fürs Heimkino-System vom Glastisch zu nehmen. Eine Gießkanne aus der Kammer in der Küche zu nehmen, um die Pflanzen zu gießen. Und immer, eine Sekunde bevor sich meine Hand um den Henkel, die Bedienung, den Griff schloss, schoss von der Seite eine andere Hand heran und übernahm das für mich. Ich war so überzeugt von der Idee und deswegen auch von meiner Zukunft als Filmemacher. Ich guckte auch einfach viel Fernsehen.

Jedenfalls bin ich an diesem Abend zu meinem Vater. Er saß schon am Tisch. Die anderen waren dabei, Platz zu nehmen. Ich wollte eine intime Sekunde für mich abknapsen und bin zu ihm hin. Habe ihn um einen Moment seiner Aufmerksamkeit gebeten und gesagt:

„Herr Vater, ich will Filmemacher werden.“

Noch bevor ich den Satz zu Ende sprach, war mir klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Der alte Sack löste sich wirklich vom Tisch und schenkte mir seine ganze Aufmerksamkeit. Seine blauen Augen rasierten meinen Körper. Am liebsten hätte ich die Worte wieder eingefangen und zurück in den Korb mit den ungesagten Sachen gepackt. Jetzt waren sie gesprochen und sie wirkten. Nach einer ganzen Weile nahm mein Vater meine Arme in seine großen behaarten Hände.

„Versuchst du mir zu sagen, dass du schwul bist?“

Ich wurde supernervös. Schlechte Vorbereitung ist das Schlimmste. Natürlich stritt ich das ab. War ja auch nicht so. Sexualität interessierte mich gar nicht. Mich interessierte der Film. Er ließ es dann erst mal gut sein. Aber wenn man sich am Herd verbrennt, macht man auch erst mal einen Bogen um die Küche. Ich ließ das Thema ruhen und bemühte mich Wenn man der Jüngste ist, hat man es eh schon nicht so leicht.

Jahre später kam der Moment, als es um die Frage der akademischen Bildung ging. War ja selbstverständlich. Erst das Abitur, dann das Diplom. Da ist meine Familie sehr eingefahren. Ökonomische Studien stehen im Fokus. Naturwissenschaft geht auch noch.

„Geld verdient sich nicht von selbst“, hat mein Vater immer gesagt und dementsprechend ging es nie um einen humanistischen Bildungsansatz, sondern um eine klare Kosten-Nutzen-Rechnung.

Ob wir mal die Firma übernehmen würden oder nicht, war gar nicht das Thema. Das Thema war, dass wir keine Gammler sind, die sich in nutzlosen Gedanken verlieren. Wir sind Pragmatiker, die wissen wie das Leben läuft. Realpolitik auf allen Ebenen sozusagen.

Der Kloß in meinem Hals war ein Kropf. Ich bekam keine Luft, als ich meinem Vater, er saß in seiner Korrespondenz versunken am kleinen Schreibtisch in der Bibliothek, sagte, dass ich gerne auf die Filmhochschule wolle. Er zog wieder sein Ding ab. Erst besah er mich von oben bis unten, als kenne er mich gar nicht. Dann, wenn man schon total weich und schwach ist, kam sein Urteil:

„Nein.“

Einfach Nein. Er diskutierte nicht mal mit mir. Er wollte auch nicht wissen, was mich dazu trieb und was meine Vision war. Es war ja nun wirklich nicht so, als ließe sich mit Film kein Geld verdienen. Im Gegenteil, wenn man sich heute anguckt, wie der Film auch die Napster- und Megaupload-Krise überstanden hat. In bewegten Bildern steckte so viel Kohle, aber auch so viel Ausdruck. Man konnte den Menschen wirklich etwas zeigen. Nicht zwei oder drei – einem MILLIONEN publikum. Mein Vater hatte über diese Sicht gelacht.

„Du Idiot, die, die wirklich Geld verdienen, sind die Produzenten und nicht die Regisseure.“

„Dann werde ich Produzent!“

Aber weiter:

„Nein.“

Und ich:

„Doch!“

Das war eine echte Krise. Es wurde ein Psychoanalytiker gerufen, der ergründen sollte, wie man meine Depressionen heilen konnte. Zugleich wurde ich gegen meinen Willen in Volkswirtschaftslehre eingeschrieben. Zum Glück ging ich aber gar nicht hin, sondern beschäftigte mich mit meinen Depressionen. Und ein noch größeres Glück war, dass dieser bärtige Hippie, mein Therapeut, ein engagierter Mann war. Er versuchte nicht, für meinen Vater die Drecksarbeit zu machen. Nach einem halben Jahr Gesprächstherapie, legte er eines Tages den Schreibblock beiseite und sagte mir, dass er mit meinem Vater reden wollte. Er kam dann auch nicht mehr wieder, aber seine letzte Tat musste heldenhaft gewesen sein: Es wurde mir gestattet. Mein Vater gab nach. Er redete mit mir nicht darüber, aber eines Tages lag auf meinen Bett ein Brief, in dem er mir in knappen Zeilen schrieb, dass er von mir erwarte, besonders die ökonomischen Aspekte des Filmhandwerkes zu erlernen und mich nicht in „Schöngeisterei“ zu verlieren. So hat er es genannt: „Schöngeisterei“. In den Worten lag noch ein wenig Hoffnung, dass ich mein Leben, die Gnade meiner Geburt, nicht völlig in den Wind schießen würde, aber eigentlich war die Hoffnung tot.

Die Schlacht war gewonnen. Der Preis war verbrannte Erde. Seitdem bin ich für meinen Vater ein undurchsichtiger Typ. Ein Alien, den man nicht verstehen kann. Ich bin mir sicher, es war der Funken Liebe, den jeder Vater für seine Kinder empfindet, der mich von der Kette ließ und zugleich war es die Enttäuschung des grimmigen Klotzes, die mir dafür als Fels auf die Schultern gelegt wurde.

Meine Zensuren waren durchschnittlich bis schlecht. Ich fand mich an der Filmhochschule einfach nicht zurecht. Die anderen Studenten waren von ganz unterschiedlicher Herkunft. Teilweise bitterarme Typen, die in unrenovierten Altbauten hausten, um sich das Studium leisten zu können. An den Schulen zuvor fand ich mich besser zurecht. Es gab einfache Regeln zu beachten, um sich zu behaupten: Die neuesten Klamotten tragen, ein teures Auto fahren. Im Zweifel halfen immer Gucci, Prada, Dior. Da wo die Zensuren kurz wegsackten, halfen Nachhilfelehrer. Beim Film funktionierte das irgendwie anders. Die abgerissenen Leute konnten ganz groß sein, wenn ihr Kurzfilm einschlug. Sie bekamen Applaus und standen da in der Kleidung von Bettlern, hatten keinen schönen Habitus. Das schlimmste: Ich konnte nie ein Muster erkennen, wodurch ein Werk bei den Dozenten gefeiert wurde und warum nicht. Billigste Machwerke wurden in den Himmel gelobt und wenn ich sogar mit professionellen Schauspielern drehte, wurde der Einsatz überhaupt nicht wertgeschätzt.

Ich war ein richtiger Außenseiter. Es gab dort keine Freunde für mich. Nicht, dass ich mich nach den Leuten da verzehrt hätte. Die hatten einfach keinen Stil. Scheiß auf ihren Dilettantismus-Fetisch!

Das Bitterste zum Schluss: Als Abschlusswerk reichte ich den Film ein, den ich schon mit elf hatte drehen wollen. Eine Slow-Motion-Opera über die Unmöglichkeit die banalsten Dinge zu tun. Neueste Technik, eigener Kameramann, echte Schauspieler. Selten war ich so stolz gewesen. Die Prüfer sahen es an und zogen sich ausdruckslos zu Beratungen zurück. Als sie zurückkamen, traf mich der subtile Pfeil des ersten Satzes mit voller Wucht:

„Nun Herr Brommel, das ist zumindest ihr bestes Werk bisher.“

Das war es dann gewesen. Film war tot für mich. Mein Talent würde unerkannt versickern. Ich war so was von durch damit. Ich bin kein Sklave einer Welt, die sich nicht für mich interessiert. Diese ganzen eitlen Fotzen. Das war nur die Boshaftigkeit ihrer mittelmäßigen Hochschule.

Ich fügte einen schnellen Bachelor in BWL an, um meinen Vater zu besänftigen und setzte noch ein paar Praktika in Managementabteilungen internationaler Konzerne drauf. Dort wurde ich schon aufgrund meines Namens mit offenen Armen empfangen. Da war man nicht so verschlossen und missgünstig. Machte dort aber nur langweiligen Shit. So funktioniert vielleicht das Gleichgewicht des Lebens. Wenn du dich gegen dein Schicksal wehrst, tauchst du deine Füße in Beton, gehst du hingegen deinen vorgesehenen Pfad, dann wachsen dir Flügel.

„Schatz, ich würde gerne mit ein paar Freundinnen shoppen gehen“, rief Britta vom Beckenrand.

„Nimm die Centurion von AmEx“, rief Kai zurück.

Es war seine beste Kreditkarte. Sie war aus Platin gefertigt und wurde nur auf persönliche Empfehlung ausgegeben. Sie setzte einen sechsstelligen Jahresumsatz voraus und bot dafür allerhand Extras. Mit dieser Karte bekam man für das ausverkaufte Madonna-Konzert noch ein Ticket und im ausgebuchten Restaurant einen Tisch. Es war seine „Ich liebe dich“-Karte. Obgleich er im Moment nur wollte, dass Britta verschwand, ohne viel Aufhebens zu machen. Die Karte schaffte auch das. Britta entnahm sie seinem Portemonnaie und verschwand im Dickicht von Manhattans Edelboutiquen.

5

Eine Woche später war das Ehepaar Brommel nach Los Angeles geflogen. Eines Morgens erwachte Britta von einem Kratzen an ihrer Hotelsuitetür im Waldorf Astoria in Beverly Hills und öffnete. Wie ein betrunkener Hund war Kai im Flur gekrabbelt und schien nicht nur verdreckt und betrunken, sondern kaum noch Herr seiner Sinne.

„Was hast du denn gemacht?“, fragte sie so erschrocken, wie sie trotz frisch mit Botox gefülltem Gesicht sein konnte.

„Der ultimative Zeus ist schuld!“, jaulte Kai.

Angefangen hatte der vorherige Tag mit einem leichten Cesar Salad zu einer Flasche Rosé im Ivy auf der Robertson Avenue. Für diesen Salat war Kai mit Britta (die sich zu der Zeit aber lieber beim Schönheitschirurgen beraten ließ) eigentlich nach Los Angeles geflogen. Für einen Salat mit Gesellschaft: Kai gegenüber saß Roberta Williams. Sie war die Tochter eines Hollywoodstars und hatte das Geld ihres Vaters – neben den üblichen Eskapaden, die in der Stadt der koksweißen Engel warteten – auch ein bisschen Immobilienbesitz angehäuft. Kai hoffte auf ein Schnäppchen in den Hills, wenn er den halben Tag mit ihr trank. Er hatte die Vision seinen Geburtstag nächstes Jahr in einer Villa in den Hollywood-Hügeln zu feiern und alle Gäste auf einem Elefanten willkommen zu heißen. Dann wollte er die Villa mit Gewinn wieder verkaufen. So eine Vision war arbeitsaufwändig. Oft plante er seinen Geburtstag mehrere Monate im Voraus. Es war schön, weil dabei viel tote Zeit davonflog. So wie viele einmal im Leben ihre Hochzeit planten, so plante Kai jedes Jahr seinen Geburtstag.

Roberta hatte erzählt, dass ein berühmter Sänger im „1 OAK“ ein Spontankonzert gegeben habe und weil sich der Restalkohol in ihren Venen freudig mit dem Rosé mischte, erzählte sie auch kichernd davon, seinen Bizeps geküsst zu haben. Kai interessierte das nicht, war jedoch froh, dass er ihren Promillegehalt nicht von null an hochtreiben musste. Nach der dritten Flasche Rosé und einer aufmunternden Line Speed auf der Toilette, fingen sie an, der Sache näher zu kommen.

„Ich habe gerade einen prominenten Kunden in den Hills. Natürlich sagt er es nicht so, aber mein Assistent meinte, er sei sehr verzweifelt und brauche dringend Geld. Ich wette, es geht um Heroin. Wenn sie auf Heroin oder Crack kommen, geht es ein paar Jahre gut. Sie hören auf zu arbeiten, verschanzen sich immer mehr in ihrer Villa und spritzen sich das Konto leer. Meistens kommt ja dann auch wer und schleift sie in die Betty Ford Klinik. Der Plattenmanager oder ihre Stammhure. Aber wenn sie nicht mehr genug Geld für Freunde haben, dann suchen sie irgendwann nach einem Makler“, erläuterte Williams ihr Geschäftsmodell.

Sie war eine Sucherin, die nachts durch die exklusivsten Ecken von L.A. streifte, um den Zugedröhnten ihre Visitenkarte zu geben. Ihr Name und ihr Geld war der Zutritt, um an diesem Wasserloch saufen zu können. Kai schlug sofort zu.

„Das ist ja spannend. Ich suche gerade noch ein kleines Häuschen in L.A. Ich habe die Hotels satt. Ich brauche es privater.“

Roberta blinzelte ihn abschätzend an. Während ihr Spürsinn arbeitete, gefror ihr Lächeln. Dann ergab die Gleichung einen Sinn und ihre Augen leuchteten voll Euphorie. Sie nahm ihr Handy aus der Krokodilledertasche – ein Accessoire, das in Kais Augen aber ihre überlegene Klasse unterstrich (ein Hauch Kolonialistin) – und tippte flink eine WhatsApp-Nachricht.

„Du bezahlst die Rechnung. Ich lasse den Wagen vorfahren, dann sehen wir uns ein Haus an“, sagte sie schrill.

In den Hügeln über Los Angeles stehen einige der komfortabelsten Villen einiger der prominentesten Menschen dieses Erdballs. Zugleich ist das Gebiet nicht vollständig domestiziert. Kojoten streifen durch die staubigen Büsche. Ein Hauch von Wildwest mit Blick auf die L.A.-Smogglocke. Neben Assistenten und Haushältern sind vor allem Touristen auf dem Mulholand Drive unterwegs. Sie wollen den Schatten echten Reichtums spüren. Oft werden sie enttäuscht, weil sich die Villen hinter sperrigen Einfahrten verbergen, die keinen geraden Blick zulassen. Kai bekam den Wagen (trotz Promille) in eine solche Einfahrt gesteuert. Auf den weißen Bungalow mit römischen Marmorfiguren, Kakteengarten und Infinitypool blickend, bekam er eine sanfte Lust, Geld auszugeben. Er war sich sicher, er konnte Roberta bei einem Spontankauf auf eine lächerliche Provision runterhandeln. Cash per Sofortüberweisung und alle waren glücklich.

Roberta klingelte und Kai traute seinen Augen nicht. Der ultimative Zeus, eine Wrestlinglegende aus den 90ern, öffnete die Tür. Ein Mann gezeichnet von Weltruhm und Profisport. Cremegebräunte Haut, blondierte Haare, eingefallene Wangen, gebeugter Stand – das ganze garniert durch ein Tank-Top, auf dem er selbst geprintet war. Unten eine Militärhose. Eigentlich eine lächerliche Imitation eines Bikers, wenn es nicht der Zeus höchstpersönlich wäre. Souverän stellte sich Roberta als seine neue Maklerin vor und Zeus akzeptierte das umstandslos.

„Und das ist dein Assistent?“, fragte Zeus und zeigte mit zittrigem Finger auf Kai.

Wut brannte hinter dessen Stirn.

„Nein, mein Assistent hat mir gesagt, es wäre ein durchaus ... – wie soll ich es sagen? Ein Anliegen, für das du nicht viel Zeit hättest. Da habe ich gleich einen Interessenten mitgebracht.“

„Kai Brommel“, sagte Kai und hielt Zeus seine Hand hin.

„Mmh“, grunzte Zeus – ohne die Hand zu ergreifen.

Er trat beiseite, um anzuzeigen, dass sie eintreten durften.

Ohne eine Spur von Zurückhaltung begann Kai durch das Haus zu laufen. Jeden Normalsterblichen hätte das Anwesen in Staunen versetzt. Kai empfand es als gewöhnlich. Es war alles vorhanden, was man als Basisausstattung bezeichnen konnte: Große Wohnküche mit riesiger Kochinsel (natürlich fast unbenutzt), Heimkino mit (gerade einmal) 20 Sitzen, ein riesiges Wohnzimmer mit eingelassener Sitzgruppe und dem Zugang zur Terrasse – wo man vom Infinitypool zumindest einen kleinen Ausschnitt von Los Angeles bewundern konnte. Um sich nicht völlig zu vergreifen, googelte Kai kurz Durchschnittspreise, dann ging er zu Zeus und Roberta, die gerade dabei waren, einen Drink an der Poolbar zu mixen.

„Ich nehme es. Drei Millionen per Direktüberweisung. Eingangsbestätigung noch heute. 10 Prozent Provision. Es bleibt alles drinnen: alle Möbel, Fitnessgeräte und auch die Wrestlinggürtel, die im Wohnzimmer an der Wand hängen. Unterhosen und so ein Scheiß kann Mister Zeus natürlich mitnehmen, aber ohne das Ganze ist es nur ein langweiliger Betonbunker in den Hills. Mit den Sachen ist es ein Liebhaberstück.“

Der alte Wrestlingstar hätte fast seinen Sex on the Beach fallen lassen.

Es war ein zweifellos gutes Angebot. Im Internet wurden ähnliche Villen zwischen zwei und fünf Millionen aufgerufen. Nichts besonderes, aber in Hollywood. Kai hatte keine Lust auf mühselige Verhandlungen, wo man mit dem Tiefstpreis anfing und dann vielleicht noch 50.000 oder 150.000 Euro Rabatt rausholte. Er wollte ganz einfach das Haus haben, ohne dafür einen Tanz aufführen zu müssen. Er hielt beiden die Hand hin und nach kurzem Zögern für die Würde ergriffen sie beide und alle drei hatten denselben Gedanken: Heute ist Dummkopftag!

Alles war getan. Tagwerk erfüllt, angetrunken und high zudem. Der Stundenzeiger nährte sich dem Abend. Es wäre an der Zeit gewesen, ins Hotel zu gehen, um sich für das Dinner umzuziehen. Im Kopf von Kai die vage Erinnerung an eine entsprechende Verabredung mit Britta. Die Überweisung war nach einem kurzen Gespräch mit der Schweiz erledigt. Das Geld floss und alle wären wieder frei gewesen, ihren eigenen Weg zu gehen. Roberta hätte mit Freunden auf das zweitschnellste Geschäft ihrer Karriere anstoßen gehen können (das schnellste war ein russischer Milliardär, der sie angerufen hatte und einfach gesagt hatte, er wolle drei Villen und habe keine Zeit für mehr Details). Später am Abend hätte sie dem Management von Justin Bieber peinliche Mails schreiben können. Der ultimative Zeus wiederum hätte seine Unterhosen in einen Koffer packen können, um sich in einem mittelmäßigem Hotel am Standrand ein Zimmer zu mieten, in dem er die nächsten Woche verarbeiten konnte, dass Hollywood ihn gerade ausgeschissen hatte. Aber anstatt diese wundervollen Dinge zu tun, blieben sie zusammen. Die Stimmung der untergehenden Sonne, der Schnaps aus der Bar und das überwältigende Gefühl, dass die Erde nur ein gigantisches Monopolyspiel war, in dem man mit seiner Zauberkarte alles besitzen, alles tun konnte, hielt sie zusammen.

Sie tranken auf das Geschäft und entlockten Zeus pikanteste Anekdoten aus dem Profiwrestling. Zum Beispiel über einen Kämpfer, der sich bei einem Wrestling-Promoter vorstellte und vorschlug, dass er als Finisher auf seine Gegner kotzen könnte. Der Promoter habe ihm sofort begeistert einen Mülleimer vor die Füße gestellt und verlangt, dass er ihm etwas vorkotzen sollte. Zehn Minuten mühte sich der ambitionierte Newcomer nach allen Kräften, aber sein Magen wollte nicht. Dann hatte man zu Zeus gesagt, er solle den Loser vor die Tür setzen. Sie lachten viel und kurzzeitig musste Kai in der Toilette in den Spiegel gucken und sich fragen, ob er etwas Sympathie für diese Leute übrig hatte. Er nahm dann eine Valium, um wieder runter zu kommen.

Als sie alle nur noch torkeln konnten, schon jeweils einmal in den Pool gefallen waren und die Sonne sich schon lange auf die andere Seite der Erdkugel aufgemacht hatte, halfen sie Zeus beim Packen seiner Sachen. Sie rissen alle Kleidung und ein paar Eiweißpulverpackungen aus den Schränken und verstauten sie in diversen Koffern. Kai sah, wie der Wrestler heimlich ein Bild von der Wand nahm, das ihn nach seinem Sieg über den Ghost Warrior zeigte, aber er gönnte es ihm. Roberta übergab sich ein paar Mal im Badezimmer, spülte aber mit Likör 43 nach und versicherte Kai, sie würde ihre peruanische Putzfrau schicken, um das wieder wegzumachen.

„Früher hat die für die Drogenmafia den Erschießungsplatz gewischt, die ist einiges gewöhnt.“

Zeus kam ebenfalls ins Badezimmer und riss in einem Ruck den Spiegelschrank über dem Waschbecken von der Wand. Das Geräusch, das aus dem Schrank kam, erinnerte Kai an das Geräusch der Lottobälle, wenn sie in der Glaskugel gemischt werden.

„Ich brauche die Pillen für meinen Rücken“, war seine einzige Erklärung für den Vorgang – aber auch das gönnte Kai ihm.

Sie luden die Koffer und den Pillenschrank in Robertas Pickup. Nach weiteren Speedlines fühlte sie sich fahrtauglich. Kai war erstaunt, wie gut die Maklerin die Spur halten konnte. Der ultimative Zeus schwankte trotzdem auf seinem Sitz wie ein Matrose im Sturm. Es brodelte der Pillen- und Alkoholcocktail. Zeus, der Pillenvulkan. Kai hoffte, er würde sich gegebenenfalls aus dem Fenster übergeben. Als sie auf dem Hollywood Boulevard hielten, um ein bisschen Take-away-Müllfutter einzukaufen, bemerkte Kai, wie etliche Touristen ihre Kameras zückten.

„Scheiße, wir müssen weg. Alles voll Paparazzi!“, schrie er in heller Panik.

„Glaubst du, die wollen ein Foto von deiner Haarpracht?“, witzelte Roberta und fügte an: „Die wollen den Donnergott.“

Zeus trug seine Sonnenbrille und blickte in das Blitzlicht der Kameras, wie ein General in das Mündungsfeuer einer Stalinorgel.

Geilheit und Untergang, dachte Kai. „Geilheit und Untergang“ sind ein echt guter Buchtitel. Das gehört zusammen wie Butter und Brot.

Sie fuhren weiter, bevor sich eine Menschentraube um das Auto scharrte, als wäre der Wagen ein Zwieback und die Touristen hungrige Tauben. Ziellos irrten sie durch die Stadt. Auf der Suche nach Clubs, die Delirium und Drogen tolerierten, solange die Kunden reich und/oder berühmt waren. Meist blieben sie nur für ein, zwei Cocktails. Das schönste war, mit Zeus einen Laden zu betreten und dieser Moment, wenn alle es auf einmal zu begreifen schienen: Da ist dieser Typ, der sich in deiner Kindheit eingeölt auf den Boden werfen ließ. Nachdem diese Welle der Erkenntnis über sie geschwappt war, wurde es schnell öde. Ein paar verstohlene Blicke, ansonsten versuchten alle so zu tun, als wäre überhaupt nichts los oder noch schlimmer: Jemand wirklich Berühmtes kam in den Club. Kai und Roberta hatten Zeus sofort durch den Hinterausgang hinausgedrückt, um nicht die zweitbeste Attraktion zu sein.

Um etwa sechs Uhr morgens steuerte Roberta den Pickup zielgenau in einen kleinen Baum vor einem Schnapsladen nahe dem Sunset. Ihr Airbag löste trotz der geringen Geschwindigkeit aus; sie schlief sofort wie ein Baby auf den Brüsten seiner Mutter. Kai und Zeus stießen unbeschadet die Tür auf und versuchten sich einigermaßen gerade zu halten. Viele (und einige bekannte) Menschen holten sich gerade Kistenweise Wodka und Champagner aus dem Laden. Eine CNN-Moderatorin verstaute ohne Scham ihre braunen Kisten im Kofferraum, machte sich eine Dose Bier auf und drehte die neue Lana Del Ray-Single auf, bevor sie mit ihrem Porsche Cabrio in einen weiteren Tag der gepflegten Selbstzerstörung fuhr.

Zeus und Kai betraten den Laden. Sie waren nicht mehr in der Lage Worte zu verwenden. Daher versuchten sie mit Grunz- und Schreilauten zu verdeutlichen, dass sie Geld gegen Waren und Dienstleistungen tauschen wollten. Der Besitzer war von seiner wohlhabenden Kundschaft einiges gewohnt und zeigte ihnen einen spanischen Absinth in einer von Swarovski veredelten Flasche.

„Für echte kreative Köpfe eben.“

Kai sabberte, als er die Flasche sah und dachte daran, dass es an der Zeit wäre, Opium zu rauchen. Zeus hingegen hatte eine Wahrnehmungsstörung, einen Flashback oder kuriosen Wachtraum: Er brummte wie ein angeschossener Bär und plusterte die Backen auf. Dann trommelte er auf seine Brust und zerriss sein Muscleshirt. Der Besitzer guckte ungläubig zu Kai, Kai guckte zu Boden, ein unbekannter aber mit Korruption reich gewordener Stadtverordneter blieb erschrocken in der Tür stehen. Plötzlich griff sich die Wrestlinglegende den Besitzer, wirbelte ihn in der Luft wie Pizzateig und warf ihn schreiend ins Weinregal. Sofort flüchtete Kai aus dem Laden. Fast wäre er durch das Schaufenster gesprungen. Hinter ihm Gebrüll und das Klirren vieler Flaschen. Er versuchte eilig aber unauffällig den Parkplatz zu überqueren. Nur mit Mühe konnte er es sich verkneifen, lauthals loszulachen. Auf dem Parkplatz war die Zerstörungswut aus dem Geschäft hörbar, wenn auch gedämpft. Es verwunderte nicht, dass ein Streifenpolizist mit schnellen Schritten auf Kai und den Laden zukam. Kai griff in seine Tasche und warf dem Beamten einen Stapel Geldscheine vor die Brust. Das verschaffte ihm die notwendige Schrecksekunde, um in Richtung Hauptstraße zu entkommen. Der Polizist betrachtete die vielen Hunderter zu seinen Füßen.

„Ihr verdammten Snobs! Ihr seid auch nur Menschen!“

Kai hatte die Straße erreicht und sprang in ein Taxi. Er warf die Tür zu und verschwand unerkannt. Auch Roberta schlief sich unbehelligt aus, niemand achtete auf sie, solange Zeus sich aufführte wie ein geschrumpfter King Kong. Endlich konnte Kai lachen. Das Lachen zerkratzte seinen Hals. Da war er. Dieser eine goldene Moment, den er mitnehmen konnte. Den er nicht vergessen würde, wie die unzähligen toten Momente, die ansonsten seinen Tag bevölkerten. Ein kleiner Moment, ein Erlebnis, das ihn berührte. Ein Moment, der etwas zählte, weil man ihn spüren konnte. Er musste nach Hause, ins Hotel, und Britta davon erzählen.

6

In dem Halbdunkel eines mit Tropenholz gepflasterten Büros wurde Kai auf „die Zeremonie“ vorbereitet. Seine Assistentin, eine schlanke Vietnamesin namens Tuyet, die ihr ganzes Leben der erbarmungslosen Selbstoptimierung geopfert hatte, um der Armut eines Schwellenlandes zu entkommen, wies ihn auf die wichtigsten Unterlagen hin. Kernsätze waren markiert. Zusätzlich hatte sie ein paar innovative Einschübe zu den einzelnen Themenblöcken entwickelt und ihm ausformuliert anbei gelegt. Sie bemerkte seine Abwesenheit, überging das aber geflissentlich.

„Herr Brommel. Die Sitzung fängt gleich an. Soll ich ihnen noch ein Glas Wasser holen lassen?“

Kai blickte sie fiebrig an. Er kniff sein rechtes Auge etwas zu, weil er glaubte, das lasse ihn aussehen wie John Wayne. Tatsächlich sah er aus wie jemand, der versucht, nicht zu weinen oder gerade einen Schlaganfall erleidet.

„Nein, bringen wir es hinter uns!“

Kai sprang von seinem Ledersessel auf und klemmte sich die Arbeitsmappen unter den Arm, um ein Stockwerk höher zum „Runden Raum“ zu gelangen.

In diesem Raum tagte der Gesellschafterrat. Er bestand aus dem einzig stimmberechtigten Uwe Brommel. Mit lediglich beratender Stimme dabei waren seine Frau Gertrude sowie die dritte Generation. Diese bestand aus Isabelle, die Maschinenbau studiert und in einem der Werke eine Schweißerlehre absolviert hatte, um sich in der Männerwelt zu beweisen. Dann war da Rosalinde. Sie hatte den klassischen Weg über das Studium der BWL mit anschließenden Praktika weltweit gewählt, um sich als Führungsperson aufzustellen. Ihre Haare waren feuerrot. Steven hatte erst eine Lehre als Schlosser gemacht, um hiernach in aller Muse Volkswirtschaft aber auch einige Semester Philosophie zu studieren. Vater Uwe hätte toben sollen, aber er erkannte, welche Fähigkeiten sich Steven mit seinem Nebenstudium angeeignet hatte. Sein umfangreiches Geisteswissen rüstete ihn auf diplomatischen Parkett genauso wie die Volkswirtschaft bei der Analyse weltweiter Trends. Von ihm stammte die These, dass der Absatz von Baumaschinen immer in den Jahren, die auf eine Neun enden, einbrach. Keiner der Roland-Berger-Berater hatte diese simple Tatsache je entdeckt. Steven besaß ein Gespür für solche Dinge. Und notfalls konnte er sogar Niklas Luhmann zitieren.

Und zuletzt war da noch Paul. Paul hatte sich mit dem Studiengang Business Administration aufgestellt. Ebenfalls mit einem Dutzend Auslandsaufenthalten aufgehübscht, war er der gesichtslose Manager mit Gelfrisur und heißesten Gadgets. Sein Gesicht konnte niemand prägnant beschreiben, weil es nichts Prägnantes hatte. Ihn hasste Kai zutiefst. Denn Paul war glatt und zielgewiss. Neben ihn fühlte sich Kai wie ein fahriger Alkoholiker. Steven war auch merkwürdig, aber Paul war Teflon aus der Hölle der Gesichtslosen. Noch nie hatte Uwe diesem Paul widersprochen. Einfach weil es da nichts zu widersprechen gab. Alles was Paul von sich gab, waren Allgemeinplätze, die jeder nach seiner Façon interpretieren konnte. Das schien sich durchzusetzen. Wo Kai (beziehungsweise Tuyet) darauf setzte, mit etwas innovativen – vielleicht auch gewagten – Gedanken zu glänzen, vermied Paul jede Gefahr irgendwo hängen zu bleiben. Wie ein Aal, der sich in Gleitgel suhlt, dachte Kai vor Ekel aufgeschäumt.

Beim letzten Gesellschaftertreffen vor drei Monaten war so ein Moment gewesen: In einem Themenblock hatten wir über die Chancen und Risiken der 3-D-Drucktechnik debattiert. Die ist eine große Gefahr. Man kann mittlerweile ganze Häuser einfach (und preisgünstig) ausdrucken. Die Hälfte unseres Produktportfolios kann so mittelfristig bedroht sein. Schnell könnte alles, was wir aufgebaut haben, in sich zusammenstürzen. Eine echt ernste Sache. Steven hatte zu bedenken gegeben, dass es immer Bauherren geben würde, die das Einzigartige suchen. Klar, nicht jeder will Massenfertigung, aber sollte unsere Firma auf so eine Hoffnung setzen? Das ist wie auf die Knie fallen und den Herrgott um Vernunft bitten. Ich habe mich gemeldet. Vater hatte doch tatsächlich zu dem Dreck genickt! Er schien von diesem gefährlichen Bullshit angetan zu sein. Tuyet hatte mir ein paar interessante Fakten zusammengestellt: Unsere Maschinen waren vielseitig. Wo wir im Moment Trommeln für Betonmischer schweißten, konnte man auch kurzfristig auf so etwas wie Schiffsschrauben umstellen. Metall ist Metall. Flexibilität ist am Markt gefragt, davon bin ich überzeugt. Nur wer agil ist, kann den Einschlägen ausweichen. Dieser Gedanke war eine echte Antwort auf das Dilemma – aber Vater hat mich nur angestarrt, als sei ich verrückt und dann gesagt:

„Wir produzieren Baumaschinen, wir sind keine Werft.“ Was für eine Kleingeistigkeit! Mir ist ganz heiß vor Wut geworden und mein Gesicht war sofort nass. Und als wäre das nicht genug der Demütigung gewesen, musste auch noch Paul sein dämliches Maul aufmachen. Die Sache war geklärt, aber er musste natürlich auch noch seinen Senf dazugeben.

„Wir müssen den Innovationsmotor am Laufen halten und die Marktführerschaft durch Vorsprung verteidigen.“

Was soll das heißen? Was ist das für eine These? Die kann nichts. Absolut gar nichts. Klar, dass Vater darauf abfährt und sofort einsteigt. Es hätte nur noch gefehlt, dass er aufgestanden und Applaus gespendet hätte. Verkalkter, dummer Greis. Das war einer der Momente, wo eigentlich klar war, was hier zu tun war: Vater hatte seine Pflicht getan, jemand hätte ihn in den Wald führen sollen, um ihn an einer einsamen Stelle den Gnadenschuss zu geben.

Als ich später mein Hemd ausgezogen habe, hat es gestunken wie ein verfaulter Iltis.

Diese Erinnerungen rüttelten an Kai, als er vor einer Eingangstür zum Runden Raum wartete. Der Runde Raum hatte fünf Eingänge und keine Fenster. Allerdings war das Dach komplett verglast. Franz Brommel hatte darauf bestanden, dass lediglich „der giftige Herrgott“ ihm bei seinen Geschäften über die Schultern gucken durfte. Es hatte sich eingebraucht, dass nachdem Uwe und Gertrude ihre Vorbesprechung unter vier Augen hatten, die Kinder jeweils durch einen Eingang alleine eintraten.

So öffneten sich auf Geheiß von Uwe die Türen und die Erben traten ein. Stumm und ohne Eile stellten sich alle jeweils hinter einen mit Samt bezogenen Stuhl aus Massivholz. Der Raum hatte die Schwere eines Folterkellers verbunden mit der Helligkeit eines Penthouses. Auch Uwe stand hinter seinem Stuhl. Lediglich Gertrude saß wie ein langsam sterbender Luftballon in ihrem Rollstuhl. Dass ihr der Speichel in den Mundwinkeln glitzerte, verriet ihre Medikation. Sie war ein Familiengeheimnis, das die Familie und sklavische Angestellte hüteten. Gertrude war die Familienaubergine: Aufgedunsen, dass die Haut spannte, mit der Vitalität von älterem Gemüse.

Niemand wusste, was in den Vorgesprächen passierte. Es gab kein Protokoll und es war kein Assistent anwesend. Kai stellte sich vor, wie Uwe in einer Ecke des Zimmers sitzend mit Tabletten nach dem offenen Mund seiner Frau warf. Für Stunden. So lange er Spaß daran hatte.

„Guten Tag, Vater“, sagten die Erben im Chor und schlossen nach kurzer Pause „Guten Tag, Mutter“ an.

Zuletzt drehten sich alle dem Bild von Franz Brommel zu, das überlebensgroß auf sie herabschaute.

„Guten Tag, Herr Brommel!“

Im Chor. Gertrude kicherte nur. Uwe bedeutete, dass man sich hinsetzen möge. In dem Moment, als alle ihre Stühle zurechtrückten, ihre Akten aus den edlen Ledertaschen zogen und die extra schmalen Laptops aufklappten, schlich ein krummer Mann herein, dessen Nase, ebenfalls gebogen, einen spitzen Schatten an die Wand warf. Er setzte sich ohne weitere Beachtung auf einen Stuhl in eine Ecke. Dort würde er stumm sitzen bleiben und nicht mal seinen Hut abnehmen. Es war der Banker von Julius Bär, dem Uwe Brommel mehr traute als seiner eigenen Frau. Mit einem kleinen Hammer aus Elfenbein schlug der Vater auf den Tisch.

„Das Treffen der Gesellschafter ist hiermit eröffnet.“

Augenblicklich quälte sich kalter Schweiß aus Kais Stirnglatze. Er wischte ihn mit einem Seidentuch (gesegnet in Buthan) beiseite. Die nächsten Stunden würden ihn wieder weichkochen.

Mehr als zwei Stunden referierte das Familienoberhaupt über die Geschäftslage, wobei er jedes Kapitel seiner Ausführungen mit dem Satz: „Das sieht Gertrude im Übrigen genauso“, garniert hatte. Sie hatte hin und wieder dazu auf den Tisch geschlagen und gerufen: „Das sieht Gertrude genauso!“

Durch die Zahlen war jedem im Raum einmal mehr klar, auf welchem Schatz sie alle durch die Gnade der Geburt gefallen waren. Das Brommel-Imperium wuchs und wuchs. Nicht allen Einzelgesellschaften ging es gut. Aber die Konjunktur der Branche und der Gewinn zeigten steil nach oben. Besonders hatte es Uwe gefreut, zu verkünden, dass die Gewinne wieder einmal gestiegen waren. Alles in allem beschäftigte man nun rund 33.000 Mitarbeiter weltweit. Der Gewinn lag nach Steuern bei 500 Millionen Euro. Der Berg an Kapital, der dabei angehäuft worden war (Grundstücke, Maschinen, aber auch Patente und exklusive Marktzugänge) war kaum zu beziffern. Es war ein riesiger Haufen Geld, auf den der Teufel beständig noch eine dampfende Ladung schiss. Ein Konzern-Koloss, der allein dank seiner Größe eine sichere Bank für jeden Euro war. Weit weg davon ein Mercedes- oder Volkswagentitan zu sein, aber ein Geschäftsmassiv, das eine kleine Rezession oder auch Russlandsanktionen mit einem blauen Auge wegstecken konnte. Doch der Konzern hatte ein Problem. In Westeuropa wurden 20 Prozent der weltweiten Bauleistung getätigt. Diesen 20 Prozent verdankte Brommel 70 Prozent seines Umsatzes. Nur der klägliche Rest wurde dort eingefahren, wo eigentlich am meisten Geschäft war: dem Rest der verkackten Welt. Insbesondere China war ein Problem. Ein Bauboom sondergleichen und kein Brommel-Kran weit und breit. An dieser Stelle stockten seine Ausführungen. Er klopfte mit seinem schweren Smaragdring auf die polierte Tischplatte und warf ein Wort in die Runde:

„Vorschläge?“

Jetzt war eine der seltenen Gelegenheiten gekommen, die auch die Kinder forderte. Jetzt musste man ein Panzer mit jaulendem Motor sein. Paul meldete sich als erster zu Wort:

„Wir müssen mehr Verständnis und Erfahrung für die anderen Märkte sammeln. Unser Blick muss sich weiten und unsere Kommunikation muss den Empfänger treffen. Wir müssen verstehen, was die Kommunisten denken, träumen, fühlen, um ihre Bedürfnisse zu treffen: die Seidenstraße!“

Uwe nickte. Kai wühlte in seinen Unterlagen. Steven strich sich den Kragen entlang. Paul sah einmal in die Runde, um ganz gemächlich Luft zu holen.

„Wir sollten uns an ihrem Traum beteiligen. Dort gibt es eine Vision für die Welt und die heißt nicht Krieg, sondern Beton!“

Schließlich fand Kai in seinen Analystenpapieren Stichworte, die ihm nützen konnten:

„Süd-Ost-Asien!“

Er räusperte sich. Uwe wendete ihm langsam seinen Blick zu.

„Ich meine Vietnam.“

Er hatte das Interesse des Tisches gewonnen. Steve und Paul sahen ihn mürrisch an. Seine Wangen wurden rot, jetzt war Kai in der Offensive.

„Vielleicht sollten wir etwas – eine Kranfabrik! – in Vietnam errichten, um uns dort den Marktzugang zu sichern. Klar, alle gucken nach China und schlagen sich um das, was die KP dort wie Brotkrümel hinhält und mehrfach durch Abgreifen von Wissen wieder reinholt, aber der Tiger Vietnam hat beeindruckende Wachstumsraten.

Im Bausektor prognostizieren Experten für das kommende Jahr …“

Kai wühlte zittrig durch die Unterlagen.

„… ein Wachstum von 6,1 Prozent und dort müssen wir uns nicht so hart mit der Konkurrenz oder den selbstbewussten Chinakommunisten ärgern.“

Er dachte an Chen. Chen konnte vor lauter Kraft kaum gehen, so selbstbewusst war er.

„In Saigon wird quasi alle zwei Wochen eine neue Hochhaussiedlung eingeweiht. Natürlich kann man nun sagen: Was sollen wir uns in einem Land von 80 Millionen so engagieren? Aber es gilt zu bedenken, dass wir vom Stützpunkt Vietnam auch nach Laos und Kambodscha strahlen können. Länder, in denen man teilweise noch Bambusgerüste verwendet, die aber im Sog von Vietnam mit nach oben schwimmen werden. Die postsowjetischen Autokratien sind das Zukunftsmodell und statt in China durch die teure Vordertür, sollten wir unseren Fuß in den Hintereingang setzen.“

Kai atmete aus und lehnte sich zufrieden zurück. Stolz, so klug improvisiert zu haben. Während sein Arsch wieder ein Stückchen breiter geworden war, fühlte sich sein Hirn an, wie ein Gewichtheber nach dem Gewinn der Goldmedaille. Alle Blicke wendeten sich wieder Uwe zu, der die Augen verengte, während er nachdachte. Er war der Marshall, der die Truppen in Bewegung setzen konnte oder nicht. Daumen hoch oder Daumen runter. Kopf ab oder Kopf dran. Das konnte bedeuten, ein paar Millionen Euro durchs Klo zu spülen oder im Goldregen zu stehen. Kai hatte ein gutes Gefühl. Diesmal hatte er den Alten beeindruckt.

Rosalinde hob betont langsam die Hand, um ihr Überzeugtheit zu untermauern. Alle starrten nun auf ihren Platz. Sie sortierte ohne Grund ihre Papiere, bevor sie sanft lächelte.

„Diese Analyse ist absolut richtig. Wir sollten uns darauf einstellen, unsere Märkte in den Autokratien auszubauen. Wer sich einigermaßen nüchtern den Zustand der als intakt geltenden Demokratien anguckt, kommt nicht umhin Verfall zu riechen.“

Kais Schließmuskel zuckte erregt, da er keinen Schwanz zum Wedeln hatte.

„Und ich stimme meinem Bruder zu: China kann man aufgrund seiner Größe gar nicht überbewerten. Zugleich lohnt es sich auch, dem Schweinezyklus zu entgehen, bevor er ins Rutschen kommt.“

Kai kämpfte darum, sein Grinsen zu unterdrücken und geschäftsmäßig zu gucken. Stevens Augen wanderten nervös zwischen Wand und Tisch hin und her, dann wagte er das Wort.

„Aber wir haben uns bereits den Eintritt verschafft. Wie ihr alle wisst, haben wir einen Vertriebssitz in Thailand. Zugegeben, die Eröffnung war zu demokratischen Zeiten, aber mittlerweile hat die Militärjunta übernommen und ihre Versprechen auf freie Wahlen ein halbes Dutzend Mal gebrochen und beerdigt. Diese Leute hängen vielleicht nicht an jede Straßenecke eine rote Fahne – vermutlich weil sie derart machtpolitisch sind, dass sie so was nicht im Ansatz besitzen – aber es handelt sich definitiv um ein wichtiges Mitglied des Clubs der neuen Autokraten: Harte Hand und Popmusik.

Wenn wir über Hintertüren sprechen, dann sollten wir uns angucken, welche Konsortien bisher die Chinaaufträge abgegriffen haben und denen unsere Maschinen verkaufen. Da ist zum Beispiel die BinLadin-Group. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die genug Baumaschinen haben, um die Verträge zu erfüllen, die sie bereits unterschrieben haben. Dann steht unser Name vielleicht nicht auf dem Baustellenplakat, aber jeder sieht unsere grünen Kräne und natürlich hängen an den Maschinen die Wartungsaufträge.“

Kai versuchte noch zu verstehen, da entglitt ihm die ganze Sache. Aus Gewohnheit sah er Steven verständnislos an.

Vom alten Herren ausgehend, fleuchte eine Stille in den Raum, suchte die Wände ab und legte sich schließlich wie eine fette Katze über allem. Kai schluckte. Keine Xanax in der Tasche. Die Dose stand in seinem Büro. Uwe nahm seine Lesebrille und setzte sie sich auf. Das Zittern in seiner Hand war kaum ein Hauch. Doch die Kinder sahen es.

„Es bleiben im Raum: Paul, Steven, Kai, Isabelle und Rosalinde.“

Alle anderen fingen an sich zu bewegen. Zwei gutausehende Männer in grauen Anzügen eilten herbei, um Gertrude hinauszuschieben. In einer Prozession verließen alle den Raum durch die einzige Türe, die ihnen zugestanden wurde. Selbst der Banker ging und schloss ehrfürchtig hinter sich die Türe. Uwe blickte auf seine Unterlagen. Er nahm einen Zettel hervor und studierte ihn. Niemand wagte zu atmen.

„Wie ihr wisst, hat mein Verfall nun eine neue Stufe genommen. Mein Körper ist schwach geworden. Bald vielleicht zu schwach meinen Geist zu tragen.“

Alle guckten betroffen.

„Wie ihr ahnt –vielleicht auch hofft – bedeutet das einen Umbruch für das Unternehmen.“

Alle guckten erwartungsfroh. Nur Kai war weiterhin besorgt. Seit vielen Jahren war sein Leben ein gerader Fluss, plötzlich befand er sich an einer Biegung.

„Wir dürfen nicht zulassen, dass unser Vermächtnis in die Hände von Shareholdern oder – Gott bewahre! – irgendwelche ausländischen Investoren fällt. Chinesische Heuschrecken oder den norwegischen Staatsfonds.“

Paul nickte sehr energisch. Es ging um Blut. Blut war heilig. Uwe nahm seine Lesebrille wieder ab und blickte allen bedächtig in die Augen. Sein Blick wanderte eine gefühlte Ewigkeit von Kind zu Kind und verharrte in dessen Augen. Kai fühlte sich durchbohrt.

„Nun sitzen hier genug Erben.“

Kurz lächelte er voller Stolz auf seine Lenden.

„Wenn wir uns an die Prinzipien und den Geist von Franz Brommel halten, so werden wir die Jahrhunderte überdauern. Ein Haus voll sicherem Wohlstand und ehrbarer Familienbande. Aber wir werden immer wieder weise Entscheidungen treffen müssen. Entscheidungen, die unsere Familie nachhaltig prägen werden. Harte Entscheidungen. So eine Entscheidung steht jetzt an. Bevor mich das Alter endgültig niederstreckt, muss die Übergabe geregelt und vollzogen sein.“

Paul und Steven streckten ihren Rücken. Kai sank in den Stuhl.

„Dabei ist klar: Es kann nur einen Erben geben. Einer, der die Bürde trägt, die Führung zu übernehmen, unter der die ganze Familie weiter gedeihen kann. Jemand, der sich voll verantwortlich fühlt. Es darf keine Situation geben, wo die Letztverantwortung unklar ist. Das hat die Diskussion gerade nochmal sehr gut gezeigt. Ein Mann, eine Verantwortung. Ich hatte in meinem Schreibtisch immer eine Pistole mit einer Kugel liegen. Es geht um Leadership im Totalen.“

Paul und Steven hielten die Spannung, wurden aber nervös. Rosalinde und Isabelle sahen sich kritisch an. Uwe sah das und wies mit der Hand auf sie.

„Ihr wisst, dass Frauen in Letztverantwortung gegen die Prinzipien von Franz verstoßen. Beide seid ihr großartige Töchter. Ich bin wirklich stolz. Aber Franz hat gesagt: Wer mit dem Fluch des Blutes belastet ist, dessen Biologie verlangt zu viel Rücksicht.“

Rosalindes Lippen schienen kurz vorm Platzen, nicht nur wegen des Arschfetts, das sie sich hatte reinspritzen lassen. Beide Hände krallten sich mit weißen Knöcheln in die Tischkante.

„Und Isabelle, lass mich persönlich anfügen, dass ich besonders dir auch die Zeit geben möchte, dich weiter auszuprobieren, damit du, wenn du satt bist, doch noch einen Mann findest, der dich auf den natürlichen Weg zurückbringt.“

Isabelle stand der Mund offen. Dennoch sagten beide Frauen nichts. All ihre Energie ging jetzt in den Magen.

„Es bleiben somit drei potenzielle Erben. Paul, du bist ein echter Haudegen. Steven, du bist der Kreative. Und ja Kai, dich gibt es natürlich auch noch.“

Kai sah auf Steven. Sah, wie sich der eitle Fatzke aufblähte wie ein Pfau. Kai konnte sehen, was Uwe nicht sah: Einen dummen Trottel, den er schon als Kind regelmäßig vermöbelt hatte, weil er seinen dämlichen Gesichtsausdruck nicht leiden konnte.

„Ich will nicht verhehlen, dass Paul mein Favorit ist. Du hast dich immer loyal und klug in die Unternehmungen eingebracht. Warst immer zur Stelle, wenn man dich gebraucht hat. Etwas was du, Kai, leider nicht immer vermocht hast.“

Kai lief rot an. Durst quoll ihm die Kehle hoch.

„Vielleicht kannst du aber auch noch was lernen, wenn man dich nur mal richtig fordert. Steven hingegen. In dir liegt die Chance der neuen Zeit. Die Welt wandelt sich. Paul und ich sind vom alten Schlag. Gleichzeitig ist noch lange nicht bewiesen, dass wir deswegen auch altes Eisen sind.“

Uwe erhob den Zeigefinger.

„Nun denn, so ist die Sachlage. Ich möchte, dass wir zuerst Pauls Weg einschlagen. Natürlich gehen wir nach China und versuchen direkt mit den Kommunisten Geschäfte zu machen. Es wird sich leider erst später zeigen, welchen Innovationsverlust wir dadurch erleiden, aber ich glaube an die Theorie, dass der Vorsprung ausreicht. Diesen irren Gedanken mit den Saudis. Wirklich kreativ, aber nein, das machen wir nicht. Brommel geht nicht durch die Hintertür. Kai und Steven, ihr begleitet Paul auf der Reise und steht ihm treu zur Seite. Lasst uns ehrgeizig streiten, kühn und machtbewusst, aber immer im Geiste unseres Hauses.“

Uwe schlug mit dem Hammer auf den Tisch und erhob sich zum Gehen. Es war auch das Zeichen für seinen Assistenten. Zwei Sekunden später stieß dieser die Türe auf und sammelte die Unterlagen von Uwe Brommel vom Tisch. Rosalinde knallte ihre Türe hinter sich zu. Isabelle schrieb noch kurz etwas auf ihrem Handy, dann war da eine Erleichterung in ihrem Gesicht und sie ging federnd hinaus.

Paul und Steven gingen aufeinander zu und reichten sich die Hände. Es war ein fester Händedruck. Beide setzten ihr bestes Haifischlächeln auf und wünschten sich Glück wie zwei Tennisprofis vor dem Match.

„Als Gentlemen im Geiste des Hauses!“

„Als Gentlemen im Geiste von Franz Brommel!“

Kai saß immer noch in seinem Stuhl und betrachtete die beiden. Was hatten sie? Waren sie klüger? Hatten sie mehr Charisma? Waren sie dem Alten tiefer in den Arsch gekrochen? Bis eben hatte er sich in der Tendenz befunden, dass er die Verantwortung für das Unternehmen gar nicht wollte. Es war ein gutes Leben in der zweiten Reihe. Jedes Jahr bekam er seine Anteile. Die Arbeit hielt sich in Grenzen. Uwe hingegen saß ständig am Schreibtisch. Controlling bis in jede Ebene. Doch was Kai nun stach, war der Gedanke, dass eben in Zukunft nicht Uwe als Übervater dort saß, sondern Paul oder Steven. Diese beiden würden als Präsidenten dem Konzern ein Gesicht geben. Sie würden gestalten und formen. Das Wichtigste aber: Sie würden über die Ausschüttungen entscheiden.

Kai brauchte einen Drink. Fast stieß er Tuyet um, als er zu seinem Ausgang lief. Beide gingen in sein Büro. Kai ließ sich in den Stuhl fallen.

„Ich bin völlig überarbeitet. Ich brauche einen Flug nach Paris. Ein bisschen Kunst wird mir helfen.“

Tuyet machte sich die Notiz und ging mit gesenktem Kopf davon.

7

Aus der Ferne mochte man meinen, dass in dem entkernten Hochhaus am Rand von La Défense in Paris eine Massenexekution stattfand, so wie die Stroboskopblitze aus den Fenstern zuckten. Das Skelett im Inneren war spärlich ausgeleuchtet. Das Aroma von Alkohol und edelstem Fingerfood begleitet vom Stahlstaubduft. Kai kannte diesen Geruch aus seinen wenigen Besuchen in den Werken der Firma Brommel.

An den Wänden waren Gemälde des aktuellen Jan Kaps Galerie-Portfolios. Erlesene Kundschaft war zu einer exklusiven Schau geladen. Wie Kai hatten viele neben ihrem weiblichen Anhängsel (von Ehefrau bis Escorttranse) noch eigene Kunstberater an ihrer Seite, die Empfehlungen für einen horrenden Stundenlohn verkauften.

Mit Missmut nahm Kai zur Kenntnis, dass sein Kaufassistent, Thomas, sich mit einem schrillen Lachen bereits vier Sektflöten in den Rachen gekippt hatte. Und offensichtlich wurde er gerade erst warm. Aber Kai brauchte Thomas. Er hatte früher sogar mal für das MoMa in New York Ausstellungen betreut. Bisher hatten seine Empfehlungen für Kai Wertsteigerungsgewinne von etwa 5 Millionen Euro eingebracht. Zugegeben: Das war nicht wirklich der Rede und schon gar nicht der Mühe wert, aber es war ein nettes Hobby.

Kai, Britta und Thomas standen vor einer Videoinstallation, die zeigte, wie sich der Künstler (ein Russe) einen toten Spatz an die Hand nagelte.

„Banale Aussage bei mittelmäßiger Ausführung. Der Künstler nimmt uns nicht mit auf eine Reise. Er pöbelt uns nur einen Augenblick an, der so schnell verfliegt wie ein aufgeschreckter Vogel“, spulte Thomas ab.

Dabei winkelte er die Hand wie ein altmodischer Fechtkämpfer an.

„Ich finde es widerlich!“, warf Britta ihre Meinung in den Ring.

„Bitte sei ruhig“, sagte Kai.

Er mochte die Brutalität, die Direktheit des Videos aber störte ihn etwas.

„Wie kann man bei einer Videoinstallation heute noch den Wert bewahren, vermutlich haben das schon drei Leute auf Youtube hochgeladen?“

„Das kommt zum ästhetischen Desaster noch erschwerend hinzu. Alle warten noch auf das Blockchainwunder“, pflichtete Thomas zu.

Die sanfte Housemusik begleitete ihre Schritte in die nächste Ecke. Unterwegs griff sich Thomas eine weitere Sektflöte von einer der vielen Bedienungen. Kai hatte ebenso große Lust auf Alkohol, aber er wollte sich auf keinen Fall mit Thomas auf eine Stufe begeben. Von irgendwoher drang kreischendes Lachen.

Sie standen vor dem Foto einer Installation. Sie trug den Namen „In den Mülleimer geschissen“. Es handelte sich um einen Plastikmülleimer, den der Künstler (aus Island stammend) mit getrockneter Eisbärenscheiße gefüllt hatte.

„Ich bin unsicher. Ich sehe eine klare Traditionslinie zum Altmeister Joseph Beys. Die Aussage ist natürlich zeitgemäß und ich tendiere zur Vermutung, dass das ökologische Thema eher noch interessanter für die Kunst wird. Zudem ist es mit 200.000 Euro nicht besonders hoch angesetzt“, sagte Thomas und überlegte, ob er das Ganze mit einer klaren oder vagen Kaufempfehlung abrunden sollte.

„Wir gucken gerade auf einen Haufen Scheiße!“, sagte Britta.

„Britta, guckst du mal bitte an der Bar, ob du für mich einen Wodka-Lemon besorgen kannst?“, sagte Kai und fragte sich ernsthaft, wer diese Britta eigentlich war und warum sie seinen Ehering an der Hand trug.

Britta kam diese Abfuhr zur rechten Zeit. Sie ging fröhlich davon. Kai konnte sich ganz auf sein Bauchgefühl konzentrieren: War dieser Künstler im Kommen oder schon am Ende? Wie lange würden die Eisbärenexkremente erkennbar bleiben? Lange genug, um das Ganze mit sattem Gewinn zu verkaufen? Ein Smokingträger mit dem ungerührtesten Gesichtsausdruck der Welt brachte diskret ein Schild an dem Bild an: Verkauft!

Kai empörte sich:

„Seit wann können hier Bilder im Voraus verkauft werden? Als könnte man bei Pferdewetten das Geld einstreichen, ohne das Vieh rennen zu sehen. Sind wir überhaupt auf der richtigen Veranstaltung?“

Er sah, wohin der Smokingträger zurückkehrte. Die Goldzähne des Käufers glänzten im Schwarzlicht.

„Ein Oligarch aus Russland. Duzfreund von Putin“, flüsterte Thomas.

„Der kauft Kunst als Massenware und bunkert sie in einem Freeport. Mein russischer Freund Pavel kennt ihn. Angeblich ist sein einziges Interesse, die Kunst zu bekommen und wegzuschließen, damit nur er entscheidet, wer einen Blick darauf werfen darf oder ob sie gar für ewig von der Bildfläche verschwindet. Es geht ihm um Macht, nicht um Besitz.“

Kais Wut wurde kurz zur Bewunderung. Sie setzten ihren Bummel fort. Kurz las er die Broschüre eines polnischen Künstlers. Er hatte sich als politischer Aktivist in eine Kleinstadt begeben. Sein Werk hieß „365“. Denn genauso viele Tage hatte er versucht, irgendwas in diesem Ort zum Besseren zu verändern und war Tag auf Tag gescheitert. Jetzt suchte er für sein Anschlussprojekt Sponsoren. Er wollte 365 Tage auf einer Couch sitzen und Fernsehen gucken. Es galt zu beweisen, dass 365 Tage immer 365 Tage sind – egal was du tust.

Schlussendlich standen Kai und Thomas vor einem Bild, das im Dauerbeschuss der Housebeats befremdlich altmodisch wirkte. Es zeigte mit realistischem Pinselstrich eine Familie. Vom jüngsten Nackedei bis zum ernst in seinem Bart versunkenen Opa. Sie saßen in der guten Stube und keiner sprach. Alle lauschten. Über ihnen auf einer Anrichte stand ein altes Radio. Kai versank in den braunen Farben und musterte die Stirnfalten des alten Mannes. Dieses Bild war leer und grimmig. Es versprühte aber auch die Hoffnung auf kommende Geschichte. Thomas entging das nicht.

„Ich komme gleich darauf, aber ich glaube es ist eine Replik. Irgendwoher kenne ich es…“

Auch Kai dachte angestrengt nach. Etwas fehlte auf dem Bild, etwas, das die Antwort gewesen wäre. Britta brachte keine Antworten, aber Erleichterung. Sie war so unfähig gewesen, statt dem Wodka einen Gin-Tonic zu holen, aber Kai war es gleich. Zumal sich einen kurzen Augenblick nach dem ersten Schluck, wieder ein Hochgefühl einstellte, das jeden Ärger davonpustete. Nachdem alle Wolken weg waren, blieb nur Liebe übrig.

„Danke dir, Schatz“, sagte er und fühlte sich komisch dabei.

„Das will einen zumindest nicht zum Kotzen bringen“, sagte Britta und schlürfte Hugo durch einen Strohhalm.

„Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir hier ein Match?“, sagte eine Frau in einem engen mit Pailletten geschmückten Abendkleid und reichte Kai die Hand.

Sie wusste genau, dass Thomas und Britta unwichtig waren.

„Susanne von Wetzlar, ich arbeite für Jan Kaps als Kuratorin“

„Kai Brommel“, sagte Kai und reichte ihr, auf den Boden blickend, seine Hand.

Er versuchte sich zu fangen, indem er sich erinnerte, dass viele Adelige arm wie Kirchenmäuse waren. Manchmal verramschten sie ihre Schlösser für einen Euro an den Staat, um die Last von Unterhalt und Investitionen abzustreifen. Kein wirklich reicher Adeliger würde für ein Auktionshaus arbeiten, dachte er sich. Aber ihr Auftreten: Es hatte eine Leichtigkeit, als sei das hier alles nur ein kleines Hobby.

„Und sie haben unsere subtiles Genie entdeckt“, sagte von Wetzlar und breitete vor dem Bild die Arme aus, als wollte sie es als Liebhaber zwischen ihren aufgepumpten Brüsten empfangen.

„Es hat etwas Tröstliches“, sagte Kai nachdenklich.

„Es sieht aus wie vom Flohmarkt“, flüsterte Britta und niemand hörte es.

„Sie haben ein außerordentliches Feingefühl, Herr Brommel“, schmeichelte Susanne.

Thomas verdrehte die Augen.

„Möchten sie den Künstler kennenlernen? Wir haben ihn heute Abend eingeladen. Er ist noch unverbraucht und voller Hingabe. Er hat noch keinen Sammler, aber seine Werke sind bei der Documenta in Kassel oder der Biennale gefeiert worden. Deswegen haben wir uns entschlossen, ihn als pikanten Farbtupfer zwischen all die Hochkaräter zu setzen.“

Kai blickte sie an und nickte. Die Frau streckte ihren Arm in die Hohe und winkte, als wollte sie ein Flugzeug einweisen. Kurz darauf erschien ein bleicher, junger Mann von vielleicht 25 Jahren. Er trug schwarze mit Hautschuppen belegte Kleidung und dazu die grauen Augenringe eines Kettenrauchers. Seine Lippen schienen bläulich, aber das konnte auch vom Schwarzlicht kommen.

„Das ist der Ken. Von Bären aufgezogen und nur für die Kunst geboren, nicht wahr?“, die Kuratorin lachte schrill.

„Ich ziehe mit den Wölfen“, korrigierte Ken sie und starrte Kai an.

Kai starrte zurück.

„Ich kenne das Bild“, sagte Thomas. „Sie kopieren alte Meister richtig?“

„Nein, ich transformiere Dreck aus der Geschichte in die Gegenwart, damit wir nicht vergessen, dass diese Welt schon immer stank“, sagte Ken formlos.

„Ist er nicht ein Typ? Na? Ist er nicht ein Typ?“, lachte Susanne von Wetzlar und tätschelte Ken die kurzen, schwarzen Haare.

Ken ließ es geschehen. Langsam holte er eine Packung billigster Supermarktkippen aus seiner Innentasche und ließ dabei immer den Blick auf Kai. Ein Stricher auf der Suche nach potenter Kundschaft.

„Hast du Bock auf ein bisschen Geschichtsmuff?“

Kurz schien er Lachen zu wollen, entschied sich aber doch dagegen. Die Beats wurden treibender. Kai spürte den Schweiß seiner Gier.

„Wo leben sie?“, fragte er den Künstler.

„Er kommt aus Berlin“, antwortete Susanne von Wetzlar.

Ken schien die Antwort nicht ausreichend zu finden, aber er brachte auch keine Gegenwehr auf.

„Haben sie viel gelitten?“, fragte Britta von der Seite. „Sie sehen aus, wie jemand, der viel Leid verarbeitet.“

Sie lächelte aufmunternd. Ken lächelte nicht.

„Ja, ich leide.“

„Gut, gut. Ich glaube, ich interessiere mich für ihr Bild“, sagte Kai.

Ken zuckte mit den Schultern. Die Kuratorin beugte sich lächelnd vor.

„Herr Brommel, Sie gefallen mir. Ein klarer Blick und eine schnelle Reaktion. Sie wissen, wie man das Leben – und besonders auch die Kunst – anpackt.“

Ken ging unbemerkt davon, während Kai seinen Thomas mit dem Kauf beauftragte.

Eine Stunde später hatte sich die Euphorie des Kaufs schon wieder im Zigarettenqualm gelegt. Ein schaler Geschmack war noch da, aber der Genuss nicht. Kai hatte Britta aus den Augen verloren und stand mit breiter Brust und eingesunkenem Geist an der Bar, wo Frauen mit Nasenringen hippe Drinks servierten.

Kai trank seinen zweiten Zitronengras-Gin, in dem einige tote Seepferdchen schwammen. Die Kreation eines australischen Künstlers, der damit darauf aufmerksam machen wollte, dass die Asiaten an allem Schuld wären. Neben Kai schwatzte seit geraumer Zeit ein alter Zausel. Der Besitzer einer gut laufenden Zuliefererfabrik für die Automobilindustrie. Rückspiegel oder irgendwas. Das Geschäft lief von selbst, die Tage waren öde, das Geld ausgeben schwierig.

„Ich habe es mit Wein versucht. Der ganze Keller wurde umgebaut - mit modernsten Kühlschränken ausgestattet! Dann bin ich auf die Suche gegangen: Die teuersten Flaschen. Wenn du da mal eine für 200.000 findest, bist du gut. Wenn ich die gekauft habe, habe ich schon wieder auf der anderen Seite 500.000 verdient. Du kannst es gar nicht wegschaufeln. Erst Kunst hat es geschafft, dass ich mal nennenswert abtragen konnte. Dass das Geld mal rauskommt.“

Der Zausel seufzte und laberte einfach weiter.

„Geld ausgeben ist am Anfang ganz einfach, dann aber wird es zur Qual. Du kannst es ja nicht verschenken. Aber behalten kannst du es auch nicht, sonst erstickst du irgendwann an dem ganzen Scheiß. Jetzt kaufe ich Kunst. Die nimmt nicht viel Platz weg, kannst einfach in den Bunker in Neuseeland stellen – aber haut richtige Löcher ins Konto. Ich fühle mich immer richtig erleichtert, wenn ich hier war.“

Kai blickte ohne zu Antworten in eine andere Richtung.

„Ich kaufe auch gar nicht mehr diese ‚vielversprechenden Künstler‘ mit ihren Wertsteigerungen. Ich kaufe nur noch was gnadenlos überschätzt aber begehrt ist: Jonathan Meese, Gerald Richter, Koons und so weiter. Meese produziert so viele Bilder, damit kannst du eine ganze Vorstadtsiedlung tapezieren. Dementsprechend ist es nicht knapp, dementsprechend wird es irgendwann nur noch Dreck sein. Marktwirtschaft halt.“

Kai sah auf die Uhr. Er könnte natürlich jederzeit gehen, aber noch waren die Räume gut gefüllt mit einflussreichen Menschen, denen man in Erinnerung bleiben wollte. Auch wenn offenbar nur der Zausel von ihm Notiz nahm.

„Koons hingegen unterscheidet sich gar nicht von dem Ramsch, den es in so Unterschichtenläden wie Butlers zu kaufen gibt, wo sich Teenagermütter das passende Kissen zu ihrem Wandtattoo kaufen.“

Der Zausel lachte und flößte sich zufrieden noch etwas Alkohol ein. Kai fragte sich, wie müde ein Körper eigentlich sein konnte. Die Antwort war: Ja. Farce auf Farce auf Farce auf Farce, fernab jeder Tragödie. Und die Welt drehte sich einfach weiter. Wo war die Spannung früherer Kunstkäufe? Der Jagdinstinkt und die Erhabenheit, dem Trend als Erster auf die Schliche gekommen zu sein?

Er erinnerte sich an einen Abend, als er mit seinem chinesischen Freund Chen einen glorreichen Coup ausgemacht hatte. Chen meinte, im Staatsgefängnis säße ein junger Künstler. Sein vergehen war eine Serie von Bildern, die Mao in einem Aquarium gezeigt hatten (Titel: „Wie ein Fisch im Wasser“). Die Partei hatte offiziell weder Humor noch ein ausgefeiltes Verständnis von Kunst. Allerdings war der Wirkungskreis des Künstlers auch nie groß genug gewesen, um ihn nach ein paar Wochen des Nachdenkens in einem tuberkulösen Loch nicht wieder auf freien Fuß zu setzen. Natürlich würde dieser Künstler sich geläutert geben und die nächste Chance zur Ausreise nutzen. Weiter: Im Portfolio eines Immobilienfonds, der zu großen Teilen mit Millionen der chinesischen KP gefüllt war, war auch das Gebäude der White Cube Galerie in London. Ein Anruf und ein sanfter Druck genügten, dass man dort überzeugt war, diesem jungen Künstler aus China eine Bühne zu geben. Der Künstler wurde auf freien Fuß gesetzt und Kai erwarb über einen Mittelsmann umgehend einige seiner Gemälde. Wenige Monate später hing dann ein Großteil seiner sonstigen Werke in besagter Galerie. Er wurde mit Kokain und Blitzlicht gefeiert. Die Kunstszene witterte den nächsten Durchbruch. Ein neuer Ai Weiwei vielleicht? Die Preise schnellten in die Höhe und Kai verkaufte nur drei Jahre später die Gemälde mit 500 Prozent Gewinn, nicht ohne seinen gerechten Anteil an Chen zu zahlen. Drei oder vier Millionen. Peanuts. Aber witzig war es gewesen. Die Welt war ein großer Spielball, den man in die Luft werfen konnte. Der Künstler war mittlerweile unauffindbar. Seine Werke besaßen nach der kurzen Euphorie den Wert von Klopapier.

Dieses Gefühl einer Schöpfung war verflogen. Es blieb nur noch die stickige Verpflichtung, sein Vermögen durch die Untiefen der Geschichte zu lenken. Alle Götter würden lachen, wenn man es verlor.

„Was finden sie denn so komisch?“, der Zausel sprach wieder.

„Fick dich!“, sagte Kai spontan und schritt so stolz er konnte davon.

Er verpasste dadurch die Frau, deren Performance daraus bestand, in ein Cocktailglas zu beißen. Ein wenig beachtetes Sinnbild der Adoleszenz, wie es später im Monopol Magazin hieß.

8

Er hatte nicht lange auf eine Limousine warten müssen. Sie stand mit laufendem Motor in der Nähe der Galerie wie ordinäre Taxis vor einem Bahnhof. Paris brachte ein Glitzern durch die getönten Scheiben. Kai sank tief in das schwarze Leder. Er machte kurz die Minibar auf. Dann schloss er sie enttäuscht. Er blickte auf sein Handy, dann steckte er es weg. Dann wurden ihm die Augen feucht und er wusste nicht wieso.

Autor

Marco Höne ist 1984 geboren und lebt in Stuttgart. Nach einigen Jahren als Linkspolitiker arbeitet er mittlerweile als Gewerkschaftssekretär. In seinen Texten lässt er den Idealismus größtenteils beiseite und huldigt dem Zynismus, der doch immer eins ist: Das Verzweifeln an der bitter-bösen Wirklichkeit.
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Titel: Die Reichen und Hässlichen