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Die letzten Tage vor dem Schweigen

Roman

©2024 186 Seiten

Zusammenfassung

Ludwig Wittgenstein, Philosoph von Weltrang und Eigenbrötler zugleich, nahezu ausnahmslos unglücklich, neurotisch und seit seiner Kindheit ein Außenseiter, weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Zunehmend auf Hilfe angewiesen, verbringt er die letzten Monate seines Lebens im Haus seines Arztes Dr. Edward Bevan in Cambridge. Hier ist er entgegen seinen Befürchtungen ungemein produktiv und verfasst mehr als die Hälfte seiner Überlegungen „Über Gewissheit“.

In Gesprächen mit Mrs. Bevan, der Frau des Arztes, und vor allem mit Raymond, einem 17-jährigen Jungen aus der Nachbarschaft, der in den letzten Tagen zu Wittgensteins Begleiter wird und den Philosophen immer wieder herausfordert, lässt Wittgenstein die Vergangenheit Revue passieren. Dabei geht es um seine Jugend in Wien, die Jahre als Student in Cambridge und später als Dorfschullehrer, die Mühen als Architekt für das Haus seiner Schwester, die Zeit als Professor und seine homosexuellen Beziehungen.

Markus Seidel ist ein melancholisches Meisterwerk gelungen, das ohne Pomp auskommt und Wittgenstein, weit mehr als jede Biografie, als Menschen zeichnet.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1

Montag, 23. April 1951

Bis eben war es ruhig gewesen im Haus, sodass er gedacht hatte, dass er ganz allein sei. Er liebte diese Stille, und manchmal lauschte er lange in sie hinein. In diesem Moment jedoch hörte er jemanden die Treppe heraufkommen. Der Rhythmus der Schritte auf den hölzernen Stufen war ein anderer als der, den er kannte, was ihn sofort irritierte.

Die Ruhe der letzten Stunden, die ihn wie ein warmer Mantel eingehüllt hatte, schien nunmehr gefährdet, und er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er wollte mit niemandem reden, ihn verlangte nach nichts, außer nach Stille, Schweigen und Arbeiten. Er hatte keinen Hunger, keinen Durst und keine Langeweile, und er hatte auch nichts auf dem Herzen. Aber der, der da auf dem Weg zu ihm war (zu wem sonst konnte er schon wollen?), riss ihn jetzt aus allen Gedanken. Er legte den Stift beiseite und schaute in unfroher Erwartung zur Tür.

Es war vier Uhr am Nachmittag, draußen regnete es seit Stunden ohne Pause und der Wind pfiff, außerdem war es lausig kalt und die Sonne hatte sich den ganzen Tag nicht blicken lassen.

Ludwig Wittgenstein – kurzer krauser Haarschopf mit Seitenscheitel, schmales Gesicht mit einem scharfen, strengen Adlerblick, auch jetzt noch, in seinem 62. Lebensjahr, und mit einem Meter siebzig eher klein von Statur – saß an dem winzigen Tisch seines winzigen Zimmers und schrieb seit den frühen Nachmittagsstunden. Schon am Vormittag hatte er gearbeitet, war aber bald zu erschöpft und hoffte, später noch etwas zustande zu bringen.

Seit etwa zwei Monaten war er wieder in der Lage zu arbeiten, ja es schien, als hätte sich ein Vorhang aufgezogen, der ihm plötzlich freie Sicht gewährte und für Klarheit der Gedanken sorgte. In den letzten Wochen hatte er so viel geschrieben wie selten zuvor. Manchmal kam er mit dem Notieren seiner Gedanken kaum nach und wünschte sich dann, jemanden zum Diktieren zu haben. Zwar litt er nach wie vor regelmäßig unter Schwächeanfällen, wie auch an diesem Tag, aber abgesehen davon ging es ihm erstaunlich gut. Seine Freunde kamen regelmäßig vorbei, und noch vor ein paar Wochen hatte er daran gedacht, nach London zu fahren, um einen von ihnen zu besuchen. Allerdings wurde schließlich nichts daraus, sein Zustand hatte sich verschlechtert und ließ diese Reise nicht mehr zu.

Bis Ende Februar war deshalb an wirkliches Arbeiten nicht zu denken gewesen, er wurde schnell müde, alles kam nur tröpfchenweise und ohne jeden Zug und Fluss. Es waren fast allesamt fahle, unnütze Tage, die nicht vergehen wollten, die er irgendwie abbummeln und herumbringen musste. Tage, an denen er nicht mehr war als eine einzige Zumutung – für sich und für andere. Die Sinnlosigkeit und die Leere seines Daseins übermannten ihn in dieser Zeit und nahmen ihm schon morgens jeden Schwung und jede Lust zu leben. Zum Selbstmord aber fehlte doch der letzte Wille und wäre angesichts der Umstände geradezu lächerlich, denn der Tod war ohnehin schon in Sichtweite. Er würde den Weg bloß abkürzen.

Er schrieb dann eigentlich nur noch aus einer Art Instinkt oder Gewohnheit oder sogar Langeweile, ohne dass dabei allzu viel herauskam. Es war kaum mehr als Zeitvertreib und Gewohnheit, ohne jegliche Hoffnung, dass er irgendwann wieder klar denken und arbeiten könnte. Richtungsloses Dahintreiben. Was er zustande brachte, war nichts als totes, gedankenmattes Zeug; witzlos, fade, vollkommen uninteressant. Am Ende, das wusste er, würde er das Meiste davon wieder verbrennen. Nichtstun aber war ihm unmöglich und nicht auszuhalten. Leben hieß für ihn Arbeiten, hieß Denken und Schreiben. War er dazu nicht imstande, machte sich schnell Verstimmung breit und das Gefühl, nutzlos zu sein. Immer schon war das so; er fühlte sich haltlos dann und ohne jegliche Daseinsberechtigung. Konnte er nicht arbeiten, war alles leer und trostlos, und die Zweifel am Sinn seines Lebens waren so mächtig und erdrückend, dass er meinte, den Verstand zu verlieren. Wie groß war der Stolz über einen gelungenen arbeitsreichen Tag, und wie groß die Verzweiflung, wenn er nichts zustande brachte!

Er tat dann gleichsam bloß so, als würde er arbeiten, was freilich nichts anderes war als der verzweifelte Versuch, sich selbst zu überlisten. Das wusste er, und natürlich war das völlig zwecklos, aber jeden Tag probierte er es aufs Neue. Er war wie ein Zug auf geölten Schienen, bei dem sich die Räder sinnlos auf der Stelle drehten, ohne auch nur einen einzigen Meter voranzukommen.

Wittgenstein war schwer krank, er hatte Prostatakrebs, seit zwei Jahren schon. Hormone und Röntgenbestrahlungen halfen nicht mehr weiter, die Mittel waren inzwischen ausgeschöpft und er wusste, dass es bald zu Ende war mit ihm; sein behandelnder Arzt in Cambridge, Dr. Edward Bevan, hatte ihm dies Ende Februar mitgeteilt. Wittgenstein war erleichtert, als er hörte, wie es um ihn stand. Nun wusste er zumindest, woran er war. Es war, als hätte sich damit eine Bremse gelöst, sodass der Zug plötzlich wieder ins Rollen kam. Endlich konnte er wieder Sinnvolles zu Papier zu bringen und die Arbeit an dem, was er ein Jahr zuvor angefangen hatte, fortsetzen. „Angstblüte“, ging es ihm einmal durch den Kopf: Er hatte davon gehört, dass absterbende Bäume noch einmal kräftig Blüten treiben, vor allem bei Fichten war das zu beobachten. Kälte, Nässe oder Trockenheit würden diese Furcht vor dem Tod auslösen, hieß es. Womöglich verhielt es sich bei ihm in ähnlicher Weise, vielleicht waren die Kraft und die Klarheit seines Geistes das letzte Aufbäumen vor seinem Ende.

Wie auch immer die Sache stand, er war froh, dass er wieder klar denken und schreiben konnte. „Jetzt werde ich arbeiten, wie ich nie zuvor im Leben gearbeitet habe“, hatte Wittgenstein zu der erstaunten Mrs. Bevan gesagt, und es hatte sich gezeigt, dass er damit Recht behielt. Er dankte Gott dafür, dass er auch und gerade jetzt klar denken konnte und dass er Sätze schrieb, die einen Sinn ergaben. Es gab doch noch so viel, was er zu sagen hatte!

Seit Anfang Februar wohnte er im Haus seines Arztes Dr. Bevan und dessen Frau Joan. Bevan – ein großer, kräftiger, gescheiter Mann mit markantem Gesicht und offenem Blick, der Ende der 1920er-Jahre Olympiasieger im Rudern geworden war und in Cambridge Medizin studiert hatte – war so großzügig gewesen, Wittgenstein ein Zimmer in seinem Haus zur Verfügung zu stellen; auf diese Weise konnte Bevan ihn im Auge behalten. Es war das Zimmer, in dem Wittgenstein sterben würde. Soviel war allen klar. Wie lange er noch zu leben hatte, wusste freilich niemand. Vielleicht noch Monate oder Wochen. Vielleicht auch bloß noch ein paar Tage.

Wittgenstein hatte zunächst gezögert, das Angebot anzunehmen; auf keinen Fall wollte er jemandem zur Last fallen. Er hatte aber Angst, dass es dort zu Ende ging, wo er nicht sein wollte, nämlich in einem Krankenhaus, und so nahm er das Angebot des Arztes schließlich an.

Er war davon ausgegangen, dass der Zustand der Lähmung und Untätigkeit bis zu seinem Tod andauern würde. Warum in aller Welt sollte sich daran etwas ändern? Schließlich war er monatelang nicht in der Lage gewesen, Philosophie zu betreiben, klar zu denken und zu schreiben, deshalb hoffte er, möglichst bald zu sterben. Wie ganz und gar überrascht und dankbar war er dann, als sich herausstellte, dass er sich geirrt hatte!

Die Bevans hatten für ihn ein Zimmer im Erdgeschoss eingerichtet, mit einem Schreibtisch, einem großen Bett und einem weichen bequemen Sessel am Fenster mit einem Tischchen dabei, auf dem sogar ein frischer Blumenstrauß stand.

Das Zimmer kam für Wittgenstein allerdings nicht infrage, es war ihm zu groß und zu dunkel. Stattdessen bat er darum, sich die Räume im Obergeschoss ansehen zu dürfen. Schließlich entschied er sich für den kleinsten Raum des ganzen Hauses, eine Art Abstellkammer, dessen Tür zufällig offenstand, als sie bei ihrem Rundgang daran vorbeikamen, worauf er sofort stehenblieb und einen neugierigen Blick hineinwarf. Ein Bügelbrett lehnte an der Wand, auf dem Boden lag ein zerschlissener Teppich, hinten in der Ecke stand ein Sessel unter einer verstaubten Decke, daneben ein paar übereinandergestapelte Koffer unterschiedlicher Größe, ein verblichener mattgelber Vorhang verdeckte den Blick durch das kleine Fenster, es roch nach Staub und abgestandener Luft. Der Raum war zweifellos alles andere als einladend. Doch Wittgenstein hatte seine Entscheidung längst getroffen.

„Aber es passt kaum mehr als ein Tisch und ein Bett hier hinein!“, rief Bevan kopfschüttelnd und blickte erst seine Frau Joan und dann Wittgenstein ungläubig an. Es war ihm unbegreiflich, wie man ausgerechnet diese kleine modrige Kammer dem anderen, ihm zugedachten großen Zimmer im Erdgeschoss vorziehen konnte.

„So ist es schon richtig“, erwiderte Wittgenstein kurz und bestimmt, und sein Ton machte klar, dass weitere Diskussionen überflüssig waren. Sessel, Bügelbrett und Koffer wurden also entfernt, auch der Teppich musste weggeschafft werden. Der Vorhang wurde ausgetauscht und ein Bett aus einem der anderen Zimmer hinübergeschoben. Zum Schluss verteilte Wittgenstein zur völligen Verblüffung der Bevans nasse Teeblätter, um die er die verdutzte Mrs. Bevan gebeten hatte („Herr Doktor, was in aller Welt haben Sie jetzt damit vor?“), auf dem Fußboden, um sie, nachdem sie getrocknet waren und den Staub und Schmutz aufgesogen hatten, zusammenzukehren. Am nächsten Tag standen ein Tisch und Stuhl darin, die Wittgenstein aus dem College hatte heranschaffen lassen.

Als Mrs. Bevan ihm am Tag seines Einzugs eine Pflanze ins Zimmer stellen wollte und ihm anbot, ein Bild über dem Bett aufzuhängen, lehnte er das dankend, aber entschieden ab. Ein letztes Mal versuchte sie ihm das andere Zimmer im Erdgeschoss schmackhaft zu machen und verwies dabei auf dessen Größe, aber Wittgenstein blieb bei seiner Entscheidung. Kurz überlegte er, ob er ihr sagen sollte, dass er schon in kleineren Kammern gewohnt hatte, in Geräteschuppen, Schulküchen und in Zimmern, die kaum drei mal drei Meter maßen. Aber er ließ es bleiben. Zu viel müsste er dann erklären, und danach stand ihm gerade nicht der Sinn, auch wenn er Mrs. Bevan durchaus schätzte. Sie war eine lebensfrohe, aufmerksame Frau, etwa Mitte dreißig, sehr gepflegt, ohne eitel zu sein; ihre dunklen Haare trug sie kurz. Sie malte und zeichnete gern, im Haus hingen einige Bilder von ihr, doch erst vor ein paar Tagen hatte sie ihm erzählt, dass sie von ihr stammten. Sie gefielen ihm, allerdings konnte er nicht sagen, ob es vor allem daran lag, dass er sie, Mrs. Bevan, schätzte.

Nicht schüchtern, aber äußerst vorsichtig war sie Wittgenstein zunächst begegnet, schließlich kannte sie den Menschen kaum, dem ihr Mann zum Sterben ein Zimmer in ihrem Haus angeboten hatte. Dr. Bevan hatte ihr vor ihrem ersten Aufeinandertreffen erklärt, wer Wittgenstein war, hatte darauf hingewiesen, dass er zu den einflussreichsten Philosophen gehörte, die es derzeit gab (Bevan selbst verstand davon wenig). Ihr Mann hatte ihr nicht verheimlicht, dass Wittgenstein nicht ganz einfach sei und ihr eingeschärft, dass man aufpassen müsse, was man in seiner Gegenwart sage. Das hatte bei Mrs. Bevan zunächst für eine gewisse Beklemmung gesorgt.

Mit der Zeit aber entspannte sie sich in Wittgensteins Gegenwart, ja sie machten es sich sogar zur Gewohnheit, abends um sechs zusammen in den Pub zu gehen. Es war Wittgenstein nie in den Sinn gekommen, mit ihr über Philosophie zu sprechen, und sie auch hatte kein einziges Mal den Versuch unternommen, ein Gespräch darüber zu beginnen oder ihm irgendwelche Fragen zu seinen Arbeiten zu stellen. Darüber war er sehr erleichtert (abgesehen von der Tatsache, dass er sich freilich nie auf ein solches Gespräch eingelassen hätte. Mrs. Bevan war alles andere als ein philosophisch denkender Mensch, aber sie war keineswegs einfältig; lebensklug, das traf es wohl am besten, also genau das, was Wittgenstein fehlte). Sie erkannte stets schnell, wie es um ihn stand – ein Blick am Morgen genügte ihr oftmals schon, um zu sehen, in welcher Verfassung er war (warum fiel ihm diese Gabe meistens bei den Frauen auf?). Auch darum bewunderte er sie, wenngleich er ihr das selbstverständlich nie zum Ausdruck gebracht hatte. Wittgenstein war Menschen grundsätzlich skeptisch gegenüber eingestellt, ihm schien, als lauere schon hinter der nächsten Tür Verrat und Enttäuschung, selbst bei Freunden. Sich in Gegenwart eines anderen zu entspannen war kaum möglich.

Mrs. Bevan hatte er bald ins Herz geschlossen. Besonders mochte er ihr offenes, fast kindliches Lachen und ihre stets freundliche und aufrichtige Art. Jegliches Misstrauen war rasch verschwunden. Sie war ein Geschenk: sie hörte zu, sie erzählte, sie verstand.

Im selben Moment, als es dann an der Tür klopfte, kleckste ein Tropfen von seinem Federhalter auf den Tisch. Wittgenstein bemerkte es gar nicht, sein Blick ging schon zur Tür – ebenso missmutig wie ruckartig –, um zu schauen, wer da eintrat. (Es war der letzte Tropfen, den er auf diesem Tisch hinterlassen würde, breit und blau war er, unverkennbar der größte Fleck darauf.)

„Guten Tag, Herr Doktor.“ Ein Junge – Wittgenstein schätzte sein Alter auf 15 oder 16 – stand da in der Tür. Er war groß, mindestens eins neunzig, und recht kräftig, mit breitem Kreuz, gewiss ein Sportler, ein Ruderer womöglich, oder ein Schwimmer; er hatte ein sanftes und intelligentes Bubengesicht mit neugierigen wachen grünen Augen und einem offenen Blick, seine krausen Haare waren kurz und dunkel, fast schwarz, die Lippen weich und voll. Ein zweifellos hübscher Bursche. Auffallend hübsch. In seinen großen kräftigen Händen trug er ein Tablett mit Kanne und Tasse und einem Teller mit Keksen.

Der Junge stockte und blickte sich stumm und verwundert in dem beengten Zimmer um. Dann, so als müsste er sich erst wieder darauf besinnen, weshalb er eigentlich gekommen war, sagte er: „Joan hat mich gebeten, Ihnen den Tee zu bringen.“ Etwas unschlüssig blieb er da auf halbem Wege zu Wittgenstein stehen und schaute ihn fragend an. Die Tür stand noch offen und es zog etwas. Wittgenstein stand auf und schloss das Fenster. Erst jetzt fiel ihm auf, wie kalt es hier drinnen war. Im selben Moment kam die Sonne hinter einer Wolke hervor, sie schien ins Zimmer und legte Millionen von herumschwebenden Stäubchen ins Licht.

„Lass den Doktor weg“, meinte er. „Stell die Sachen einfach auf das Bett, aber nimm die Kekse wieder mit, hörst du?“ Der Junge nickte stumm, stellte das Tablett ab, und als Wittgenstein sich zurück an seinen Tisch setzte, verließ er wortlos das Zimmer. Zwar hatte Wittgenstein den Eindruck, dass der Junge noch etwas hatte sagen wollen, aber er hatte jetzt keine Zeit für ein Gespräch. Er musste weiterarbeiten und durfte keine Zeit verlieren. Es gab noch so viel zu tun, und vielleicht war bald schon alles vorbei und kein Denken und Schreiben mehr möglich, wer konnte das schon wissen. Also weiter.

Erst nach einer halben Stunde kam ihm der Tee wieder in den Sinn, der noch auf dem Bett stand. Er stand auf und schenkte sich eine Tasse ein. Herrgott, der Tee war ja viel zu stark! Er mochte ihn möglichst dünn. Dieser hier war jedenfalls völlig ungenießbar. Außerdem war er fast kalt, aber das war natürlich seine eigene Schuld. Vermutlich hatte der Junge ihn zubereitet, denn Mrs. Bevan wusste genau, wie er seinen Tee mochte. Er nahm die Kanne, ging zwei Zimmer weiter in das Bad, kippte etwas mehr als die Hälfte des Inhalts in den Ausguss und ließ heißes Wasser in die Kanne laufen. Zufrieden kehrte er zurück in seine Kammer und schenkte sich erneut eine Tasse ein. Viel mehr als warmes Wasser war es jetzt nicht mehr, aber so war es genau richtig.

Wer war dieser Junge eigentlich? Wittgenstein kannte noch nicht einmal dessen Namen. Er würde ihn später danach fragen.

Bald darauf hörte er unten die schwere Tür geräuschvoll ins Schloss fallen, Mrs. Bevan kehrte zurück (wo war sie eigentlich gewesen?) und Wittgenstein hörte sie und den Jungen miteinander sprechen. Er blickte auf seinen Schreibtisch, sah das Geschriebene der letzten Stunden und wusste, dass er heute nichts mehr zustande bringen würde. Ein kurzer Spaziergang würde ihm guttun. Vielleicht konnte er später noch etwas arbeiten, jetzt brauchte er frische Luft und eine andere Atmosphäre als sein enges Zimmer. So ging er nach unten, zog sich seinen gelbbraunen Regenmantel an, setzte seine Tweedkappe auf und nahm seinen Spazierstock. Dann trat er ins Freie, wo es inzwischen zu dämmern begonnen hatte.

Er war kaum zehn Schritte gegangen, als er Mrs. Bevan seinen Namen rufen hörte. Zusammen mit dem Jungen stand sie an der mannshohen Hecke und winkte ihm zu. Wittgenstein sah, wie der Junge sich von Mrs. Bevan verabschiedete und dann auf ihn zuging.

„Ich muss nach Hause, und Joan meinte, es sei doch praktisch, wenn Sie mich begleiten. Wir haben denselben Weg. Hat sie jedenfalls gesagt.“

Wittgenstein wusste nicht recht, was er von der Sache halten sollte und brummte etwas Unverständliches vor sich hin. Er brauchte jetzt keine Gesellschaft, schon gar nicht die eines 15-jährigen Jungen, auch dann nicht, wenn er so hübsch war wie der, der jetzt neben ihm ging, wollte die Bitte aber auch nicht abschlagen. Und überhaupt: Weshalb sollte er diesen Jungen, der schließlich kein Kind mehr war, nach Hause bringen?! Verlaufen würde er sich ja wohl kaum. Mrs. Bevan hatte es sich gewiss genau andersherum gedacht: Der Junge sollte ihn begleiten. Allerdings war er doch nicht so schwach, dass er Hilfe brauchte, schließlich machte er noch immer jeden Tag seine Spaziergänge, auch wenn die immer kürzer wurden, und immer beschwerlicher.

Mrs. Bevan dachte praktisch, das hatte ihn gleich für sie eingenommen: Als er und ihr Mann am Tag seines Einzugs vor ein paar Wochen in der Küche standen und Mr. Bevan ihn etwas umständlich fragte, ob er vielleicht einen Tee trinken wolle, ob er dies oder jenes brauche oder wolle, da hörten sie seine Frau aus dem Wohnzimmer rufen: „Nicht fragen, Edward – einfach geben!“ Das hatte Wittgenstein außerordentlich gut gefallen.

Na schön, würde er sich also von dem Jungen begleiten lassen.

„Wo wohnst du denn?“, fragte Wittgenstein.

„Nicht weit von hier, in der Park Parade, direkt am Jesus Green.“ Wittgenstein nickte stumm, er wusste, wo das war, G.E. Moore, der große Logiker und sein Vorgänger auf dem Lehrstuhl für Philosophie in Cambridge, wohnte dort ganz in der Nähe. Er hatte Moore zuletzt vor zwei Wochen besucht, nur kurz allerdings, denn Moore war gesundheitlich ebenfalls angeschlagen und seine Frau erlaubte bloß kurze Treffen. Wenn Wittgenstein sich anschickte zu kommen, bestand sie auf einem kurzen Besuch, denn er wollte ausschließlich über Philosophie sprechen, was Moore angeblich jedes Mal viel Kraft kostete. Als ihn Moores Frau einmal an der Tür abwimmeln wollte mit der Begründung, ihr Mann sei heute zu schwach zum Diskutieren, entgegnete ihr Wittgenstein, dass dessen Zustand vermutlich eher daher rühre, dass sie beide ein paar Tage nicht diskutiert hätten, worauf sie ihm die Tür vor der Nase zuschlug.

Der Junge und er liefen jetzt nebeneinander her, ohne ein Wort zu sagen; Wittgenstein war nicht nach Konversation zumute, und wenn ihm etwas fehlte, dann das Talent zu einer zwanglosen Plauderei. Was sollte er schon mit diesem Jungen, den er nicht kannte und von dem er nichts wusste, reden? Auch der Junge sprach kein Wort, vielleicht war er zu schüchtern, womöglich hing auch er irgendwelchen Gedanken nach. Dann also schweigen. Als sie schließlich an dem Haus, wo der Junge wohnte, angelangt waren, reichte dieser ihm zum Abschied die Hand.

„Ich kenne deinen Namen noch gar nicht“, meinte Wittgenstein.

Er heiße Raymond. Auch Wittgenstein stellte sich vor. Der Junge nickte. Offenbar wusste er das schon.

„Bis hoffentlich bald, Doktor“, sagte er und lächelte. Wittgenstein nickte stumm und lächelte zurück. Bis hoffentlich bald.

Hin und wieder gab es Menschen, die er auf Anhieb mochte, und dieser Junge zählte zweifellos dazu. Als Wittgenstein ihn beim Abschied lächeln sah, freute er sich darüber, dass er ihn hierher begleitet hatte. Er brauchte Gesichter wie dieses und wünschte sich, er würde es bald wiedersehen. Zu der Zeit, da er noch Vorlesungen gegeben hatte, war es ihm wichtig gewesen, jemanden unter den Studenten zu haben, den er einfach gern sah, ja er brauchte ein freundliches Gesicht, an das er sich wenden und an dem er sich manchen Tagen festhalten konnte.

Im nächsten Moment machte er eine Frau am Fenster des Hauses aus, vermutlich die Mutter des Jungen. Wittgenstein gefiel es nicht, dass die Frau ihn und den Jungen zusammen gesehen hatte, auch ihr Blick gefiel ihm nicht. Natürlich konnte sie nicht wissen, wer er war, und vermutlich war sie etwas misstrauisch. Als die Frau ihm zuwinkte, nickte er knapp zurück und setzte dann seinen Weg fort.

Kurz darauf fing es wieder zu regnen an, was ihn allerdings nicht im Geringsten störte. Wie geplant nahm er einen Umweg und spazierte in nördlicher Richtung um Jesus Green herum.

Wie oft werde ich diesen Weg noch gehen können, ging es ihm durch den Kopf. Wie viel Zeit bleibt mir noch? Ein paar Wochen vielleicht, mehr nicht. Er dachte an das, was er geschrieben hatte. Taugte es etwas? Manchmal notierte er etwas und es gefiel ihm; und dann aber, einen Tag später, dachte er: Was für ein entsetzlicher Unsinn! Oft vernichtete er sogleich wieder, was er aufgeschrieben hatte, so auch in den letzten Tagen. Weshalb sollte er diese Aufzeichnungen auch aufbewahren? Sie stifteten nur Unheil und führten zu Missverständnissen, und manchmal warf er alles kurzerhand in den Kamin im Wohnzimmer der Bevans. Niemand sollte es in die Hände kriegen, es musste ein für alle Mal vernichtet werden.

Einmal jedoch, vor ein paar Wochen, hatte er seine Notizblätter halb verkohlt in der Küche neben dem Spülbecken entdeckt. Vieles von dem, was er da geschrieben hatte, war allerdings noch gut lesbar. Irgendjemand hatte seine Zettel offenbar wieder aus dem Kamin herausgeholt, bevor sie vollends verbrennen konnten, und nun lagen sie also hier in der Küche. Wittgenstein war fassungslos und wütend. In dem Moment, als er die halbverbrannten Blätter an sich nahm, betrat Mrs. Bevan die Küche und sah Wittgenstein mit den verkohlten Überresten in der Hand am Spülbecken stehen. Sie lächelte wie ertappt.

„Waren Sie das etwa?“, fragte er verärgert. Ihm konnte sie nichts vormachen, er sah sofort, dass kein anderer als sie dafür infrage kam. Mrs. Bevan blickte ihn an, sie schien zu überlegen, wie sie reagieren sollte. Dann sagte sie ganz ruhig:

„Herr Doktor, Verzeihung. Ich habe nicht die geringste Ahnung von dem, was Sie da schreiben. Aber ich weiß doch immerhin, wer Sie sind und was Sie alles geleistet haben. Und ich glaube, es wäre schade, das alles zu verbrennen.“

„Woher wollen Sie wissen, was ich geleistet habe?“, entgegnete Wittgenstein schroffer, als er es beabsichtigt hatte. Und dann, nach einer Pause, fragte er: „Haben Sie das schon einmal gemacht?“ Er wies auf die verkohlten Blätter in seiner Hand. „Ich meine, gibt es womöglich mehr noch davon? Dann sagen Sie es mir lieber gleich!“

Mrs. Bevan schien erschreckt von Wittgensteins Zorn. „Nein, gibt es nicht“, antwortete sie, nunmehr fast trotzig, was Wittgenstein zusätzlich reizte. Er blickte sie ernst und lange an. Um keinen Preis wollte er, dass irgendjemand seine Aufzeichnungen in die Hände bekam. Natürlich war er den Bevans für ihre Gastfreundschaft unendlich dankbar, und vermutlich war es nicht besonders höflich, Mrs. Bevan derart rüde zu begegnen, sie hatte es schließlich nicht in böser Absicht getan. Aber da er entschieden hatte, das Aufgeschriebene zu vernichten, konnte er unmöglich zulassen, dass andere sich darüber hinwegsetzten. Es war wichtig, dass man das respektierte.

„Das hier“, er zeigte auf die Überreste, „ist nichts, was es sich lohnt, zu retten. Also lassen Sie es bitte zukünftig bleiben!“

„Was macht Sie denn da so sicher?“, entgegnete Mrs. Bevan.

Wittgenstein begriff nicht, worauf sie hinauswollte.

„Ich meine, woher wollen Sie wissen, dass es sich nicht lohnt, diese Sachen zu retten?“, hörte er sie sagen. „Ich glaube, das können Sie gar nicht so ohne Weiteres beurteilen, oder? Sie haben ja Ihre Gedanken bloß aufgeschrieben!“

Er starrte sie ungläubig an. Mrs. Bevan hielt seinem Blick stand, ihm schien, als lächelte sie sogar. Schließlich stapfte er wortlos und kopfschüttelnd aus der Küche.

Sie haben Ihre Gedanken ja bloß aufgeschrieben! Das ist dermaßen absurd, dachte Wittgenstein auf dem Weg nach oben. Jede Sekunde darüber nachzudenken wäre nichts als reine Zeitverschwendung. Es waren ja wohl unbestreitbar seine Gedanken, die aus seinem Kopf stammten und somit das Ergebnis seiner Überlegungen waren! Nur ein Esel konnte daran zweifeln. Bei aller Sympathie für Mrs. Bevan, aber diesmal zweifelte er wirklich an ihrem Verstand!

Nachdem Dr. Bevan am frühen Abend aus der Praxis nach Hause kam, dauerte es nicht lange, bis er, wie immer nach seiner Rückkehr, zunächst an Wittgensteins Tür klopfte, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Sie sprachen kurz miteinander, und Wittgenstein meinte an Dr. Bevans unbefangenem Auftreten zu erkennen, dass seine Frau ihm von dem Vorfall in der Küche nichts erzählt hatte. Er war erleichtert. Herrgott, wie oft hatte er sich vorgenommen, nicht aus der Haut zu fahren, wenn ihm etwas nicht passte! Und doch passierte es ihm immer wieder. Verfluchte Reizbarkeit. Es war so höllisch schwer, sich zusammenzureißen. Warum bloß war ihm das so selten möglich? Obwohl er wusste, dass er Menschen damit schon oft verletzt und gekränkt hatte, gingen immer wieder die Pferde mit ihm durch. So wie auch an jenem Tag bei dem Vorfall mit Mrs. Bevan. Er hatte überlegt, wie er es wiedergutmachen könnte, ohne dass ihm aber etwas Gescheites in den Sinn gekommen war.

Altersmilde, Gelassenheit, innere Ruhe – all das galt für ihn nicht. Noch immer war er unnachgiebig, jähzornig und ungeduldig (gegen andere, gegen sich selbst), ein schwankendes Schiff, das nur mit Anstrengung und Aufbringung sämtlicher Kräfte einigermaßen auf Kurs blieb.

Als Wittgenstein jetzt nach seinem Spaziergang wieder vor dem Haus der Bevans stand, einem großzügigen zweigeschossigen Wohnhaus in typisch britischem Landhausstil, freute er sich auf das Abendessen mit ihnen, auf ihre Stimmen und die zwanglosen, freundlichen Gespräche.

2

Es stellte sich dann aber heraus, dass die Bevans an diesem Abend bei einem befreundeten Arzt eingeladen waren, der eine kleine Feier anlässlich seines 40. Geburtstages gab, keine drei Straßen von hier entfernt. Mrs. Bevan hatte kürzlich davon gesprochen, Wittgenstein hatte es vergessen, allerdings fiel es ihm sogleich wieder ein, als er sie jetzt, nach seiner Rückkehr, in einem Dinnerkleid im Wohnzimmer stehen sah. Er wäre also an diesem Abend allein, die beiden würden erst spät heimkehren. Natürlich hatten sie ihn kürzlich gefragt, ob er sich ihnen anschließen wolle, aber Wittgenstein hatte sofort abgelehnt. Die Aussicht, den Abend allein sein zu müssen, weil niemand da war, war zwar auch nicht unbedingt verlockend, aber weniger schlimm als in Gesellschaft mit völlig fremden Menschen. Ein Gefühl der Verlassenheit machte sich jetzt schlagartig in ihm breit, der Gedanke an die Stille in dem großen Haus, die ihn gleich erwarten würde, bedrückte ihn.

„Wenn Sie etwas essen möchten, Doktor, wissen Sie ja, wo Sie es finden.“ Mrs. Bevan lächelte, sie war beschwingt und voller Vorfreude auf den Abend, das war nicht zu übersehen. Er beneidete sie darum, sich unter Menschen wohlfühlen zu können, er selbst war in größeren Gruppen gehemmt, vor allem in Gruppen ihm fremder Menschen. Ihm war es nie wirklich gelungen, ihre Spielregeln im Umgang miteinander zu verstehen, ihre Sprache, ihre Zeichen, ihren Humor, eigentlich alles. Er hatte immer bloß seine eigene Sprache und seine eigenen Zeichen, und deshalb kam es im Umgang mit anderen stets zu Problemen, Missverständnissen, Streitigkeiten. Bis heute. Nichts hatte sich geändert.

„Wann werden Sie denn erwartet?“, erkundigte er sich jetzt bei Mrs. Bevan und hoffte, dass sie nicht schon im nächsten Moment würde aufbrechen müssen.

„In zehn Minuten muss ich gehen“, antwortete sie, „mein Mann kommt direkt aus der Praxis dorthin.“ Mrs. Bevan war eben im Begriff, das Wohnzimmer zu verlassen, als Wittgenstein fragte: „Können Sie nicht bleiben?“

Sie blieb augenblicklich stehen, drehte sich um und blickte ihn besorgt an: „Ist Ihnen nicht gut, Doktor? Soll ich Sie rasch zu meinem Mann begleiten? Noch ist er ja in der Praxis. Oder ich bitte ihn einfach, herzukommen.“

Wittgenstein stockte. Dann schüttelte er energisch den Kopf und sagte hastig: „Nein, verzeihen Sie, es war Unsinn. Gehen Sie nur.“

„Aber was fehlt Ihnen? Irgendetwas haben Sie doch. Sagen Sie es mir einfach.“

Wittgenstein bereute, dass er sie darum gebeten hatte, und winkte ab. Stattdessen fragte er: „Wer war eigentlich dieser Junge vorhin, Raymond? Ich meine, woher kennen Sie ihn?“

„Raymond ist der Sohn von Dr. Woods. Verzeihung, Doktor, ich habe Sie einander gar nicht vorgestellt. Mein Mann und Dr. Woods arbeiten zusammen in einer Praxis. Ray ist ein ausgesprochen netter Junge. Und sehr gescheit übrigens! Aber jetzt kommen Sie, ich mache Ihnen etwas zu essen.“

Zusammen gingen sie in die Küche.

„Wir haben noch etwas kalten Braten, wenn Sie mögen“, bot Mrs. Bevan an. Wittgenstein lehnte dankend ab, sein Appetit war zwar besser als noch vor Kurzem, aber jetzt war ihm nicht nach Essen zumute.

„Ray ist übrigens ein hervorragender Ruderer“, erzählte sie. „Er brennt schon jetzt darauf, später einmal an dem Boat Race teilzunehmen.“ Das Boat Race war eine traditionsreiche Ruderregatta zwischen den beiden Universitäten von Cambridge und Oxford, die einmal im Jahr, im März oder im April, auf der Themse stattfand. Wittgenstein erfuhr, dass der Junge bereits siebzehn Jahre alt war, nicht fünfzehn, wie er angenommen hatte.

Mrs. Bevan stellte ihm ein Glas Milch auf den Tisch. „Ray ist für uns wie ein Sohn. Wir kennen ihn, seit er ein Baby ist.“ Sie lächelte und es war unschwer zu erkennen, wie sehr sie den Jungen ins Herz geschlossen hatte.

„Er möchte später Architekt werden“, fuhr sie fort. „Oder er studiert Philosophie.“

Als Wittgenstein das hörte, durchfuhr es ihn. „Um Himmels Willen“, rief er, „das sollte er unbedingt bleiben lassen!“

Mrs. Bevan blickte ihn verwundert an und setzte sich zu ihm an den Tisch. „Aber warum denn nicht?“

„Damit würde er nie glücklich werden“, erwiderte Wittgenstein. „Er sollte auf jeden Fall etwas Praktisches machen. Und wenn es sein muss, dann baut er eben Häuser.“

„Aber Sie haben doch selbst Philosophie gelehrt. Sie sind Philosoph, Doktor! Wieso raten ausgerechnet Sie ihm davon ab, Philosophie zu studieren?“

Wittgenstein versuchte, sich zusammenzureißen (nicht wieder so eine Szene wie bei den verbrannten Blättern, nicht bei ihr, nicht bei Mrs. Bevan!), aber der Ton, in dem er das Folgende sprach, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, wie ernst es ihm war:

„Wenn es nach mir ginge, sollte ein Philosoph kein höheres Ansehen genießen als ein Klempner oder ein Architekt. Schwätzer gibt es massenhaft in der Philosophie, ich kenne jedenfalls viele. Ja, ich bin sicher, es gibt mehr unnütze Philosophen als schlechte Klempner.“ Mrs. Bevan lachte, als sie das hörte, aber Wittgenstein hatte es gar nicht als Scherz gemeint.

„Mrs. Bevan, hören Sie: Der Junge sollte besser die Finger von der Philosophie lassen“, fuhr er fort. „Sagen Sie ihm das unbedingt. In den allermeisten Fällen führt ein solches Studium zu nichts anderem als dazu, halbwegs gescheit über irgendeine Frage der Logik oder dergleichen zu schwafeln. Das ist alles. Und das ist weiß Gott nicht viel. Es ist wertlos. Aber etwas Praktisches zu leisten, das hat wirklich Sinn und Würde, verstehen Sie?“

So ganz wusste er Mrs. Bevans Blick nicht zu deuten. Sie starrte ihn an, ohne ein Wort zu sagen; womöglich dachte sie über das nach, was er gerade gesagt hatte oder sie hielt ihn für einen vollkommenen Esel. Vermutlich letzteres.

„Wenn es unbedingt sein muss, sagen Sie es ihm besser selbst“, meinte sie dann. „Morgen ist er wieder hier, er hat es mir vorhin angekündigt. Aber denken Sie noch einmal darüber nach, Doktor. Ich fände es schade, wenn man ihm gleich den Wind aus den Segeln nimmt.“

„Soll er meinetwegen Architekt werden, wenn ihm danach ist“, erwiderte Wittgenstein. „Architektur ist allerdings alles andere als ein Kinderspiel, ich hoffe, das ist ihm klar. Verglichen mit den Fragen, mit denen sich die Philosophie beschäftigt, ist die Architektur noch viel komplizierter. Vielleicht sollte man das dem Jungen besser nicht verheimlichen, Mrs. Bevan. Das könnte jedenfalls Schlimmeres verhindern.“

„Was macht Sie da eigentlich so sicher?“, hakte sie nach. „Waren Sie denn etwa auch Architekt?“

Wittgenstein antwortete nicht. Er hatte jetzt keine Lust, davon zu erzählen. Gerade als Mrs. Bevan etwas entgegnen wollte, schlug die Uhr im Wohnzimmer und ihr fiel ein, dass es höchste Zeit war, zu gehen.

„Verzeihen Sie, ich muss wirklich aufbrechen“, hörte er sie sagen. „Ray wird übrigens morgen zum Mittag kommen. Lassen Sie uns dann aber über etwas anderes sprechen, ja? Ich bitte Sie: Versuchen Sie nicht, es ihm auszureden. Tun Sie das für mich, Doktor?“

Er brummte etwas Unverständliches, was Mrs. Bevan zu reichen schien. Sie schrieb ihm die Telefonnummer des Freundes auf, der an diesem Abend seine Geburtstagsfeier gab; falls etwas sein sollte, möge er unbedingt dort anrufen.

In der Garderobe nahm Mrs. Bevan einen Mantel vom Haken, den er noch nicht kannte, und zog ihn an. Sie habe ihn erst vor ein paar Tagen gekauft, erwähnte sie nicht ohne Stolz und schaute an sich herunter.

„Warten Sie noch einen Moment!“, rief Wittgenstein, eilte in die Küche, nahm eine kleine Schere aus einer der Schubladen und lief zurück zu Mrs. Bevan, die in der Diele stand und nicht ahnte, was er im Schilde führte. Als er ihr von dem Mantel einen Knopf nach dem anderen abschnitt, stand sie sprachlos dabei, unfähig, sich zu rühren oder zu protestieren. Schließlich trat Wittgenstein einen Schritt zurück, in der Hand vier abgeschnittene Knöpfe und die Schere, warf einen Blick auf den Mantel, nickte zufrieden und sagte: „Die Knöpfe waren viel zu groß. Aber so ist es gut! Schauen Sie selbst!“

Nachdem Mrs. Bevan gegangen war (ihr Mantel gefiel ihr ohne die großen Knöpfe ebenfalls besser, jedenfalls hatte sie das behauptet), ging Wittgenstein die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Vorher hatte er sich in der Küche einen großen Brotkanten mit schwarzgebrannter Kruste eingesteckt, von dem er schon jetzt, auf der Treppe nach oben, ein Stück abbrach und aß. Natürlich hätte er ohne Weiteres auch in das behagliche große warme Wohnzimmer gehen können, wo im Kamin die letzten Scheite brannten, das aber schien ihm in Abwesenheit der Bevans unpassend. Als er das letzte Mal allein in ihrem Haus gewesen war, hatte er ein paar Schritte in das Wohnzimmer gesetzt, sich dann aber sogleich wieder zurückgezogen. Ohne die Bevans fühlte er sich an diesem Ort wie ein Eindringling, wie jemand, der verbotenes Terrain betritt, auch wenn er wusste, dass sie nichts dagegen hatten, dass er sich in ihrer Abwesenheit im Wohnzimmer aufhielt.

Oben angelangt, ging er ins Badezimmer und wusch sich die Hände. Dabei blickte er in den Spiegel. Alt war er geworden in den letzten Monaten, die Krankheit und die Behandlungen hatten ihre Spuren hinterlassen. Immer schon hatte er versucht, nicht eitel zu sein und sich auf nichts etwas einzubilden, weder auf seine Herkunft, Bildung oder Intelligenz noch auf seinen Einfluss und Erfolg als Philosoph oder gar auf sein Aussehen oder seine ganze Erscheinung. Wittgenstein, das waren auch seine ewiggleichen hellgrauen Flanellhosen, sein Flanellhemd, das wollene Lumberjack oder die Lederjacke. In einem Anzug oder mit Krawatte oder gar Hut dürfte ihn wohl kaum einer jemals gesehen haben. Einmal war er zu einem philosophischen Vortrag sogar in kurzen Hosen und mit Rucksack erschienen, gerade so wie ein Bergsteiger.

Jetzt und hier aber, beim Blick in den Spiegel, wusste er einmal mehr, dass es sinnlos war, gegen die Eitelkeit ankämpfen zu wollen. Letztlich war es ein Kampf gegen Windmühlen. Denn die Feststellung, dass er alt geworden war, war mehr als nur das neuerliche Gewahrwerden seines nahen Endes. Es war auch das Eingeständnis der Tatsache, dass er an Attraktivität verloren hatte. Und was, bitteschön, war das anderes als ein Zeichen seiner verfluchten Eitelkeit? Auch wenn es ihm schwerfiel, das zu akzeptieren, weil er es abgrundtief missbilligte: Es machte ihm zu schaffen. Er konnte hundert Jahre alt werden, es würde ihm nie gelingen, all das wirklich abzustreifen, das er loswerden wollte – Stolz, Eitelkeit, Unaufrichtigkeit.

Im Badezimmer des oberen Stockwerks, das die Bevans ihm überlassen hatten, während sie selbst das Bad im Erdgeschoss benutzten, stand eine großzügige, tiefgezogene, emaillierte Stahlblechwanne. (Für Wittgenstein war es im Übrigen selbstverständlich, dass das Bad morgens zu einer bestimmten Zeit eingelassen war, dass die Mahlzeiten pünktlich und immer zur selben Zeit serviert wurden; was es zu essen gab, war ihm dabei ziemlich gleichgültig, er hätte auch keine Probleme damit gehabt, wenn es immer dasselbe wäre.) Soweit er wusste, gehörten die Bevans nicht zu denen, die gern badeten, jedenfalls hatte er bis jetzt noch nicht bemerkt, dass einer von ihnen diese Wanne benutzte.

Als er sie ein paar Monate zuvor das erste Mal gesehen hatte, kam ihm unwillkürlich eine Erinnerung: Seine Schwester Margarete – Gretl – hatte eine ganz ähnliche Badewanne in ihrem Haus in Wien gehabt, in dem Haus in der Kundmanngasse 19. 1927, vor nunmehr 24 Jahren, hatte Gretl den Plan gefasst, im 3. Wiener Bezirk auf dem Gelände einer ehemaligen Gärtnerei, in einem Viertel, das alles andere als vornehm war, ein neues Haus bauen zu lassen. Es lag recht hoch über dem Straßenniveau, in dem Garten fanden sich zahlreiche schöne alte Bäume.

Gretl hatte den Architekten Paul Engelmann, mit dem Wittgenstein befreundet war, gefragt, ob er sich der Sache annehmen wolle. Engelmann hatte zugesagt und bald schon gab es, unter der Mitarbeit von Gretl, einen konkreten Entwurf; Modelle wurden gebaut und das Ganze nahm immer mehr Form an.

Dann kam Wittgenstein dazu. Er arbeitete damals seit mehreren Jahren als Volksschullehrer in Niederösterreich und ließ sich bei seinen gelegentlichen Besuchen in Wien die Pläne für das Haus zeigen. Sein Freund Engelmann hatte ihm ein Jahr zuvor in einem Brief von dem Stadthaus berichtet. Immer wieder brachte Wittgenstein bei seinen Besuchen in Wien eigene Ideen ein und Gretl war jedes Mal völlig einverstanden mit seinen Vorschlägen. Nachdem er seine Arbeit als Lehrer aufgegeben hatte und zurück nach Wien gegangen war, bot Engelmann ihm an, sich gemeinsam mit ihm um das Projekt zu kümmern. Wittgenstein war schon bald Feuer und Flamme und vertiefte sich vollends in dieses Projekt. Er veränderte hier und korrigierte dort, und es dauerte nicht lange, bis er die Planung des Hauses nahezu komplett an sich nahm. Engelmann und Gretl ließen ihm mehr oder weniger freie Hand, freilich wussten beide, dass es anders auch gar nicht möglich war, dafür kannten sie ihn zu gut. Hatte er einmal eine Entscheidung getroffen, war sie nicht mehr rückgängig zu machen.

Wie immer, wenn er sich ganz und gar in eine Sache verbohrte, hatte er auch bei dem Haus sehr konkrete Vorstellungen, an denen er unerbittlich festhielt. Zwar war das Haus in seinen Grundrissen fertig und Wittgenstein zuständig für die Fenster und Fenstergriffe, die Türen und Heizkörper, aber es kam ihm hier auf jedes Detail an: Jedes Fenster, jede Tür, jeden Heizkörper zeichnete er nach seinen Vorstellungen. Genau so und keinen Deut anders musste alles später auch ausgeführt werden! Darauf bestand er, Kompromisse kamen für ihn nicht infrage. So entwarf er beispielsweise zwei kleine Eck-Heizköper, die haargenau im 90-Grad-Winkel zueinander stehen sollten; ein kleiner, auf den Millimeter fixierter Zwischenraum sollte beide Heizkörper voneinander trennen. Wittgenstein ließ zunächst Modelle dieser Heizkörper gießen, mit denen er aber nicht einverstanden war, bis sich herausstellte, dass solche Modelle in Österreich gar nicht anzufertigen waren. Aus dem Ausland wurde dann fertige Gussware beschafft, aber auch die musste dann millimetergenau geschliffen und angepasst werden, so lange, bis Wittgenstein schließlich zufrieden war. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis die beiden Eck-Heizköper schließlich eingesetzt werden konnten.

Auch bei den Türen und Fenstern verlangte er eine Präzision, die umzusetzen nahezu unmöglich war. Wittgenstein aber blieb unerbittlich: Es musste exakt so ausgeführt werden, wie er es vorgesehen hatte! Mit acht Firmen wurde verhandelt, nur eine von ihnen glaubte, der Aufgabe gewachsen zu sein. Die Nerven der Spezialarbeiter, die dafür eingebunden wurden, lagen irgendwann blank, einer der Ingenieure bekam zwischendurch einen Weinkrampf, weil Wittgenstein kaum zufriedenzustellen war. Jeden Abend war er völlig erschöpft und ging dann häufig ins Kino, um abzuschalten und an etwas anderes zu denken. Das Ganze drohte ihm über den Kopf zu wachsen, aber an Aufgeben war natürlich nicht zu denken. Wie auch? Er hatte die Sache angefangen und er musste sie beenden.

Dann, nach zwei Jahren, war das Haus fertig, und zwar genau so, wie Wittgenstein es geplant hatte. Oder zumindest fast genau so, denn am Ende – man war schon fast mit dem Reinigen des Hauses beschäftigt – ließ er die Decke eines großen Raumes noch einmal um drei Millimeter heben. Und auch mit einem der Fenster im Treppenhaus war er nicht einverstanden, aber Gretl drängte und die Finanzen waren überdies erschöpft, das Haus hatte bis zur Fertigstellung Unsummen verschlungen. Gretls Drängen störte ihn weniger als die Tatsache, dass kein Geld mehr da war. Er selbst hatte auch keines, und so spielte er ausnahmsweise in der Lotterie: Für den Fall, dass er den Hauptgewinn erzielen würde, würde er das gewonnene Geld für die Änderung des Fensters investieren. Der Gewinn indes blieb aus und das Fenster so, wie es war.

Allerdings war das noch nicht das Ende dieser Episode. Wittgenstein setzte durch, dass die Schlichtheit des Hauses sich nicht allein auf das Äußere beschränkte, auch innen musste unbedingt auf alles Ornamentale verzichtet werden. Teppiche lehnte er ebenso ab wie Vorhänge oder Leuchter, das Licht spendeten deshalb nackte Glühbirnen. Der Boden bestand aus dunklem Stein, die Heizkörper blieben so, wie sie waren, ohne Anstrich. Gretl, die ja immerhin in dem Haus zu wohnen gedachte, hatte zunächst etwas Scheu, dort einzuziehen, es war nicht das, was sie sich vorgestellt hatte, aber sie brachte es nicht übers Herz, die Pläne und Vorstellungen ihres Bruders zu durchkreuzen. Etwa drei oder vier Jahre nach dem Bau des Hauses ließ Gretl in ihrem Haus in der Kundmanngasse die Badewanne aus Feuerton gegen eine neue austauschen, es war die gleiche Stahlblechwanne wie die, die hier in dem Badezimmer der Bevans stand. Wittgenstein konnte sich gut daran erinnern, wie Gretl ihm stolz diese freistehende Wanne präsentierte.

Im Wesentlichen gab es für Wittgenstein keinen großen Unterschied zwischen der Arbeit als Architekt und der als Philosoph. In beiden Fällen bedeutete sie für ihn vor allem eines – die Arbeit an sich selbst. Die Philosophie, mit der er sich beschäftigte, musste eine Bedeutung haben für sein Leben und seine Denkweise. Er konnte sich mit nichts beschäftigen, was ihn nicht voll und ganz erfüllte. Etwas musste darin stecken, das ihn etwas anging, ihn und sein Leben.

Die Arbeit an dem Haus in der Kundmanngasse war wie die Arbeit an einem philosophischen Problem (sogar noch um einiges mühsamer, wie er bald erkennen musste). Es galt, alles zu durchdenken, jedes Problem zu durchdringen und absolut kompromisslos eine Lösung zu finden. Diese Kompromisslosigkeit war es auch, weshalb er damals dem Schlosser, der von ihm wissen wollte, ob das Schlüsselloch wirklich auf den Millimeter genau platziert werden müsse, ein energisches „Ja!!“ entgegenbrüllte, noch bevor der Mann die Frage ganz hatte aussprechen können.

Und noch einen Grund hatte seine Reizbarkeit: Er war mit den Nerven am Ende. Die Arbeit an dem Haus, seine eigene Detailversessenheit, die stetige Absprache mit den Handwerkern, all das brachte ihn zunehmend um den Verstand.

Und doch war das Haus etwas, das ihn bis heute mit Stolz erfüllte. Er hatte es geschaffen (natürlich mithilfe aller, die noch am Bau beteiligt waren, aber er, Ludwig Wittgenstein, war für jede Türklinke verantwortlich, für jeden Heizkörper, jedes Fenster). Anders als sonst hatte er nie versucht, den Stolz auf das Haus seiner Schwester zu unterdrücken. In schwachen Stunden dachte er bisweilen daran, und dieses Gefühl war wie ein Labsal gegen die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.

3

Obwohl er bereits am Morgen dieses Tages ein kurzes Bad genommen hatte, drehte Wittgenstein jetzt den Hahn auf. Plötzlich fiel ihm völlig unvermittelt ein Satz einer seiner Schwestern ein: „Ein Kleid muss dem Körper schöntun!“

Wieso kam ihm jetzt, wo er auf dem Badewannenrand saß und zusah, wie das Wasser in die Wanne lief, diese Äußerung in den Sinn? Dass er sich überhaupt daran erinnerte! War es Hermine, die älteste Schwester, die das gesagt hatte? Oder Gretl? Und in welchem Zusammenhang war diese Äußerung gefallen? Das alles war ihm ein Rätsel.

Aber kam es nicht eigentlich immer wieder vor, dass ein Gedanke, den er hatte, plötzlich, wie aus dem Nichts auftauchte, so wie eben? Im nächsten Augenblick dachte er an die Äußerung von Mrs. Bevan vom Nachmittag: „Sie haben Ihre Gedanken ja bloß aufgeschrieben!“ Womöglich hatte sie recht. „Die Feder denkt, und mein Kopf weiß nichts von dem, was meine eigene Hand schreibt“ – das hatte er schon häufiger gedacht. Auf einmal war ein Gedanke da, fast wie ein Geschenk, und mit ihm zugleich das Staunen darüber, dass er da war. Manchmal hatte er tatsächlich den Eindruck, nicht er, sondern der Füller, mit dem er schrieb, dachte und philosophierte, während er selbst nichts weiter tat, als den Stift über das Papier zu führen und alles aufzuschreiben. Woher in aller Welt kamen diese Gedanken? Sie schienen von irgendwo hergeflogen, wie eingeflüstert.

Ob Mrs. Bevan das gemeint hatte? Nun ja, im Grunde genommen war es unwichtig. Die Aussage stimmte, und zwar haargenau! Nur das war entscheidend. Aber er musste es aufschreiben. Das, was er jetzt gedacht hatte, musste er festhalten, sonst bestand die Gefahr, dass er es vergaß.

Er drehte das Wasser aus und lief dann hinüber in sein Zimmer, nahm Zettel und Bleistift und schrieb alles auf. Er musste aufpassen, dass er deutlich schrieb, sonst würde er es später nicht mehr lesen können. Das war ihm schon mehrmals passiert; völlig verzweifelt hatte er später zu entziffern versucht, was er da notiert hatte, und manchmal war es zwecklos. Meistens wusste er zwar noch, um was es ging, mitunter aber waren die Gedanken, die er aufgeschrieben hatte, derart kompliziert, dass es auf jedes Wort ankam.

Am Ende hatte er drei Seiten voller Notizen vor sich; er wusste nicht, ob es wirklich gut war und richtig, aber er war glücklich, wie flüssig er denken konnte und wie dabei ein Rädchen ins andere griff. Vielleicht war es Unsinn, was er da geschrieben hatte, aber dann war es jedenfalls ein zusammenhängender Unsinn. Er schaute sich alles noch einmal an und machte hier und da weitere Notizen. Dann ging er zurück ins Badezimmer. Das Wasser war inzwischen nur noch lauwarm; kein Wunder, er hatte sicherlich eine halbe Stunde am Schreibtisch gesessen. Er zog den Stöpsel, ließ das Wasser ablaufen und drehte anschließend den Hahn wieder auf, bis die Wanne voll war. Dann legte er sich ein zweites Mal hinein. Es dauerte nicht lange, bis er einschlief.

Als er wach wurde, war das Wasser kalt. Wie lange lag er jetzt schon in der Wanne? Es kam ihm vor, als hätte er sich eben erst hineingelegt. Wittgenstein trocknete sich ab und zog sich an. Er schlotterte am ganzen Körper und entschied, gegen seine Gewohnheit nach unten ins Wohnzimmer zu gehen, um sich wieder aufzuwärmen.

Der Kamin, vor den er sich dann setzte und in dem die letzten Scheite vor sich hin glühten, strahlte noch etwas Wärme ab. So saß er da und fühlte, wie ihm die Wärme nach und nach in die Glieder fuhr. Anschließend ging er in die Küche, um eine Kleinigkeit zu essen. Allzu groß war sein Appetit auch jetzt noch nicht, aber er aß ein Brot mit Käse (den Braten, von dem Mrs. Bevan gesprochen hatte, ließ er unberührt) und trank ein Glas Wasser dazu.

Plötzlich klingelte es an der Tür. Wer in aller Welt konnte das sein? Er sah auf die Uhr; es war kurz nach acht. Er blickte aus dem Küchenfenster. Draußen stand der Junge vom Nachmittag. Raymond. Es regnete in Strömen. Was in aller Welt konnte er um diese Zeit wollen? Noch dazu bei dem Regen? Wollte er zu ihm, Wittgenstein? Oder zu den Bevans? Vermutlich wusste er gar nicht, dass sie ausgegangen waren. Wittgenstein überlegte einen Moment, ihn einfach draußen stehen zu lassen. Dann aber entdeckte ihn der Junge am Fenster und winkte ihm etwas schüchtern zu.

„Guten Abend, Doktor“, hörte er ihn rufen. „Ich bin`s, Ray. Mrs. Bevan hat mich gebeten, nach Ihnen zu sehen.“

4

Also wollte der Junge tatsächlich zu ihm. Na schön, dann würde er kurz mit ihm sprechen. Wittgenstein ging zur Tür und öffnete sie. Er sah den Jungen ein paar Meter von der Haustür entfernt stehen, ohne den Schutz des kleinen Vordachs. Raymond, nass von oben bis unten, machte ein besorgtes Gesicht.

„Alles in Ordnung bei Ihnen, Doktor?“

„Ja ja, es geht mir gut, danke.“

Raymond lächelte und blieb noch immer auf der untersten Treppenstufe vor der Haustür stehen. Offenbar hatte er noch etwas auf dem Herzen.

„Darf ich reinkommen?“, fragte Raymond.

Wittgenstein überlegte einen Moment. „Es regnet in Strömen“, erwiderte er, „willst du nicht besser nach Hause gehen?“

„Haben Sie einen Tee?“, fragte der Junge. „Ich friere wie ein Schneider.“

„Dann komm schon rein, Raymond.“ Was mochte der Junge wohl von ihm wollen, jetzt, da er sich vergewissert hatte, dass Wittgenstein wohlauf war?

Es war nicht zu übersehen, dass Raymond ein regelmäßiger Gast im Haus der Bevans war. Er zog seine Schuhe und die durchnässte Jacke aus und nahm beides mit ins Wohnzimmer, wo er die Schuhe vor den Kamin stellte und die Jacke zum Trocknen über einen Stuhl hängte. Wittgenstein schaute ihm dabei zu und staunte über die Selbstverständlichkeit, mit der Raymond zu Werke ging.

„Haben Sie etwas dagegen, Doktor, wenn ich etwas nachlege?“ Er deutete auf den Kamin. Wittgenstein schüttelte mit dem Kopf. „Nur zu. Aber lass den Doktor weg.“

Geschickt ordnete der Junge vier Holzscheite neben- und übereinander an, blies einige Male kräftig in die schwache Glut, und schon kurz darauf sah man die ersten Flämmchen lodern.

Wittgenstein beobachtete ihn. Der Junge hatte gute Umgangsformen, er war zwar etwas aufdringlich, aber er wusste offenbar, was er wollte (immerhin war es ihm gelungen, jetzt und hier mit ihm, Wittgenstein, im Wohnzimmer der Bevans zu sitzen, denn nichts anderes, so war zu vermuten, hatte er beabsichtigt). Nicht zuletzt gefiel ihm das Äußere dieses Jungen, seine schlichte Kleidung, sein freundliches Gesicht, die Art, wie er lächelte, und nicht zuletzt seine sicheren und trotz der kräftigen Statur auffallend geschmeidigen Bewegungen. Dieser Raymond hatte dabei so gar nichts Eitles, Selbstgefälliges; alles an ihm war völlig selbstverständlich und natürlich. Ob er wusste, wer er, Wittgenstein, war? War der Junge womöglich deshalb hier? Um ihn sich einmal aus der Nähe anzuschauen? Natürlich war sich Wittgenstein im Klaren, dass er berühmt war. Erst vorhin hatte Mrs. Bevan davon gesprochen („Aber ich weiß doch immerhin, wer Sie sind und was Sie alles geleistet haben“). Nicht selten wehrte er sich gegen den Stolz, den er bei dem Gedanken an seine Berühmtheit empfand. Aber der Stolz war meistens stärker, und an guten Tagen (oder waren es eher die schlechten?) ließ er ihn auch zu.

Gleichzeitig war er nicht so töricht zu vergessen, dass es viele Menschen gab, die er vor den Kopf gestoßen hatte und die bis heute alles andere als gut auf ihn zu sprechen waren. Mit nicht wenigen hatte er es sich ein für alle Mal verdorben. Viele Freundschaften waren zerbrochen, auch weil er sie aufgekündigt hatte. Um manche tat es ihm leid, in den meisten Fällen allerdings war es wohl nicht zu verhindern gewesen. Mitunter reichte auch eine unbedachte Äußerung des anderen, dass Wittgenstein eine Freundschaft, selbst eine langjährige, beendete; Verzeihen fiel schwer, Vergessen war praktisch unmöglich.

Dass er von vielen seiner Schüler bewundert und verehrt wurde, war ihm immer bewusst gewesen, obwohl er nie so genau wusste, wieso, denn er war überzeugt, dass keiner von ihnen auch nur ansatzweise seine Philosophie verstand. Aber es schmeichelte ihm, das musste er sich wohl oder übel eingestehen. Nicht wenige übernahmen sogar seine Art zu sprechen, seine Ausdrucksweise und Betonung. Irgendjemand hatte einmal gesagt, er erkenne sofort an der Art, wie jemand spricht, dass er es mit einem von Wittgensteins Schülern zu tun habe. Wittgenstein hielt das zwar für übertrieben, aber es mochte etwas dran sein.

Wie dem auch sei: Wenn sich herausstellen sollte, dass dieser Junge aus keinem anderen Grund hier war, um sich das „Genie Ludwig Wittgenstein“ einmal aus der Nähe anzusehen, würde er zusehen, dass er ihn schleunigst wieder loswurde.

Raymond nahm völlig selbstverständlich in dem schweren ledernen Ohrensessel Platz, in welchem Mr. Bevan für gewöhnlich saß. Wittgenstein nahm es mit Missfallen zur Kenntnis. Er selbst saß auf dem Sims neben dem Kamin.

„Wissen deine Eltern eigentlich, wo du gerade steckst?“, erkundigte er sich.

„Natürlich“, meinte Raymond und lächelte. „Allerdings bin ich glücklicherweise nicht mehr in einem Alter, in dem ich ihnen regelmäßig Bericht darüber erstatten muss, wohin ich gehe. Es war übrigens meine Mutter, die mich zu Ihnen geschickt hat.“

„So? Ich dachte, es sei Mrs. Bevan gewesen. Hast du jedenfalls vorhin behauptet.“

„Stimmt. Die auch.“ Und dann, nach einer kurzen Pause, fügte er hinzu: „Es machen sich offenbar eine ganze Menge Leute Sorgen um Sie, Doktor.“

Was sollte das nun wieder heißen? Welche Leute meinte er? Offenbar wusste dieser Junge nicht, wie es um Wittgenstein stand und warum er bei den Bevans wohnte, und er würde den Teufel tun und ihn aufklären. Er wartete darauf, dass Raymond etwas sagte, aber offenbar machten dem das Schweigen und die Stille nichts aus. Außerdem hatte Wittgenstein den Eindruck, dass der Junge über etwas nachdachte.

Der stand dann plötzlich auf und ging zum Plattenspieler. „Mögen Sie Brahms?“, fragte er und suchte in den Platten herum, bis er die richtige gefunden hatte.

„Lass das besser“, meinte Wittgenstein „und leg die Platte wieder zurück an ihren Platz!“

„Warum? Was haben Sie dagegen?“

„Weil es nicht dein Plattenspieler ist, und auch nicht deine Platte.“

Details

Seiten
186
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2024
ISBN (eBook)
9783958942882
ISBN (Buch)
9783958942875
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (März)
Schlagworte
Ludwig Wittgenstein Philosophie Romanbiografie Liebe letzte Tage Sterben

Autor

Markus Seidel, Jahrgang 1969, hat mehrere Bücher veröffentlicht (u.a. Freischwimmer/Droemer, Umwege erhöhen die Ortskenntnis/Auau Verlag) und erhielt 2000 das Alfred-Döblin-Stipendium. Er schrieb u.a. für FAZ, ZEIT, Berliner Zeitung, Frankfurter Rundschau und beschäftigt sich seit seinem Philosophie-Studium in Hannover, Wien und Berlin mit Ludwig Wittgenstein. Markus Seidel lebt mit seiner Familie in Hamburg als freier Autor.
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Titel: Die letzten Tage vor dem Schweigen