Zusammenfassung
Ein satirischer Roman für Menschen, die mit der Arbeitswelt, ihren Absurditäten und ungeschriebenen Gesetzen vertraut sind, Sarkasmus schätzen und sich den hart erarbeiteten Frust über den Job mal richtig vom Leib lachen wollen. Menschen, die das Leben in Kleinstädten kennen und sich darüber amüsieren können. Menschen, die einfach so gern lachen oder es lernen wollen.
„Ein größenwahnsinniger Gesellschaftsroman – so monumental, dass er die 'Buddenbrooks' verblassen lässt. Alles andere wäre für Gliwitzkis Buch wohl unverschämt untertrieben …“
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Der Schrei (Samstag, 30.7.22)
„Sind die denn wahnsinnig?“
Hans Karl Peters Stimme donnerte mit urwüchsiger Kraft durch alle drei Etagen bis ins Dachgeschoss des Hauses, wo das Echo mit alpiner Wucht zu seinem Ursprung zurückgeschleudert wurde. „Dem Verräter schicke ich einen Schlägertrupp nach Hause!“, dröhnte die nächste Brüllattacke und nahm denselben Weg durch Raum und Zeit. Dieses Mal allerdings kippte die Tonlage zwei Oktaven höher ins Fistelige, was der Situation eine ungewollte Komik verlieh. Völlig entgeistert starrte der Seniorunternehmer auf die verhasste Lokalzeitung Die Klemme, die wie jeden Samstag auf seinem Frühstückstisch lag. Beide Mundwinkel zuckten clownesk auf und ab, während er mit seinem rechten Zeigefinger auf die Titelzeile einstach: „Neuer hochprozentiger Topseller der Firma Peter kurz vor Markteinführung“, stand dort. Seine Gesichtsfarbe hatte innerhalb von Sekunden alle Nuancen von blass bis zum aktuellen Infarktblau durchlaufen wie ein Chamäleon auf Speed. Jahrelang hatte er dieses Geheimnis gehütet wie seinen rechten Lieblingsaugapfel und die Mitarbeiter der Peter GmbH und Co. KG zum Schweigen verpflichtet. Nun wussten alle davon: die Konkurrenz, die Kunden, die Geschäftspartner, einfach jeder. Und noch dazu erfuhren sie es aus der Zeitung – der Super-GAU für jedes Unternehmen. Als wäre das nicht schlimm genug, musste er im weiteren Text die üblichen Halbwahrheiten und Spekulationen des örtlichen Chefreporters Uwe Dittmann über sich ergehen lassen. Wofür bezahlte er eigentlich die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit, die immer von „besten Beziehungen zur Journaille“ faselte? Mit denen gab es einen ganzen Hühnerstall zu rupfen, ach was, man sollte sie alle rausschmeißen. Hans Karl Peter war in Aufruhr, der Tag war im Eimer. Die Woche. Der Monat. Die Zukunft. Die Pläne für die große Feier zum fünfzigsten Firmenjubiläum in zwei Monaten drohten wie eine Seifenblase zu zerplatzen.
Seine Frau Gisela hatte in der Küche bei seinem ersten Wutausbruch augenblicklich die Kontrolle über die Bratpfanne verloren, in der sie just die drei Spiegeleier hatte wenden wollen, die ihr Gatte traditionell – mit der Sonne nach unten – für einen standesgemäßen Anfang des Wochenendes beanspruchte. Die abrupte Klappbewegung ihres rechten Unterarmes in Richtung Oberarm hatte für eine rekordverdächtige Aufwärtsbeschleunigung gesorgt, durch die alle drei Eier synchron die Pfannenbodenhaftung verloren hatten. Auf der Schallwelle des ersten Schreis waren sie spontan nach oben geschossen, wo sie aber auf ihrem Weg jäh von der designpreisgekrönten Deckenleuchte der Marke Illuminato dekorativ aufgehalten worden waren. Dort hingen sie nun formlos herum, wobei sich das Eiweiß besser hielt als der sich langsam auflösende, nach unten tropfende Dotter. Zu schnell für einen Stalaktiten. Das alles war so rasend schnell gegangen, dass Gisela Peter den Nachhall der abwärts scheppernden Pfanne und die Furcht vor einem anschwellenden Tinnitus nicht auseinanderhalten konnte. Dieses fiese Fiepen im linken Ohr! Vor den spitzen Schreien ihres zur Hysterie neigenden Ehemannes hatte ihr Hals-Nasen-Ohrenarzt sie schon öfter gewarnt und zu akustischen Selbstschutzmaßnahmen geraten. Mit dreiundsiebzig schreien Männer offenbar häufig in Sopranlage, mögen sie in ihrer Blütezeit auch eher über einen brunftigen Bass verfügt haben. Die Unternehmergattin kam nicht umhin festzustellen, dass mit dieser Veränderung der Tonlage die Männlichkeit ihres Gatten an Souveränität einbüßte. Früher hatte sein Brummbass Geborgenheit ausgelöst. Und heute? Sie verbot sich, darüber weiter nachzudenken. Musste die Haushälterin ausgerechnet samstags frei haben, wenn ihr tyrannischer Mann sie am meisten beanspruchte? Es war doch wirklich nicht einzusehen, dass sie selbst auf der ganzen Arbeit sitzen blieb. Schließlich war sie weder zur Hausfrau geboren, noch sah sie als Unternehmergattin darin ihre Bestimmung. Auch sie hatte schließlich ein Recht auf freie Zeit. Da würde sich einiges ändern müssen.
Hans Karl Peter griff indessen zum Telefon, rief seinen Sohn Jeremias an und schnauzte in den Hörer: „Familientreffen, sofort! Und bring den Friemel mit! In dreißig Minuten hier am Tisch!“
„Soll ich Fiona auch inf...?“, fragte der verunsicherte Juniorchef.
„Nein, deine Frau kann bleiben, wo sie ist. Für Krisen taugt sie eh nicht“, ranzte ihm sein Vater ins Wort.
Wie befohlen fanden sich Jeremias, alias „Jay Pi“, wie man ihn im Unternehmen nannte, und der Geschäftsführer Johannes Friemel, alias „der Fummler“, der überall seine Finger drin hatte, im Herrenhaus der Peters ein. Das Haus lag inmitten eines bilderbuchartig angelegten englischen Gartens, dessen preisgekrönter Landschaftsgärtner von Hans Karl Peter gewissenhaft unter den vierundachtzig zur Wahl stehenden Anbietern aus ganz Europa ausgesucht worden war. Er war der teuerste von ihnen, hatte zwölf Bücher veröffentlicht und zählte die Queen – Gott hab sie selig – zu seinen Kundinnen. Wie sein Auftraggeber, hasste auch er Bambus aus tiefstem Herzen, was eine gute Arbeitsgrundlage bot. Friemel gehörte nicht zur Familie. Als erfahrener Manager war er damit beauftragt, den Junior an die Hand zu nehmen und für die Führung der Firma fit zu machen, bevor der Vater sich irgendwann aus dem Geschäft zurückziehen würde. Wann das sein sollte, blieb für alle Beteiligten im Nebel der Spekulation verborgen, der sich seit acht Jahren im Unternehmen verbreitete.
Als er fünfundsechzig geworden war, hatte Hans Karl Peter angekündigt, in zwei Jahren einen Schritt zurückzutreten und der jüngeren Generation das Ruder zu übergeben. So stand es dann auch in der Zeitung, und die Menschen zogen respektvoll ihren Hut. Diese Entscheidung war eine Befreiung für den Junior, der einfach nicht in die Fußstapfen seines Vaters passen wollte, solange dieser voranschritt. Fortan stolzierte Jeremias Peter mit geradem Rücken durch die Fußgängerzone von Oberklemmbach, sein neues, strahlendes Selbstbewusstsein reichte für die gesamte Kleinstadt. Den Rückzug hatte der Alte damit begonnen, seinem Sohn gleich bei der nächsten Betriebsversammlung das Rednerpult zu überlassen. Der Vater hatte noch vor der ersten Reihe gesessen und auf der Stuhlkante mit unerträglicher Spannung und eingefrorenem Lächeln auf die ersten Worte seines Sohnes in der neuen Rolle als Thronfolger gewartet. Als Jay Pi seinen zweiten Satz begann mit: „Ähm, ich würde gern in Zukunft, also wenn das okay für euch ist, in enger Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat …“, konnte er ihn nicht einmal selbst beenden. Sein Vater sprang mit überraschender Geschwindigkeit auf, hechtete auf das Pult zu und entriss ihm mit eisernem Griff das Mikrofon. Dies sollten vorerst die letzten Worte des Sohnes an die Belegschaft gewesen sein – und das für nun schon mehr als acht Jahre. Gleich zwei Reizwörter in einem Satz waren einfach zu viel für Hans Karl Peter – „Betriebsrat“ und dieses verbrüdernde „euch“. „Was mein Sohn Ihnen sagen will“, tönte der alte und neue König so laut, dass die Lautsprecher knarzten, „ist …“. Der Rest – Legende. Dann zog Hans Karl Peter einen Zettel mit Notizen für seine Ansprache aus der Innentasche seines Anzugsakkos – und mit ihm alle rhetorischen Register. Er legte eine fulminante Rede ohne „äh“ und „aber“ hin, ohne „du“ und „ihr“. Als er fertig war, herrschte gespenstische Ruhe. In den Gesichtern der fünfhundertdreißig Mitarbeiter konnte man den Schock ablesen, der sich wie eine Bleiweste auf ihre Schultern gelegt hatte. Der Betriebsrat, der kurzfristig innerlich um einen Meter gewachsen war, schrumpfte wieder auf Normalgröße. Das Thema Bonuszahlung für alle war von der Tagesordnung verschwunden. Vergessen war alles Rückzugsgeläut des Seniorchefs, blass und gebückt verzog Jeremias Peter sich in die zwölfte Reihe, wo seine Abteilung Betriebliches Vorschlagswesen saß, deren stellvertretenden Leiter er vertrat, wenn der mal nicht da war. Er war immer da.
„Keine Fragen?“
Hans Karl Peter erklärte die Versammlung für beendet.
Auf Geheiß seiner Frau Fiona trat Jeremias Peter schon am folgenden Tag einen „lang geplanten“ achtmonatigen Arbeitsurlaub an, um im Ausland moderne Managementtechniken zu studieren. Zu einem Bericht über seine Erkenntnisse kam es nach seiner Rückkehr ins Unternehmen nie. Der ein oder andere meinte, ihn während dieser Zeit in der Dämmerung am Rande der Stadt dann und wann gesehen zu haben, ganz sicher war sich allerdings niemand. War Jay Pi nicht etwas größer als diese gebückte Erscheinung?
Johannes Friemel hatte also eine echte Herausforderung zu meistern. Diesen Sohn eines übermächtigen Vaters zu einem souveränen und respektierten Unternehmensführer zu formen, erschien ihm als eine zum Scheitern verurteilte Mission. Aber sie war zu gut bezahlt, um sie abzulehnen. Und mit erst vierzig Jahren zum Geschäftsführer eines erfolgreichen Familienunternehmens berufen zu werden, schmeichelte Friemels Ego schon sehr. Die Gehaltsverhandlung verlief ungewöhnlich. Als Hans Karl Peter ihm die eigentliche Aufgabe schilderte, die sich hinter der Position ‚Geschäftsführer für Sonderaufgaben‘ verbarg, runzelte Friemel nur einmal leicht die Stirn. Sein Gehalt wurde in derselben Sekunde verdoppelt, der Dienstwagen – ein Maserati – mit hundert PS mehr ausgestattet und sein Büro bekam eine Minibar. Aufgefallen war Friemel dem Unternehmer als Dozent eines Seminars namens „Wer viel erbt, hat noch nichts geschafft“, an dem beide Peters teilnahmen. Der eine sollte etwas lernen, der andere wollte ihm dabei zusehen. Der Vater belegte später noch ein weiteres Seminar bei Friemel, das den Titel „Die Scherben der Erben“ trug. Spätestens da war ihm klar, dass nur ein Typ wie Friemel seinen Sohn in die Erfolgsspur bringen könnte – wenn das überhaupt möglich war. Jeremias hatte sein Abitur erst im dritten Anlauf auf einem teuren Privatgymnasium fern der Heimat im tiefsten Bayern geschafft, das auch nur mit großer Mühe. Unter ausnahmslos verhaltensauffälligen Pennälern aus besserem Hause hatte er es binnen Stunden geschafft, als stinkreicher „Pinkel“ im Dauerabo nahezu sämtliche Mobbingenergie seiner Mitschüler auf sich zu ziehen. So lernte er zu leiden, ohne zu klagen. Seine Noten reichten hinten und vorne nicht für ein Studium in Deutschland, so blieb nur der Umweg über das Ausland. Nach mehreren Gesprächen, zu denen sein Vater eigens mit einem Anwalt aus London angereist war, nahm ihn schließlich eine Privatuniversität im schottischen Hinterland für den Studiengang Master of Business Administration auf. Um nicht der teuerste Flop der renommierten University of Lagavoulin zu werden, musste Jeremias aber erst diverse Englischkurse absolvieren. Nachdem er diese innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen hatte, stellte er fest, dass an seiner neuen Uni ein harter schottischer Dialekt gesprochen wurde. Er verstand wenig bis nichts. Die anderen wiederum verstanden ihn nicht, weil sein heftiger deutscher Akzent jedes englische Wort bis zur Unkenntlichkeit verbog. Seine Bitte am Frühstückstisch „Ken ei hef se brett, pließ?“ sorgte verlässlich für gute Laune. Seine Kommilitonen nannten ihn „Se Dscherman“. Trotz dieser Hürden kam er, strauchelnd, durch die drei Jahre und kehrte mit einem international anerkannten Studienabschluss zurück, dessen Gesamtnote allerdings ein Geheimnis blieb. In seiner Heimatstadt verstanden ihn die Menschen nicht, weil er nun mit einem eigentümlichen Zungenschlag sprach, den niemand zuordnen konnte. Ein Tourist aus der Schweiz, der Jeremias Peter nach einer Straße fragte, fühlte sich von ihm veräppelt, weil dieser offenbar einen Zürcher Dialekt nachäffte. Andere hielten ihn für einen Niederländer mit einem schweren Sprachfehler oder einen Dänen, der längere Zeit in Island gelebt hatte und nun Deutsch als Fremdsprache lernte. Nach einem sechsmonatigen Intensivkurs bei einem Logopädieprofessor mit dem Spezialgebiet Interlinguale Interferenz waren die größten Stolpereien beseitigt. Nur wenn er in seinen Alpträumen laut sprach („Lett mi in pieß, ju schottisch fullidiot, or ei koll mei faser!“), fühlte sich seine Frau Fiona an verständigungslose Zeiten erinnert. Ihren Nachwuchswunsch bekam sie immerhin erfüllt. Die gemeinsame Tochter Fee wuchs in ihren ersten sechs Monaten mit zwei Sprachen auf, verstand aber nur eine davon.
Verrat
„Wer, in Gottes Namen, konnte wieder die Klappe nicht halten?“, polterte Hans Karl Peter über den Frühstückstisch, den seine Frau inzwischen abgedeckt hatte. Mit der linken Hand hielt er seinem Filius und Johannes Friemel die Zeitung entgegen, mit der anderen fuchtelte er wild herum. „Das kann uns Kopf und Kragen kosten!“ Der Topseller der Peter GmbH & Co. KG, der Quittenbrand Sausepeter, war in die Jahre gekommen und verkaufte sich nicht mehr so gut wie in der Blütezeit. Trotzdem war die patentierte Rezeptur noch immer einzigartig, und keiner hatte sie bisher erfolgreich kopieren können. Chinesische Firmen hatten immer wieder versucht, eine Billigkopie auf den Markt zu bringen, waren mit ihren Panschereien aber kläglich gescheitert. Auch mit der Sprache hatten sie es nicht leicht. Ihr Gebräu hatte schillernde Namen wie Prozente Peter oder Quid pro Po. Dennoch, der Geschmack der Konsumenten hatte sich geändert, und dem musste sich auch die Peter GmbH & Co. KG irgendwann stellen. Drei Jahre lang arbeiteten Entwicklungsleiter Jonas Mischke und sein zehnköpfiges Team an trendigen Rezepturen, mixten, probierten, verwarfen und hatten zahllose verkaterte Tage hinter sich. Im Unternehmen durfte das komplette Team keinen Kontakt mehr mit den anderen Mitarbeitern haben, „aus Gründen der Geheimhaltung“, wie es offiziell hieß. In der Kantine war es zu Zwischenfällen und Beschwerden wegen lauter Gesänge und Rangeleien mit dem Küchenpersonal gekommen. Einige „Rühr-Rudis“, wie man sie liebevoll nannte, hatten mehr Hochprozentiges in den Nachspeisen gefordert. Zwei Mitarbeiter mussten noch vor Ende der Entwicklungsphase einen Alkoholentzug antreten. Ein anderer, Fabian Dengler, nahm sich regelmäßig einige Kanister der Testsubstanzen mit in sein Home-Office, wo er sich hingebungsvoll dem Probieren widmete. Sein zwölfjähriger Sohn folgte dem neuen süßlichen Geruch im Haus und schlürfte mit einem Strohhalm aus diesem und jenem Kanister. Erst einmal, dann öfter. Im Englischunterricht hatte er plötzlich einen amerikanischen Akzent und endlich auch die dafür nötige Lockerheit im Mundwerk. Der Englischlehrer war entzückt. Als sich aber der Klassenlehrer bei den Eltern meldete, weil der Junge statt Büchern seinen Schlafanzug im Ranzen hatte, ständig einschlief, komisch roch und in den Pausen kleine Flaschen an Mitschüler verkaufte, sah sich seine fulltime arbeitende Mutter nach zwei Jahren erstmals wieder in seinem Zimmer um. Neben einer beträchtlichen Summe Bargeld fand sie hunderte kleine Flaschen und Etiketten, Versandkartons mit internationalen Adressen und eine Gewerbeanmeldung mit der gefälschten Unterschrift ihres Mannes. Sie hatte den Schock noch nicht verdaut, als eine Mitarbeiterin des Jugendamtes in Begleitung der Polizei an der Haustür klingelte. Die Selbsthilfegruppe der Anonymen Alkoholiker hatte sich aufgrund eines seltsam hohen Zulaufs von Zwölfjährigen eingeschaltet. Man war besorgt.
„Brauchen wir jetzt einen Privatdetektiv, der im Unternehmen die undichte Stelle findet, oder was?“, fragte Hans Karl Peter die beiden schweigenden Männer, die sich nicht trauten, ihren Kaffee anzurühren. Johannes Friemel dachte an den Mann mit den Testkanistern auf dem Parkplatz und fragte sich, was er wohl damit vorhätte. Einer der beiden Mitarbeiter, die in der Entzugsklinik waren, war seither nicht mehr im Unternehmen aufgetaucht. Vielleicht hatte dieser ja …
„Wir fragen am besten unsere PR-Frau, woher die Lokalfuzzis das wissen können“, fuhr der Alte fort.
„Vielleicht hat die sich verplappert. Wäre ja nicht das erste Mal.“
Als Helen Spieker, die Leiterin der Abteilung für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, die Telefonnummer ihres Chefs auf dem Display ihres vergoldeten Smartphones sah, war sie sofort hellwach. Der Abend in der Cocktailbar war länger und süffiger geworden als geplant, ein Drink war nahtlos in den nächsten übergegangen. An den Rest konnte sie sich nicht erinnern. Sie schob den Mann, der neben ihr am Stehtisch in der Küche stand und sich gerade wieder an ihrem knappen Rock zu schaffen machte, brüsk zur Seite. „Ähm, du, ich glaube, du musst jetzt gehen.“ Wie war sein Name doch gleich? Hatte sie ihn überhaupt je gewusst?
„Kevin heiße ich, schon vergessen?“, zischte der eben noch Namenlose, griff beleidigt nach seiner Jacke und wankte in Richtung Wohnungstür.
„Brings nächse Ma ws von euam Peterjesöff mit, soll ja gut knalln“, brüllte er, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
Helen Spieker wurde spontan speiübel. Hatte sie die Kontrolle über sich verloren und Dinge erzählt, die nicht für andere Ohren bestimmt waren? KO-Tropfen vielleicht? „Spieker“, sang sie ins Telefon, „Guten Morgen, Herr Peter, schön Sie zu…“
„Ihre Säuselei können Sie sich sparen, Frau Spieker! Haben Sie schon das Schmierblatt gelesen?“, fuhr er sie an.
Hatte sie nicht, und das war ihr peinlich.
„Ähm, ich …“
„Was treiben Sie eigentlich, wenn Sie nicht im Unternehmen sind?“, unterbrach sie Peter schroff. Wusste er bereits von ihren Eskapaden?
„PR-Leute sind immer im Dienst, Frau Spieker. Vielleicht sehen Sie sich nochmal Ihren Arbeitsvertrag an. Sie lesen jetzt sofort die Zeitung und kommen dann zu mir. Eine Erklärung wäre gut.“
Das Gespräch war beendet.
Hektisch suchte Helen Spieker auf ihrem Smartphone nach der Online-Ausgabe der örtlichen Tageszeitung. Bestürzt las sie den Artikel, in dem wie immer nicht viel stimmte. Aus diesem Grund hatte sie die Lokalpostille schon längst abgehakt, weil selbst die einfachsten Dinge anscheinend eine Überforderung für die selbstherrliche Redaktion waren. Sorgfalt und genaue Recherche waren offenbar Fremdwörter für diese Autodidakten, denen ein guter Text so leicht von der Hand ging wie einem Automechaniker eine Sahnetorte. Sie hatte ihre Karriere im Blick und befasste sich lieber mit der Wirtschaftspresse – und nun das: „Eine neue Rezeptur mit ungewöhnlichen Kräutern. Ein Schnaps mit unbändiger Power im Abgang und ein Muss für jede Kneipe“, wurde eine nicht namentlich genannte Quelle zitiert. In nur einem Monat würde der Verkauf offiziell starten. Woher hatten die das? Die Großkunden der Peter GmbH & Co. KG würden entrüstet sein, diese Information nicht persönlich von ihrem Lieferanten erhalten zu haben, der Vertriebsabteilung standen viele unangenehme Gespräche bevor. Helen Spieker konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wo im Unternehmen eine undichte Stelle existierte. Auf den Bruch der Geheimhaltungsvereinbarung stand eine saftige Geldstrafe. Welcher Trottel setzte da seinen Job aufs Spiel?
Eine halbe Stunde später parkte sie ihren Porsche zwischen Johannes Friemels Maserati und dem E-Bike von Jeremias Peter. Die Führerscheinprüfung hatte der Sohnemann auf Grund seiner Rechts-links-Schwäche selbst in fünf Anläufen nicht bestanden. Löwenrunde, dachte sie. Bevor sie das Esszimmer betrat, nahm sie den Umweg durch die Küche und begrüßte anstandshalber zuerst die Dame des Hauses, der das sichtlich unangenehm war. Spiekers Blick streifte kurz das abstrakte Ensemble an der Deckenleuchte, wurde aber von Frau Peters gelb verklebten Haaren abgelenkt. Sie sagte jetzt besser nichts. Statt einer Begrüßung pfiff Hans Karl Peter sie an: „Wie viel Kaffee müssen wir noch trinken, bis Sie endlich antanzen? Hat Ihr Hobel etwa zu wenig PS?“
Er wies ihr einen Stuhl zu. Zu dem feucht-gelben Fleck auf der linken Schulter ihres grauen Armanikostüms sagte keiner der Männer etwas, aber das Standing der Pressesprecherin war augenblicklich ruiniert. Manchmal reicht Eigelb an der falschen Stelle zur falschen Zeit. Das Treffen verlief ergebnislos, außer den zu erwartenden Schimpftiraden des Alten passierte wenig, und es kam auch sonst niemand zu Wort. Den Sonntag brauchten dann alle Beteiligten zur Erholung. Hans Karl Peter verabredete sich zum Golf mit dem Bürgermeister, Jeremias ging mit seiner Familie Minigolf spielen, und Johannes Friemel verzog sich in die Sauna. Helen Spieker powerte sich im Fitnessstudio aus und gönnte sich eine kosmetische Behandlung. Im Suff hatte dieser Calvin, oder Kevin – wie hieß er doch gleich? – gelallt, sie sähe für ihre fünfundvierzig noch ganz knackig aus. Sie war siebenunddreißig und musste etwas tun. Dringend.
Auftakt
Schon seit sechs Uhr morgens saß Nadine Grosfuß an ihrem Schreibtisch und brütete über einer Excel-Tabelle auf ihrem Computerbildschirm. Als Assistentin der Geschäftsführung hatte Hans Karl Peter ihr die Planung der Feier zum fünfzigsten Firmenjubiläum übertragen. Als er diese Nachricht in einem Meeting mit den Abteilungsleitern verkündete, entgleisten in manchen Gesichtern ganze ICE-Züge. Marketingleiter Björn Paulsen fühlte sich ebenso für die Aufgabe berufen wie Helen Spieker. „Frau Grosfuß wird ein Team zusammenstellen, das dieses wichtige Projekt gemeinsam vorbereiten wird“, beschloss Peter. Die arrogante Grosfuß sollte den anderen also auch noch Weisungen erteilen? Helen Spieker hatte nicht genug Platz im Magen, um all ihren Groll herunterzuschlucken. Björn Paulsen war in Gedanken bereits zurück in Dänemark. Der Personalchef Jobst Anstand hatte ihn erst vor einem Jahr aus dem Norden abgeworben, wo er zu dieser Zeit stellvertretender Marketingchef des größten dänischen Herstellers von Kräuterschnäpsen und ein echter Fang war. Seine ungewöhnlichen Werbekampagnen hatten für Aufsehen gesorgt und seinem Arbeitgeber gigantische Umsatzsprünge eingebracht, und der Konkurrenz Kopfzerbrechen. Ein Werbespot wurde sogar vom Internationalen Marketingverband mit dem Goldenen Händchen belohnt. Hauptdarsteller war ein Stechinsekt: Der Spot zeigte eine Mücke, die in ein Schnapsglas mit dem hochprozentigen Topseller „Äquator“ fällt, sich mit letzter Kraft rettet und auf dem Unterarm eines Priesters auf dem Weg in die Kirche landet. Sie sticht ihn durch die Kutte, worauf der Geistliche – augenblicklich vollständig alkoholisiert – in den Gottesdienst stürzt, auf die Kanzel kriecht und die Predigt seines Lebens hält. Über vorehelichen Sex. Die Gemeinde brüllt „Zugabe“, und beim Abendmahl inhalieren alle den Atem des Priesters und wanken daraufhin laut singend Arm in Arm aus der Kirche, die von da an jeden Sonntag brechend voll ist. Der Werbespot hatte weitreichende Konsequenzen: Die dänische Kirche beschloss auf einer Klausurtagung, sich beim Abendmahl nicht länger auf das Verabreichen von Wein zu beschränken, und der den Priester mimende Laienschauspieler, Carsten Knudsen, bekam einen Vertrag für die Hauptrolle in einem amerikanischen Kinofilm mit dem Titel One drink too many.
Am Tisch neben Nadine Grosfuß saß der Azubi Lukas Neubert, den sie damit betraut hatte, eine Einladungsliste vorzubereiten.
„Mit Titel, Anrede, Vornamen, Namen, Adresse und so weiter“, erklärte sie ihm.
„Wie soll ich die Adressen anordnen?“, erwiderte Neubert schüchtern.
„Nach Schuhgröße, Herr Neubert, nach Schuhgröße!“, ätzte sie.
Bei der Zusammenstellung des Teams hatte sie weitgehend freie Hand bekommen, aber der neue Azubi war bei der obligatorischen Visite der Abteilungen aktuell ihr zugeteilt und musste also eingebunden werden. Es war schon schwer genug, die beleidigte Streberin Spieker und den gekränkten Überflieger Paulsen in die Spur zu bringen, einen Grünschnabel dabei zu haben, überforderte ihre Geduld. Lukas Neubert schaute sie irritiert an.
„Aber, woher soll ich denn die Schuhgröße …?“
„Das war ein Scherz, Neubert, ein Scherz!“, bellte sie und konnte gerade noch die Lautstärke drosseln, als die Tür aufflog und Hans Karl Peter zornesrot vorbei in sein Büro stürmte. Wochenenden taten ihrem Chef nie gut, das wusste Nadine Grosfuß und dachte sich nicht viel dabei. Für heute war wieder ein Meeting des Teams „Goldene Fünfzig“ geplant, der Titel war ihre Idee. Dafür musste noch einiges vorbereitet werden. Neubert sollte Getränke für sieben Personen in den großen Besprechungsraum stellen, und sie genoss es, diese Art von Aufgabe abzugeben und einmal nicht diejenige zu sein, die den Gästen ihres Chefs Getränke und Gebäck vor der Nase drapieren und dabei womöglich auch noch dämliche Kommentare kassieren musste.
„Was trinken die denn so und wo stehen die Drinks?“, fragte der Azubi, froh über eine praktische Aufgabe.
„In der Teeküche hängt ein Zettel für Meetings, da stehen die Getränke pro Person drauf. Gehen Sie bitte auf dem Weg zur Küche noch in der Vertriebsabteilung vorbei und erinnern Herrn Guth an die Besprechung gleich um zehn Uhr. Der vergisst das gern mal.“ Die zwei Wochen in der Vertriebsabteilung hatten Lukas Neubert gut gefallen. Gisbert Guth und seine Truppe waren nicht nur erfolgreich, sondern auch cool. Um sich mit dem Hauptprodukt der Peter GmbH & Co. KG vertraut zu machen, musste er den Drink in seinen fünf verschiedenen Varianten probieren. Das war der beste Tag. Wie er damals nach Hause gekommen war, wusste er nicht mehr.
„Der Frischling, siehe da!“, rief die Vertriebsassistentin Julia Bende, als er in das Empfangszimmer des Vertriebschefs trat. „Hast du Sehnsucht nach uns?“
Bevor Lukas Neubert antworten konnte, stupste ihn etwas am rechten Bein. Er erschrak und blickte nach unten. „Das ist Buschido, unsere gute Seele“, verkündete Julia Bende.
„Montags ist er meistens bei uns und frisst sich erstmal satt.“
Der Hund hatte die Größe eines Terriers, mit dem er optisch aber nichts gemein hatte. Sein schwarz-weiß geflecktes Fell erinnerte mit seinen Locken an ein Schaf, das einem Graffitikünstler bei der Arbeit im Wege gestanden hatte. Freundlich und voller Erwartung blickte Buschido ihn an und wedelte mit dem kurzen Schwanz.
„Er meint, du müsstest ihn streicheln“, sagte Julia Bende.
„Ok.“
Vorsichtig ging Lukas Neubert in die Hocke und strich dem Hund mit der rechten Hand sanft über den Kopf. Schlapp! Eine Hundezunge fuhr ihm über das Gesicht.
„Er mag dich!“, jubelte sie.
Bushido rieb sich genüsslich an Lukas Neuberts Hosenbein.
„Woher hat der Hund seinen Namen?“
Buschido (einige Tage zuvor)
Eines Tages war der Hund einfach da. Woher er kam und wem er gehörte, wusste niemand. Der Gärtner des Unternehmens, Bert Grabowski, drehte gerade seine Abendrunde um die zehn firmeneigenen Gewächshäuser, in denen die geheimen Kräuter für die Entwicklung neuer Getränke angebaut wurden. Die Quittenbäume standen zu Hunderten am anderen Ende der Stadt, ebenfalls streng bewacht. In den Gewächshäusern eins bis sieben wuchsen bekannte Pflanzen wie Schafgarbe, Beifuß, Löwenzahn, Johanniskraut, Spitzwegerich, Ringelblume, Labkraut, Fenchel, Giersch und Anis. Entscheidend für die Ausnahmequalität und den einzigartigen Geschmack des Sausepeter waren jedoch die Gewächse in den Häusern acht und neun, zu denen nur wenige Personen Zutritt hatten: Außer Grabowski waren das lediglich der Entwicklungschef Jonas Mischke, der Leiter des Qualitätswesens Lasse Gudsen und natürlich Hans Karl Peter höchstpersönlich. Für das neue Kultgetränk, an dem die Rühr-Rudis arbeiteten, war eigens das Haus Nummer zehn errichtet worden, in dem exotische Kräuter gezüchtet wurden. Ein ganz besonderes hatte Jonas Mischke illegal aus der Mongolei mitgebracht, wo er mit dem Oberklemmbacher Bogenschützen e.V. einen Lehrgang „Reiter und Bogen“ absolviert hatte. Da er dabei allerdings ständig vom Pferd fiel, hatte man ihm ein Pony zur Verfügung gestellt, das auf Befehl anhielt. So konnte Mischke beruhigt beide Füße absetzen und aus dem Stand schießen, ohne abzusteigen. Das galt immerhin noch als „Schießen vom Pferd“, und er entging dem Gesichtsverlust vor den anderen zehn Vereinsmitgliedern. Das blau blühende Kraut mit dem markant-herben Geruch nach Tundra fand er zufällig, als er wieder einmal aus dem Sattel gefallen und mit dem Gesicht nach unten gelandet war. Es hatte ihn sofort inspiriert. Er trocknete ein Büschel über dem Lagerfeuer, atmete genüsslich den Duft ein und erzählte den anderen am nächsten Morgen mit leuchtenden Augen von den wildesten Träumen. Alle schnupperten, alle träumten. Das Kraut musste mit. Einen Namen hatte es nicht, was es umso geheimnisvoller machte. Es brauchte wenig Wasser und ernährte sich offenbar von Insekten, daher wuchs es nur im Sommer.
Bert Grabowski hörte in der Nähe von Haus neun ein Geräusch, das ihn stutzen ließ – eine Art Fiepen wie von einer rostigen Tür, die sich langsam öffnete. Nur war da nirgends eine Tür. Dem Geräusch folgend, näherte er sich einem Busch, der schon länger hätte gestutzt werden sollen. Stille. Er wollte gerade wieder gehen, als es wieder anfing zu fiepen. Jetzt kam ihm das Geräusch sogar etwas traurig vor. Als er mit der Stabtaschenlampe in den Busch leuchtete, sah er zuerst nur Fell, dann Augen, die ihn scheu ansahen. Angst vor Hunden hatte er nie gehabt. Er kniete sich vorsichtig hin. Als Besitzer zweier Beagle hatte er immer Leckerli in seiner Hosentasche, fand ein paar, hielt sie dem Hund hin und sprach das verängstigte Tier an. „Wie kommst du denn hierher, Kleiner? Hast du kein Zuhause?“ Es dauerte ein paar Minuten, bis der Hund sich traute, die angebotenen Happen anzunehmen. Sie schmeckten ihm, und er wollte mehr. „Du hast Hunger, was?“, fragte Grabowski, der die Not sofort erkannte. Bevor er zur Spätschicht kam, hatte er noch schnell das Nötigste für Zuhause eingekauft, auch Hundefutter. Seine beiden Hunde waren süchtig nach den Pasteten der Marke Schlappi, von denen er eine Vorratspackung im Büro verstaut hatte. „Warte, ich bin gleich zurück.“ Er ging zu dem Blockhaus, in dem sich sein Schreibtisch befand. Dort angekommen, nahm er eine Dose der Sorte „Wild und Lachs“ aus seinem Rucksack, drehte sich um und wäre beinahe über den Hund gestolpert, der ihm auf leisen Pfoten gefolgt war. Hunde wissen instinktiv, wem sie vertrauen können. Die Dose mit dem Fleisch vertilgte der Hund schnell, eine zweite auch. Das angebotene Wasser nahm er ebenfalls gern. So gesättigt legte er sich vor des Gärtners Füße und schlief auf der Stelle ein. Grabowsky kratzte sich am Kopf. Was war nun zu tun, rätselte er? Es war fast dreiundzwanzig Uhr, er konnte zu dieser späten Stunde nicht einfach beim Tierheim anrufen. Dort hätte man eventuell gewusst, ob irgendjemandem ein Hund entlaufen war. Er trug kein Halsband. Einen Chip unter dem Fell konnte man vielleicht finden und auslesen. Das musste aber warten. Er wollte das Tier nicht stören, doch mit nach Hause nehmen konnte er es auch nicht. Vertreiben? Das brachte er nicht übers Herz. Vielleicht lief er ja von allein weg. Bis sechs Uhr morgens würde seine Schicht noch gehen. Neben dem Blockhaus befand sich ein großer Schuppen für die Gartengeräte, dessen Tür immer offenstand. Dort lagen auch einige alte Decken, aus denen Grabowski ein weiches Lager baute, trocken und warm. Eine Schale mit Wasser stellte er dazu. Der Hund schlief so tief, dass er ihn einfach auf den Arm nehmen und in den Schuppen tragen konnte. Da lag er nun in Sicherheit, und Bert Grabowski ging wieder seiner Arbeit nach. Hin und wieder schaute er nach ihm, der Hund schnarchte leise und bewegte sich keinen Millimeter. Der friedliche Anblick stimmte den Gärtner milde – er freute sich, diesem lieben Vierbeiner helfen zu können. Als er seine Schicht beendete, sah er ein letztes Mal in das Holzhaus: friedliche Ruhe. Sein junger Kollege Fabian Kluge löste ihn pünktlich ab und staunte nicht schlecht, als Grabowski ihm erzählte, was passiert war. Er versprach, ein Auge auf den Hund zu haben. Als er später nach ihm sah, war der allerdings verschwunden. Ernsthafte Sorgen machte sich der Gärtner aber nicht, denn der Hund war wohl wieder nach Hause gelaufen. Gut so. Irgendwie hatte der Hund dann aber den Weg durch den Nebeneingang des Hauptgebäudes gefunden. Meistens ließen die Raucher aus Nachlässigkeit die Tür offen, und er hatte die Chance ergriffen. Neugierig stromerte er über den Flur im Erdgeschoss und lief direkt in das erste Büro. Es war niemand da. Er schnüffelte hier und da und fand schließlich auf einem Stuhl in Schnauzenhöhe eine Tüte mit der Aufschrift „Der Bäcker Ihres Vertrauens“. Der Inhalt duftete verlockend. Julia Bende hatte die Angewohnheit, auf dem Weg zur Arbeit beim Bäcker zu halten und ein belegtes Brötchen zu kaufen, das sie dann im Büro aß. Heute gab es Lachs mit Ei. Essen am Arbeitsplatz hatte der Senior zwar per Aushang verboten, aber niemand hielt sich daran. Der Hund schon gar nicht. Als sie zurück in ihr Büro kam, waren von ihrem Brötchen nur Papierfetzen und Krümel auf dem Teppich neben ihrem Schreibtisch geblieben. „Was zum …?“, rief sie, kam aber nicht weiter. Ein leises Winseln ließ sie innehalten. Sie erblickte unter ihrem Schreibtisch zwei schüchterne Augen, die sie schuldbewusst anschauten. Ihr Herz wurde sofort weich.
„Wer bist du denn? Wie bist du hier reingekommen?“
Der Hund erhob sich und kam vorsichtig näher. Von dieser Frau ging offenbar keine Gefahr aus. Und leckeres Futter hatte sie auch.
„Hey, kommt mal alle rüber!“, rief die Vertriebsassistentin in das Großraumbüro nebenan, in dem die fünf Vertriebskollegen saßen, einer war gerade draußen in der Raucherecke.
„Wir haben Besuch.“
Die Truppe freute sich über die willkommene Abwechslung. Keiner kannte das Tier, niemand wusste, ob jemand im Unternehmen neuerdings seinen Hund mit zur Arbeit nahm. Auch das war streng verboten, weil Hans Karl Peter eine Hundehaarallergie hatte. Nun wollte jeder den süßen Fratz streicheln, und der ließ es sich gern gefallen. Als Letzter kam Klaus Wörner mit rauchigem Atem dazu. „Ach, das ist der Hund?“ Die anderen sahen ihn fragend an.
„Garten-Kluge hat mich eben gefragt, ob ich einen gesehen hätte. Der hat draußen im Schuppen gepennt und war dann weg. Grabowski hat ihn gestern Nacht unter einem Busch gefunden, ist wohl abgehauen.“
„Er braucht einen Namen! Wir können ihn doch nicht Hund nennen!“, rief Julia Bende.
Sofort flogen die verschiedensten Vorschläge durch den Raum – man kann Vertrieblern keinen Mangel an Kreativität vorwerfen: Wilhelm Busch, Buschmann, Buschinger, Buschi Obermeyer waren nur einige der Ideen. Vertriebsleiter Gisbert Guth, der die Szene unbemerkt aus dem Hintergrund beobachtetet hatte, verkündete schließlich trocken: „Buschido!“ Und Zack, das war es dann. Der Name war sofort Konsens. Dass Buschido eine Hündin war, bemerkte im Eifer des Gefechts keiner von ihnen. Alle hatten zunächst nur Augen für sein, ihr, süßes Gesicht. Eilig wurde eine Schale mit Wasser organisiert, die Buschido gierig leer schlabberte. Und dann noch eine zweite. Kurz darauf wurde die Hündin unruhig, rannte aus dem Büro und kam nicht wieder. Das war es erstmal mit ihrem Antrittsbesuch. Aber sie war offenbar stubenrein. Am Abend fand Bert Grabowski im Geräteschuppen einen schlafenden Hund, links eine Schale mit frischem Wasser, rechts eine mit Futter darin. Läuft, dachte er zufrieden.
Team Fünfzig
(immer noch Montag, 1.8.22)
„Ich müsste mal kurz zu Herrn Guth und ihm was von Frau Grosfuß sagen“, sagte Lukas Neubert, noch immer die rechte Hand auf Buschidos Kopf.
„Du meinst, du MÖCHTEST ihm ETWAS AUSRICHTEN?“, fragte Julia Bende, die eine Ausbildereignungsprüfung hatte. So viel Korrektur an seiner Ausdruckweise musste schon sein.
„Ja, genau“, erwiderte der junge Mann.
„Worum geht es denn, wieder diese Firmenfeier?“
Sie wartete nicht auf die Antwort und ging in Gisbert Guths Büro, um den Besuch anzukündigen. Kurz darauf hörte Lukas Neubert durch die geschlossene Doppeltür aus schwerem Massivholz eine laut schimpfende Männerstimme und Wortfetzen wie „unfassbar dämlich“, „tibetanische Gebirgsziege“ und „Tippse mit tonnenweise Schminke in der Fr…!“ Das letzte Wort wurde von einem lauten Rumms übertönt. War jemand gestürzt? Hochrot kam Julia Bende zurück in ihr Büro.
„Das ist kein guter Moment, er ist beschäftigt“, sagte sie. „Was soll ich ihm ausrichten?“
„Ok. Frau Grosfuß hat gesagt, ich soll ihn an den Termin in einer Stunde erinnern, weil er den immer vergisst“, sagte der Azubi unbedarft.
Julia Bende wusste, wenn sie das so an ihren Chef weitergeben würde, wäre ein unkontrollierbarer Wutausbruch vorprogrammiert. Die Grosfuß und Guth, das ging gar nicht. Spätestens seit der letzten Familienfeier im Erlebnispark Dinoland war das Verhältnis der beiden auf Lebenszeit zerrüttet. Unter den gruppendynamischen Spielchen, die sich die Grosfuß ausgedacht hatte, durfte Reise nach Jerusalem nicht fehlen. Am Ende stürzten Nadine Grosfuß und Carolin Guth gleichzeitig auf den letzten Stuhl zu und mit diesem zu Boden. Unter dem allgemeinen Gelächter – alle hatten schon reichlich getrunken – rappelten die beiden sich auf, und der Blick der Chefassistentin fiel auf die zerknitterte Bluse der Ehefrau des Vertriebsleiters.
„Ihre Bluse ist ja genauso schlecht gebügelt wie die Hemden Ihres Mannes“, raunte sie spitz. „Die Haushälterin von Herrn Peter hat sicher ein paar gute Tipps“, fügte sie an und töckerte auf ihren Pfennigabsätzen zur Bar.
Carolin Guth verließ die Feier noch vor ihrem Mann per Taxi. Das fiel auch Hans Karl Peter auf, der seinen Vertriebschef am Folgetag zur Rede stellte.
„Fühlt Ihre Frau sich in unserem Kreis nicht wohl, Herr Guth?“, wollte er wissen. „Ist sie bessere Gesellschaft gewohnt?“
Das saß. Auf dem Weg zurück in sein Büro musste Guth an Nadine Grosfuß vorbei. Die studierte demonstrativ auf ihrem Bildschirm ein großes und gut sichtbares Foto mit dem Titel „Bügeln für Amotoriker“. Hätte Guth jetzt jemandem seine Gefühle beschreiben sollen, hätten ihm die Worte gefehlt. Seine Frau hatte ihm mit der Scheidung gedroht, sollte er noch einmal das Wort ‚Familienfest‘ erwähnen oder sie zu einem solchen einladen. Bügeln solle er seine Klamotten ab nun gefälligst selbst, schlechter als sie könne er das sicher nicht. Die Grosfuß umzubringen, wäre keine Lösung, aber ganz sicher wohltuend.
Das Planungsteam für die Jubiläumsfeier traf nach und nach ein. Die langen Tische waren im Rechteck angeordnet, an der kurzen Seite vor Kopf thronte Nadine Grosfuß und hatte diverse Stapel mit Listen und Ordnern vor sich liegen. Sie wartete bis exakt zehn Uhr und hakte dann mit bedeutungsvoller Miene die Teilnehmerliste ab: Personalleiter Jobst Anstand, Marketingleiter Björn Paulsen, die Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit Helen Spieker, der Betriebsratsvorsitzende Gundolf Krachnitz, der Azubi Lukas Neubert. Alle waren da und nahmen Platz. Links und rechts von ihr blieben jeweils drei Stühle frei. „Dann fehlt ja wie immer nur noch Herr G…“
„Wo der nur wieder bleibt?“, rief Gisbert Guth, der im selben Moment aufreizend lässig durch die Tür kam und sich in den Stuhl neben Helen Spieker warf. Er knuffte sie an und flüsterte: „Wie halten wir das nur ohne Koks aus?“ Spieker kicherte und dachte an den Abend zuvor, von dem sie allerdings nicht mehr viel wusste. Dieser Calvin, oder Kevin, hatte gute Quellen. „Dann können wir ja anfangen. Guten Morgen, Frau Spieker und meine Herren“, eröffnete die Chefassistentin formvollendet das Meeting.
„Ich darf Ihnen von Herrn Peter sagen, dass er bis Ende dieser Woche einen kompletten Plan für die Jubiläumsfeier erwartet, den er sich dann am Wochenende durchlesen wird. Schließlich sind es nur noch knapp zwei Monate.“
Die anderen stöhnten leise in sich hinein. Dann verteilte sie Listen mit Aufgaben für alle. Helen Spieker sollte eine Einladungskarte entwerfen und eine Liste mit möglichen Aktionen und Highlights machen. „Und vergessen Sie dieses Mal nicht wieder die Hüpfburg für die Kleinen“, belehrte sie die Grosfuß. Der Würgereiz wurde fast übermächtig. Der Personalchef sollte eine Liste mit allen Mitarbeitern und Familien bereitstellen. Björn Paulsen sollte einen kleinen Film erstellen, der dann im firmeneignen Intranet gezeigt werden würde – eine herzliche Einladung von Hans Karl Peter persönlich. Gisbert Guth wurde die Einladung der wichtigsten Kunden übertragen, Lukas Neubert sollte gut zuhören. Nur Betriebsratschef Gundolf Krachnitz bekam keine Aufgabe, es war schon viel, wenn er nicht störte. Immerhin darin waren sich alle – unausgesprochen – einig. Dann waren alle Aufgaben verteilt. Niemand wusste, wohin mit dem Ärger über die Unterforderung und die Oberlehrerattitüde von „Big Foot“, wie die anderen im Unternehmen sie verächtlich nannten. Und so griffen alle in einer synchronen Übersprunghandlung gleichzeitig zu den bereitgestellten Getränken und Keksen. Lautes Klappern mit Geschirr, hektisches Rühren mit Löffeln, krachende Kekse in Mündern. Nadine Grosfuß musste warten – was ihr gar nicht passte. Zuerst prustete Gisbert Guth angewidert seinen Kaffee zurück in die Tasse, von wo aus sich die Hälfte der Füllung auf dem Tisch und dem Versacekostüm von Helen Spieker verteilte. Sie sprang auf und griff sich zur Rettung ihres teuren Fummels alle Servietten vom Tisch. Jobst Anstand pulte sich die übelschmeckenden Kekskrümel aus den Zahnlücken und legte sie auf seine Untertasse. Teetrinker Paulsen blickte irritiert in die Runde. Gundolf Krachnitz, der vor einigen Jahren seinen Geschmacksinn verloren hatte, merkte rein gar nichts. Er aß und trank alles.
„Wollen Sie uns vergiften?“, krächzte Gisbert Guth mit rotem Kopf. Nadine Grosfuß war sprachlos. Was war hier los? Sie witterte eine Inszenierung mit dem einzigen Ziel, sie aus der Reserve zu locken, sie vorzuführen.
„Was ist denn, Herr Guth?“, fragte sie ehrlich unschuldig. „Ist ihnen nicht gut?“
„Trinken Sie diese Brühe doch mal selbst!“, polterte der.
Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und nahm einen Schluck.
„Schmeckt wunderbar“, freute sie sich.
„Mit Milch!“, befahl Guth.
„Ist das hier eine Verkostung? Ich trinke keine Milch“, entrüstete sie sich. „Können wir jetzt bitte wieder zur Tagesordnung kommen?“
Sie hatte genug von dem Theater. Helen Spieker kam zurück in den Raum, ihr Kleid war nass, voller Flecken und total versaut. Das war schon das zweite in zwei Tagen. „Haben Sie eine tote Kuh gemolken?“, regte sie sich auf. Vielleicht hätte sie der Spieker doch nicht sagen sollen, dass sie montags immer nach Samstagnacht riecht und ihre Röcke für eine Kleinstadt wie Oberklemmbach zu kurz waren, dachte Nadine Grosfuß. Hatte sie ihr das etwa übel genommen? Dann sah sie mit ernstem Blick Lukas Neubert an, der mit den Schultern zuckte. Er hatte, wie gewünscht, die Getränke auf den Tisch gestellt, Wasser und Saft. Den Kaffee hatte er aus der Kantine geholt. Kekse und Milch fand er zunächst nirgends. Dann stieß er auf einen Karton unter der Spüle in der Teeküche, direkt neben dem Geschirrspüler. Hätte er ahnen sollen, dass der Karton samt Inhalt – einer offenen Packung Kekse und einigen angebrochenen Fläschchen Kondensmilch – dort vor zwei Jahren vergessen worden war und in dieser Zeit täglich mindestens drei Mal heiß wurde, wenn der Geschirrspüler lief? Das Meeting war schnell beendet, alle griffen ihre Listen und verließen eilig den Raum. Lukas Neubert trug ein volles Tablett in die Teeküche, wo Gundolf Krachnitz sich gerade einige Kekse in die Hosentaschen stopfte. Er hörte noch, wie auf dem Gang vor der Küche jemand flüsterte. „Die Schnepfe wird doch nur durch Schminke zusammengehalten.“ Er blickte an den Aushang an der Wand mit dem Titel „Unsere Werte“. Ganz oben war zu lesen, dass Lästerei und Mobbing keinen Platz in der Firma hätten. Für welches Unternehmen das galt, stand nirgends.
Der Kick (Dienstag, 2.8.22)
Hans Karl Peter betrat das Büro von Entwicklungsleiter Jonas Mischke, wie immer ohne zu klopfen. Er kam jeden Dienstag, nur wann, das wusste niemand. „Wie weit sind wir?“ Mischke druckte den roten Knopf auf seinem privaten Mobiltelefon. Seine Freundin am anderen Ende hörte nur noch das Knacken, dann das Tuten. So hatte er noch nie ein Telefonat beendet. Sie rief ihn sofort wieder an, er nahm nicht ab. Weggedrückt. Was war da los?
„Sie wissen, dass private Telefonate während der Arbeitszeit verboten sind“, zischte der Alte ihn an. „Sie sind ja ein leuchtendes Vorbild für Ihre Mitarbeiter.“
„Wir haben die Rezepturen der fünf besten Mischungen in den letzten Tagen nochmal optimiert. Bis auf eine schmecken nun alle rund und trendig. Wir haben einen klaren Favoriten“, antwortete Mischke, ohne auf die Zurechtweisung seines Chefs einzugehen. Er wusste, dass er das zu erwartende Wortgefecht nicht würde gewinnen können.
Das neue Getränk des Unternehmens sollte sich deutlich vom bisherigen Topseller Sausepeter abheben und sich bei den Verbrauchern gegen die Konkurrenz durchsetzen. Dafür hatten sie in den neuen Gewächshäusern ganz andere Kräuter angebaut als bisher, streng bewacht und abgeschirmt. Die Quitte sollte auch der Hauptbestandteil des neuen Drinks sein, aber eine neue Kräutermischung würde den entscheidenden Unterschied machen und die Kunden verzücken. Die anderen Hersteller könnten sich daran die Zähne ausbeißen, erst recht die lästigen Chinesen, die einfach die Versuche nicht aufgeben wollten, das Rezept des Sausepeter in ihre Fänge zu bekommen. Monatelang hatten Mischke und sein Team verschiedene Rezepturen getestet, ohne einen Volltreffer zu landen. Die Getränke waren solide, peppig, scharf, süßlich, aber keine Variante haute irgendjemanden vom Hocker. In der letzten Woche dann schmeckten vier der fünf Finalisten auf einmal anders, hatten Charakter, Kick und einen wuchtigen Abgang. Der letzte Eindruck der Testtrinker war so stark, dass sie gleich ein neues Glas wollten. Sie waren auf dem richtigen Weg. An welchen Kräutern das genau lag, wusste Mischke noch nicht, er hatte noch nicht einmal eine Ahnung. Das behielt er aber besser für sich. Der Alte war erstmal zufrieden. „Über Ihre Telefoniererei reden wir noch!“, pampte Hans Karl Peter und verließ das Büro. Die Tür ließ er offen. Wie immer.
Swing (Wochen davor)
Im Unternehmen herrschten strenge Regeln, die von Außenstehenden als mittelalterlich belächelt wurden. Die Mitarbeiter aber ächzten unter der Last der Einschränkungen und Vorschriften. Keine Privattelefonate, kein Duzen, kein Essen am Arbeitsplatz. Die Kleiderordnung schrieb genau vor, was erlaubt war und was nicht: Anzug oder Sakko, Hemd mit Stoffhose für die Herren; Kleider oder Kostüme, keine nackten Schultern für die Damen. Schuhe aus Leder, Knöchel verdeckt bei den Herren. Tattoos mussten unsichtbar sein, und es gab weitere, individualitätsberaubende Beschränkungen. Im Alltag führte das zu allerlei modischen Fehlinterpretationen, Geschmacklosigkeiten von der Stange und anderen Versündigungen an der äußeren Erscheinung. Ein voll tätowierter Auszubildender in der Buchhaltung, Matthias Albrecht, trug unter seinem Anzug einen Rollkragenpulli hoch bis unters Kinn, ließ sich einen Vollbart wachsen, um die Gesichtskunst zu bedecken. Eine schwarze FFP-Maske versteckte den Nasenring, eine Perücke die Malereien auf seiner Glatze und schwarze Einweghandschuhe die Totenköpfe an den Händen. Wenn er auf seine eigenwillige Erscheinung angesprochen wurde, erklärte er diese mit „multiplen Allergien gegen fast alles, was man fühlen, riechen, essen und trinken kann“. Er bekam ein Einzelbüro und „durfte“ sein Essen in der Kantine außerhalb der normalen Zeiten zu sich nehmen. Nach zweieinhalb Jahren kannte er fast niemanden. Nur wenige im Unternehmen wussten von seiner Identität in den sozialen Medien, wo er als „Mat All“ mit einer avantgardistischen Version knallharter Heavy-Metall-Musik Furore machte, die stark vom Punk, Grunge, aber auch von deutschem Schlager beeinflusst war. Die Texte sprachen von Liebe und Romantik, weniger von Blutrausch. Die Musik war immer über der zulässigen Lärmgrenze. Einhundertfünfzigtausend Follower allein auf Finstergram waren eine echte Referenz. Das lenkte den Blick der Musikindustrie auf den jungen Mann und seine Band. Die deutsche Punk-Band Die Roten Rosen und der Schmachtschlagerstar Scheino wollten gern einige der Lieder in ihr Programm aufnehmen. Die Verhandlungen liefen noch. Aber es gab auch Wendungen, die den Menschen Flügel verliehen. Lydia Bremer aus der Personalabteilung fühlte sich am wohlsten in den geblümten Kleidern, die sie in ihrem Swing-Tanzverein trug. Es dauerte nicht lange, bis ihre vier Kolleginnen sie baten, ihnen ein paar Tanzschritte zu zeigen. Sie alle trugen bald Swing-Kleider. Nach drei Wochen tanzte die ganze Abteilung jeden Freitagmorgen in der Frühstückspause den „Peter-Swing“, den sie selbst erfunden hatten. Die Begeisterung in der Kantine, die aus allen Nähten platzte, kannte keine Grenzen. Es wurde gejohlt, gestampft und geklatscht, das Servicepersonal bot Chips und Drinks an, ohne Alkohol. Und weil Hans Karl Peter das Abspielen von Musikgeräten im Unternehmen untersagt hatte, sang und spielte die Firmenband Die Anonymen Alks live auf ihren akustischen Instrumenten. Das Ganze nahm nach und nach den Charakter einer fünfzehnminütigen Pausenshow an, die mit Plakaten an den Schwarzen Brettern angekündigt wurde. Es gab sogar einen Schwarzmarkt für Tickets, denn es passten nicht alle gleichzeitig in den Raum. Von dem eingenommenen Geld kaufte die Gruppe neue Kleider. Nach und nach stießen auch Frauen und Männer anderer Abteilungen zu den „Peter Swingers“ und es entstand an den Feierabenden eine komplette Aufführung, die mit großem Erfolg auf der Weihnachtsfeier gezeigt wurde. Die Gruppe wurde sogar für Auftritte in Tanzschulen und als Vorgruppe für ein Konzert der kanadischen Swing-Legende Paul Panka gebucht. Es sprach sich in der Gegend herum, dass Tanzen gut für das Betriebsklima sei. Und so wurde Hans Karl Peter vom Oberklemmbacher Unternehmerverband OBUV gebeten, auf der Jahreshauptversammlung im Feuerwehrhaus einen Vortrag „Wege zum guten Betriebsklima“ zu halten. Und er solle unbedingt die Tanztruppe mitbringen. Einhundertundfünfzig enttäuschte Unternehmensvertreter folgten eine Stunde lang konsterniert seinen Worten über Kleiderordnung, Telefonvorschriften und die zersetzende Wirkung inflationärer Duzerei. Er schloss mit den Worten: „Meine Damen und Herren, Mitarbeiter brauchen einen klaren Kompass, damit sie sich nicht im Dschungel der Möglichkeiten verlaufen. Wer sich zu viel mit sich selbst beschäftigt, bringt keine Leistung!“ Nach dem faden Applaus kamen keine Fragen. Dann wurden einige Tische und Stühle zur Seite geschoben, und die Tanzgruppe der Peter GmbH & Co. KG betrat den Saal. Aus dröhnenden Lautsprechern begleitet von den Anonymen Alks zeigten sie ihre besten Choreografien. Nach nur zwei Minuten wurden alle restlichen Möbel verschoben, gestapelt, in den Hof getragen. Der ganze Saal tanzte und juchzte vor Vergnügen. Hans Karl Peter wurde gegen seinen erbitterten Widerstand in eine Polonaise gezogen, die sich laut johlend durch den Saal schlängelte, angeführt vom sturzbetrunkenen Bürgermeister Vogel, der immer kurz vor der Eröffnung des Büfetts kam. Chefreporter Uwe Dittmann, der jedes Jahr über die Sitzung berichtete, war überfordert. Was sollte er über diese denkwürdige Veranstaltung schreiben? „Unternehmer im Rausch“ oder „Tanz in die Zukunft“? Er fragte später Hans Karl Peter, ob er ein Interview über die offenbar einzigartig gute Stimmung in seinem Unternehmen mit ihm führen konnte. Mehr als „Bitte rufen Sie dazu unsere Presseabteilung an“ brachte der nicht heraus. So sprachlos hatte ihn noch niemand erlebt. Er wusste noch nicht einmal, ob er stolz oder stinksauer sein sollte. Die tanzenden Typen hatte er bislang nur geduldet, weil sie keinen Schaden anrichteten und er nicht alle Mitarbeiter gegen sich aufbringen wollte. Dass er nun ausgerechnet für dieses Gehampel von allen Seiten große Anerkennung erfuhr, widersprach seinem Selbstbild kolossal. Das konnte doch alles nicht wahr sein. So wurde sein Unternehmen zur Lachnummer der Nation. Der Artikel in der Klemme am Folgetag sorgte für noch größeres Aufsehen. „Tanztruppe peppt Peter auf “ war das Thema des Tages und verbreitete sich mit rasender Geschwindigkeit. Die ganze Stadt redete darüber. Der kurze Filmmitschnitt von Dittmann schaffte es sogar in die Tagesumschau des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Bei der Peter GmbH & Co. KG war der Teufel los, in allen Abteilungen wurde gejubelt. Und zu Hause beim Frühstück fiel Gisela Peter ihrem Mann um den Hals: „Ich bin stolz auf dich, Hans. Das ist das Beste, was seit Langem über dich in der Zeitung stand.“ Sein Name kam in dem Artikel allerdings nicht vor. Er hatte ihn zwei Mal gelesen.
Pressesprecherin Helen Spieker und ihr Team hatten in den darauffolgenden Wochen mehr zu tun, als ihnen lieb war. Sie kamen kaum noch dazu, das Telefon wegzulegen. Es meldeten sich große Tageszeitungen, Radio- und Fernsehsender. Auch Fachzeitschriften für Psychologie und Motivationstechniken waren an dem tanzenden Unternehmen interessiert. Die Chefredakteurin der TV-Show „Let’s Fetz!“ lud die Peter Swingers zur nächsten Staffel ein. Sie alle wollten mit Lydia Bremer sprechen und über sie berichten. Sie bekam einen lukrativen Werbevertrag eines Herstellers von Tanzmode angeboten, die örtliche Tanzschule bot ihr die Leitung an. Nur mit Hans Karl Peter wollte niemand sprechen. Lydia Bremer entschied erstmal gar nichts und nahm sich Zeit, um über alles nachzudenken.
Fahndung (Mittwoch, 3.8.22)
Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, suchte Hans Karl Peter in den folgenden Tagen systematisch nach der undichten Stelle in seinem Unternehmen, kam jedoch nicht weiter. Wer hatte der Presse gesteckt, dass sein Unternehmen an einem neuen Getränk arbeitete? Woher wusste der Dilettant Dittmann das, der aus jeder Mücke ein Mammut machte? Viel stimmte zwar nicht in dem Artikel, aber immerhin wussten nun alle, dass etwas Großes geplant war. Und das war schlimm genug. Gleich am Montagvormittag hatten die ersten Großkunden aus Österreich und der Schweiz bei Peter persönlich angerufen.
„Müssen wir ab jetzt die Provinzpostille in Ihrem Kaff abonnieren, um zu erfahren, was unser Hauptlieferant vorhat?“, fragte der Wiener Unternehmer Magister Karl Edelhuber. „Wenn Sie schon endlich mal ein neues Getränk auf den Markt bringen wollen, dann sollten Sie nicht vergessen, wer das für Sie zu den Verbrauchern bringt! Wenn wir das nicht vorher probiert haben, können Sie uns als Großhändler gleich von der Liste streichen.“
Was für ein Desaster. Und so ging es den ganzen Tag. Der Dienstag wurde noch schlimmer. Der größte Getränkegroßhändler in Norddeutschland, Besser Trinken GmbH, stornierte alle seine Aufträge für den Sausepeter im Wert von dreiunddreißigtausend Euro. Man wolle lieber auf das neue Getränk warten und dann bestellen, vielleicht, wenn es gut sei. Das war gar nicht gut und vielleicht nur ein Vorgeschmack auf weiteres Ungemach. Mit geschwollenem Kamm und stechendem Blick betrat Hans Karl Peter sein Büro und bellte Big Foot an: „Das Krisenteam zu mir, sofort!“ Eilig trommelte Nadine Grosfuß die ausgewählten Personen zusammen. Es dauerte zehn lange Minuten, bis das Investigativteam versammelt war – Helen Spieker, der Leiter der Abfüllung Klaus Wunder, den alle nur „Wonderman“ nannten, Chefentwickler Jonas Mischke, Personalleiter Jobst Anstand, IT-Chef Ansgar Buchs und Johannes Friemel. Zehn Minuten, die ihr Chef nicht hatte.
„Seit wann werden Sie für Trödelei bezahlt?“, fuhr er die Truppe an. „Wir haben einen Notfall. Dieser Geheimnisverrat wird Folgen haben. Nicht nur für das Unternehmen, auch für die Person, die sich diesen Hammer geleistet hat“, rief er.
Keiner der Anwesenden hatte offenbar eine Ahnung oder auch nur einen Verdacht.
„Sie fragen jetzt jeden Abteilungsleiter und Mitarbeiter nach ungewöhnlichen Vorkommnissen. Hat jemand interne Protokolle an Dritte geschickt, hat jemand Informationen bekommen, die ihn nichts angehen? Hat sich jemand auffällig benommen? Wer, außer Ihnen, hat Kontakt zur Zeitung und dem dusseligen Dittmann, Frau Spieker?“
Sie hatte keine Ahnung.
Den verhassten Chefreporter der Klemme hatte Hans Karl Peter noch am Sonntag angerufen und zur Rede gestellt. Der genoss es, seinen für solche brisanten Fälle komponierten Standardsatz aufzusagen: „Ich verstehe Ihre Aufregung, aber unsere Quellen können wir leider nicht bekanntgeben.“
Der Alte war außer sich vor Entrüstung.
„Wie meinen Sie das, Quelle? Es war doch offenbar jemand aus meinem Unternehmen, also mein Mitarbeiter. Ihre sensationslüsterne Pfuscherei ist in höchstem Maße gefährlich für uns, ist Ihnen das klar? Wer kontrolliert Sie eigentlich? Das werde ich mit Ihrer Verlagsleitung besprechen, machen Sie sich auf etwas gefasst, Sie Pfeife!“
Der Verlagschef war, wie Peter, Mitglied des örtlichen Tigers Club, einem Verein für Wichtige und solche, die es werden wollten. Manche waren auch nur Wichte.
„Wenn Sie bis morgen keine Ergebnisse liefern, schalte ich die Polizei ein. Und dann rollen hier Köpfe.“ Mit diesen Worten erhob sich Hans Karl Peter und verließ den Raum. Die Tür ließ er offen. Die Münder der Anwesenden schlossen sich erst nach und nach. Der Alte fuhr groß auf. Bis morgen war nicht viel Zeit.
Tarzan (am selben Tag)
Jeremias Peter fiel aus einem schrecklichen Alptraum. Eine junge Frau aus Finnland stürzte über eine Klippe und dann einen steilen Abhang hinunter. Sie hatte ihn in Oberklemmbach auf Englisch nach dem Weg zu einem Aussichtsturm auf dem Berg gefragt. Er antwortete in seinem post-schottischen Kauderwelsch, was sie erfreut für Finnisch mit schwedischem Akzent hielt. Dann radelte sie in die falsche Richtung davon. Kurz vor ihrem Aufprall erwachte er. Als er seine Frau Fiona fragte: „Ken ei hef ä brettschen foa bräckfäst?“, war diese sofort alarmiert und wusste, was zu tun ist. Für derartige Rückfälle ihres Mannes in die alte Sprachverwirrung hatte sie die Mobilnummer des Linguistikprofessors, der sich sofort auf den Weg zu ihnen machte. Schnelles Handeln war wichtig. Einen ganzen Tag lang musste sich Jeremias Peters wieder Sprachübungen unterziehen, um die schottisch-englisch-deutschen Sprachrelikte aus seinem Hirn zu löschen. Ins Unternehmen konnte er heute nicht. Es war der einzige Tag seit Langem, an dem der stellvertretende Leiter seiner Abteilung nicht im Haus war. Während der Übungen mit dem Sprachheiler fiel Jeremias Peters Blick auf den roten Vorhang vor dem Wohnzimmerfenster. Dorthin war der Kater des Hauses vom Eichenschrank aus gesprungen und hing dort knapp unter der Zimmerdecke, festgekrallt im dicken Samt. „Tarzan, kamm ser runter!“, rief er. Das Tier war seit zwei Wochen Mitglied der Familie, verstand nichts und sah auch gar nicht ein, sich zu bewegen. Schließlich hatte es seinen Namen bekommen, weil es genau das tat, was es tat. Auf den Rat seines Psychotherapeuten besuchte Jeremias Peter jeden Samstag das Oberklemmbacher Tierheim. Dort sollte er die „bedingungslose Zuwendung der Tiere“ erleben, die den Menschen nicht bewerten. Dies würde ihm guttun und sein Selbstbewusstsein stärken. Gleich bei seinem ersten Besuch spürte er, dass besonders die Hunde ihn mochten. Im Freilaufgehege wichen ihm die aktuell zwölf Tiere nicht von der Seite. Von der linken. Sie stupsten ihn an, bellten freundlich, fordernd. Ein Dobermann allerdings wurde ungehalten und grollte.
„Na, da hast du ja gleich einen Haufen neuer Freunde, Jerry. Hast du dich mit Speck eingerieben?“, rief Hundebetreuerin Nancy aus dem Kaninchenstall herüber. Jerry war sein Tarnname, denn er war inkognito hier. Nicht auszudenken, was seine Kollegen im Unternehmen sagen würden, wenn sie wüssten, dass er hier war. Und sein Vater! Der würde ihn auf der Stelle enterben. Nach zehn Minuten wurde das Rudel dann doch zu aufdringlich, der Dobermann warf „Jerry“ fast zu Boden. Nancy empfahl eine Spielpause. Er half im Katzenhaus und schlenderte später zufrieden nach Hause, die Hände locker in den Jackentaschen. In der linken fand er ein Wurstbrot vom Vortag, was sogar noch schmeckte. Er nahm sich sein Essen immer mit zur Arbeit, weil er die Kantine mied. Wann immer er dort auftauchte, forderte ihn jemand auf, etwas auf „Schrottisch“ zu sagen.
Eine Woche später nahm er seine Tochter Fee mit ins Tierheim, wo er den Hunden völlig egal war. Der größte, ein Mastiff, pinkelte ihm auf die Schuhe. Die Katzen wurden gerade gefüttert, und Fee zeigte auf die kleinste von ihnen und rief fröhlich: „Daba!“ Zwei Tage später holten Jeremias Peter und seine Frau das Tier mit einem Katzenkorb ab, den sie vorsichtig ins Auto stellten. Der örtliche Händler für Haustierbedarf Tom & Terry, hatte im Hause der Peters alle nur denkbaren Spielgeräte, Kratzbäume, Katzenklos und Kissen verteilt. Futter für ein Jahr mit einem anderen Speiseplan für jede Woche. Kaum aus dem Korb entlassen, raste der Kater auf die Vorhänge im Wohnzimmer zu, hechtete mit einem Riesensatz zwei Meter hoch und klettete sich dort fest. „Daba!“, jubelte Fee. Das Reißen des Stoffes klang nicht gut. „Daba!“ Nach zwei Tagen waren beide Vorhangseiten rechts und links des Fensterns flächendeckend perforiert, und der Stubentiger war mehr in der Luft als am Boden. Jeremias Peter hatte diesen Stoff nie gemocht, weil er ihn an den Speisesaal an der schottischen Universität erinnerte. Seine Frau sah das anders. Die Namensgebung des Katers war reine Formsache.
Richtungswechsel (Donnerstag, 4.8.22)
Pünktlich zur Jubiläumsfeier am dreißigsten September sollte der neue Drink präsentiert werden, mit dem das Unternehmen in Zukunft wieder große Erfolge feiern würde. Die treuen Kunden des etablierten Sausepeter waren mit ihm älter geworden oder einfach weg, und der Umsatz bröckelte jedes Jahr mehr. Allen war klar, es musste etwas passieren, denn das Image des Quittenbrandes hatte Staub angesetzt und war uncool für jüngere Konsumenten. Zu süß, langweilig, alt. Der Name des Drinks sorgte mittlerweile für Belustigung. Eine Weile versuchte der Vertrieb, mit neuen Rezepten für Longdrinks neue Kunden zu gewinnen. Sausepeter on the rocks, Peter the Rock, Peter Tonic oder Zitronenpeter. Das war aber nicht mehr als Kosmetik und konnte den Rückgang der Zahlen nicht aufhalten. Die Truppe um Jonas Miscke war kurz vor, aber noch nicht am Ziel. Sie saßen am Besprechungstisch im Garten, direkt vor Gewächshaus neun, den sie nach draußen getragen hatten, weil es sich an frischer Luft besser denken lässt. Buschido war, wie an jedem Vormittag, bei der Vertriebsmannschaft, hatte gut gefuttert, war ihnen nach draußen gefolgt und aalte sich in der Sonne. Auch Klaus Wunder war heute dabei, denn es ging um die Abfüllung und die neuen Flaschen. Diese hatte Gisbert Guth entwickeln lassen, denn das Auge trank ja mit. Außer seinem Team und Wonderman hatte sie noch niemand gesehen. Das Besondere an ihnen war, dass sie der Form einer Quitte nachempfunden waren. Rund zwanzig verschiedene Rezepturen hatten sie entwickelt, getestet und fünf für gut befunden. Alle Varianten basierten natürlich auf der Quittenfrucht, dazu Zucker, Zimt, Gewürznelken, Schnaps und Zitronen. Diese Grundmischung war das Erfolgsgeheimnis des Sausepeter, den die Peter GmbH & Co. KG seit mehr als dreißig Jahren verkaufte, aber in den Nuancen unterschieden sich die Finalisten. Das Team jonglierte mit Kardamom, Weinbrand, Vanilleschoten, braunem Kandis, Ingwer, Orange und dem Mongolenkraut, das sie züchteten und streng bewachten. Dieses hatte einen Geschmack, der alles übertraf, was sie je probiert hatten, winzige Mengen reichten, um ein ganzes Fass anders schmecken zu lassen. Es roch eher muffig, schmeckte aber würzig wie der „Atem eines Tigers und schwungvoll wie ein Steppenpferd“. Das hatte sich Jonas Mischkes Frau ausgedacht, der er ein paar Dinge im Vertrauen erzählt hatte, die sie eigentlich nicht wissen durfte. Sie war Werbetexterin in einem Verlag für Gartenbücher. Der Anbau dieses Zauberkrauts war einfacher, als sie gedacht hatten. Wenig Licht und Wasser, keine besondere Erde. Das war alles. Fast. In den Blüten verfingen sich Fliegen, die von der Pflanze verschlungen wurden. Da Fliegen aber nur im Sommer unterwegs sind, mussten die Entwickler für den Appetit der Pflanze eine Lösung finden. Ganzjahresfliegen, sozusagen. Und weil Insekten keinen Kalender haben, wurde eines der Gewächshäuser einfach konstant auf sommerliche dreißig Grad geheizt. Es sprach sich unter den Fliegen herum, dass es dort angenehm warm war. Sie wurden mehr und mehr, sodass bald auch Fledermäuse hermussten, um der Menge Herr zu werden. Dem Mongolenkraut aber war seine Lieblingsspeise sicher.
„Wir müssen uns entscheiden, welche zwei Varianten wir unseren wichtigen Kunden vorstellen“, sagte Mischke. „Wir machen eine Blindverkostung.“
Alle waren sofort begeistert. Es war erst vierzehn Uhr, der Nachmittag begann vielversprechend.
„Einer von uns schenkt jedem fünf KLEINE Gläser ein, die mit farbigen Klebestreifen markiert sind. Es darf nicht erkennbar sein, aus welcher der nummerierten Flaschen die Flüssigkeit kommt. Wer ausschenkt, kann also nicht probieren“, erklärte Mischke seine Idee. „Wer übernimmt das?“ Keiner wollte.
„Kann das nicht jemand aus einer anderen Abteilung machen, vielleicht die Grosfuß?“, schlug jemand eifrig vor.
Buschido stellte die Ohren auf und knurrte. Die also nicht.
„Oder der Azubi, der Lukas, der soll doch was lernen.“
Der Hund wedelte mit dem Schwanz. Da Lukas Neubert zurzeit bei Big Foot saß, mussten sie sich eine List überlegen, um ihn für eine Weile von dort zu entführen. Womit konnten Sie die Chefassistentin überzeugen, ohne dass sie Lunte roch?
Klaus Wunder hatte einen Geistesblitz und griff zum Telefon. „Frau Grosfuß“, säuselte er, „ich bin gerade in der Entwicklungsabteilung, wir haben hier eine schöne Aufgabe für Herrn Neubert.“ Alle wussten, dass Big Foot weder den Azubi noch Hunde mochte. Buschido hatte sich vor einigen Tagen neben dem Parkplatz genüsslich im Matsch gesuhlt. Als er Nadine Grosfuß aus dem Auto steigen sah, lief er fröhlich auf sie zu und sprang sie von hinten an. Jeder Mensch hatte bei der Hündin erstmal einen Vertrauensvorschuss. Sie hatte das Tier vorher nie gesehen und schrie hysterisch, weil das neue Kleid hin war. Hausmeister Krause im Erdgeschoss öffnete sein Bürofenster, weil er dachte, jemand brauche Hilfe. Er sah die besudelte Grosfuß, wie sie nach dem Hund trat und ihn angiftete: „Scheißköter!“ Zufrieden schloss er das Fenster, setzte sich und trank weiter seinen Kaffee. Buschido merkte sich den Duft der unsympathischen Frau und mied auf seinen Touren durch die Büros die Chefetage. Wonderman erklärte Big Foot, dass irgendein Hund in den Firmengarten gekackt hatte. Es wäre doch eine schöne Sache für Herrn Neubert, sich darum zu kümmern. Nadine Grosfuß jubelte innerlich. Sie konnte den Dummkopf für eine Weile los sein und sah ihn schon voller Schadenfreude mit Kotbeuteln hantieren.
„Das ist eine sehr gute Idee, Herr Wunder, ich schicke ihn gleich zu Ihnen. Er hat alle Zeit der Welt für diesen schönen Job. Das ist doch wirklich mal was anderes.“ Sie schickte ihn feixend los. Jonas Mischke führte Lukas Neubert in die Teeküche und erklärte ihm das Vorgehen. Ein farbiger Klebezettel auf jede der fünf Flaschen. Fünf Flaschen, fünf Farben. Er wusste, dass man es für den Azubi einfach halten musste. Dann auf die fünf Gläser für die Verkoster jeweils Klebezettel mit denselben Farben, einschenken und los. Mischke und sein Team durften die Flaschen aber nicht sehen und bekamen nur die fingerhutgroßen Gläser auf den Tisch gestellt. Dazu einen Zettel zum Bewerten von Nase, Geschmack, Würze, Abgang, Attraktivität für jüngere Kunden. Ein allgemeines Urteil sollte auch jeder aufschreiben. Um ganz sicher zu gehen, würde das Ganze ein zweites Mal durchgeführt, mit anderen Farben auf Flaschen und Gläsern. Das Team war begeistert und schlug gleich noch eine dritte Runde vor, was der Chef zum Bedauern aller aber nicht für nötig hielt. Lukas Neubert servierte die Gläser und verschwand wieder in der Küche. Nach Runde 1 gab es einen klaren Favoriten: Gelb. Und Rot war knapp dahinter zweiter. Die anderen drei kamen gut weg, waren aber abgehängt. „Was machen Sie denn da?“, herrschte Mischke seinen Mitarbeiter André Lemke an, der sich gerade ein Glas von seinem Sitznachbarn geangelt hatte und es ausschleckte.
„Da war noch ein Rest drin“, stammelte der verlegen.
Mehr als „Oh, Mann“ fiel Mischke dazu nicht ein. Dann Runde zwei, nach einer kurzen Pause mit Wasser und Weißbrot zur Neutralisierung der Geschmacksnerven. Der Sieger war mit großem Vorsprung wieder derselbe, aber Nummer zwei ein anderer. Sie brauchten zwei Varianten für die geplante Verkostung mit den Großkunden. Davor musste natürlich Hans Karl Peter probieren und sein Urteil abgeben. Also gab es doch eine Runde drei, ein Stechen nur mit den beiden Zweitplatzierten. Die Stimmung war ausgelassen. Jeder zwei Gläser. Vorher Wasser, Brot. Mischke blickte Lemke scharf an. Der streichelte unschuldig den Hund. Schließlich war auch der zweite Favorit gefunden. „Ich präsentiere das Ergebnis der vorläufigen Hochrechnung der Entwicklungsabteilung der Peter GmbH & Co. KG“, trötete Jonas Mischke durch seine zum Sprachrohr geformte rechte Hand. Gewonnen hatte Flasche Nummer fünf, gefolgt von Nummer zwei. Diese beiden Rezepturen waren die einzigen, die das Mongolenkraut enthielten, die eine mehr, die andere weniger. Das war er also, der entscheidende Unterschied. Insgeheim freute sich Mischke darüber, dass er so ein schlechter Reiter war. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, aber vom Pferd schon. Er bat Lukas Neubert, aus der Teeküche zu kommen, der Test sei vorüber und er wolle sich bei ihm bedanken. Es rummste vernehmlich, alle fuhren auf. Erst im zweiten Anlauf gelang es Neubert, den Raum zu betreten. Beim ersten war die Türöffnung nicht breit genug. „’s wamia ’ne Freue“, lallte er. Wie selbstverständlich hatte er in der Küche an dem Test teilgenommen, als unabhängiger Beobachter, nur ohne Bewertungsbogen. Seine Favoriten waren zwar eher die Flaschen eins und vier, aber so sicher war er sich da nicht. Als jemand „Einer geht noch rein!“ anstimmte, brüllte Mischke ihn an, ob er noch wisse, dass dies hier zu seinem Job gehöre und er nicht irgendwo in einer Eckkneipe bei den Fans das FC Oberklemmbach sei. Dann war Ruhe. In diesem Zustand konnten sie den Neubert nicht zu Big Foot zurückschicken. Klaus Wunder rief sie an und erklärte ihr, der Azubi habe noch mehr Arbeit im Garten gefunden und sei bis zum Feierabend beschäftigt. Sie hatte nichts dagegen. Neubert grinste mit glasigem Blick.
Eines hatte sich Entwicklungsleiter Jonas Mischke bis zum Schluss aufgehoben. Er musste sein Team fragen, ob jemand eine Idee hätte, wer der Presse verraten haben könnte, dass ein neuer Drink in Arbeit war. Von dem Aufruhr hatten alle etwas mitbekommen. Er musste nicht erklären, dass seine Abteilung ganz oben auf der Liste der Verdächtigen stand, tat es aber doch. Erwartungsgemäß waren alle beleidigt und entrüstet. Wie er nur glauben könne, dass …, und wie er denn auch nur auf die Idee kommen könne, dass …
„An eurer Loyalität habe ich keinen Zweifel, Leute. Überlegt bitte, ob euch irgendwas oder irgendwer aufgefallen ist in den letzten Wochen. Es geht hier um Insiderwissen. Im schlimmsten Fall sind wir alle unseren Job los. Wir müssen den Maulwurf finden.“
In dem Artikel war auch die Rede von einer neuen Zutat aus Asien gewesen, die bis dato noch völlig unentdeckt sei. Er schloss die Sitzung und sah jedem tief in die Augen. Einer wandte den Blick ab.
Suche (Freitag, 5.8.22)
Die nächste Sitzung des Krisenteams brachte keine verwertbaren Hinweise, was Hans Karl Peter erzürnte. Alle hatten herumgefragt, Druck gemacht, mit Konsequenzen gedroht, jedoch ohne Ergebnis. Nicht einmal eine Spur. Der Alte würde nun die Polizei einschalten, wenn seine eigenen Leute ihren Laden nicht im Griff hätten. Großartig! Helen Spieker sah schon die Schlagzeilen in der Klemme vor sich: „Polizei ermittelt gegen Peter.“ Für jeden negativen Bericht machte Hans Karl Peter sie persönlich verantwortlich, weil sie doch so großartige Kontakte zu den Medien hätte. Da der Schreiberling Dittmann den direkten Draht zur Polizei hatte, würde er ganz sicher sofort erfahren, dass etwas im Busch wäre. Und dann würde der Schlamassel erst richtig losgehen. Eine Sensation für das Schmierblatt, Herzattacke für den Alten und Riesenärger für sie selbst. Wie sollte sie der Chefredaktion der Klemme erklären, dass die Polizei denjenigen suchte, der ausgerechnet diese Zeitung informiert hatte? Das würde die gesamte Medienwelt auf den Plan rufen, Verleger, Presserat und Journalistenverband – sie alle würden auf Pressefreiheit und den nötigen Schutz von Quellen pochen. Im schlimmsten Fall bekäme die Peter GmbH & Co. KG einen Medienanwalt auf den Hals gehetzt, der das Unternehmen verklagen würde. Was für ein Chaos. Ihre Karrierepläne könnte sie schreddern, ihr Lebenslauf wäre schwer beschädigt. Wer will eine Pressesprecherin einstellen, die das Recht der Medien auf kritische Berichterstattung mit Füßen tritt? Sie musste etwas unternehmen.
Einen Tag später klingelte Hans Karl Peters Mobiltelefon. Nur wenige Menschen kannten seine Nummer. Es war der Bürgermeister der Stadt, Lothar Vogel, der berichtete, dass im Rahmen eines Wirtschaftsaustausches mit Asien überraschend auch eine Delegation chinesischer Unternehmer aus Peking in Oberklemmbach sei und gern die Peter GmbH & Co. KG kennenlernen würde. Der Alte hatte sich am Ende der denkwürdigen Jahreshauptversammlung des Unternehmerverbandes bereit erklärt, eine Delegation zu empfangen. Von Chinesen war da aber nicht die Rede. Mit Alkohol hatten die doch nichts am Hut, weil sie keinen vertragen. „Morgen um zehn Uhr also.“ Hans Karl Peter legte verärgert auf. Es war ihm ganz recht, dass es am Samstag sein sollte, wenn niemand sonst in der Firma war. So konnte er den Zirkus kurzhalten. Er hatte wahrlich andere Sorgen, als seine Zeit mit neugierigen Gästen zu verplempern. Vor einigen Jahren wollte ein chinesisches Unternehmen aus Shanghai seine Firma kaufen, weil er doch sicher bald in den Ruhestand gehen wolle. Er hatte abgelehnt, überhaupt darüber zu reden. Die Hoffnung, dass sein Sohn vielleicht doch noch die Kurve bekäme und das Ruder übernehmen könnte, hatte er damals noch nicht aufgegeben. Der Friemel würde das schon hinbekommen.
Alles anders (am selben Tag)
Jetzt musste er sich um die Fünfzigjahrfeier kümmern. Das Planungsteam hatte die Woche genutzt, um mehrere Konzepte zu erarbeiten. Einhundertfünfzig Seiten! Wer viel schreibt, hat wenig zu sagen. Das war sein Credo. Oder eines davon, er hatte viele. Sollte er das wirklich alles lesen? Er hatte die Grosfuß darum gebeten, eine kurze Zusammenfassung zu bekommen, die für den ersten Überblick reichen würde. Er rechnete ohnehin damit, darin nur die erwartbare Langeweile zu finden, tausendmal kopierte Ideen aus dem Internet. Er hatte ganz klar gesagt, dass er ein Feuerwerk an Überraschungen erwartete, die aber bitte zur Firma und zum Anlass passen sollten. Kunden, die Familien der Mitarbeiter und andere Gäste sollten beeindruckt nach Hause gehen und noch lange von der Feier sprechen. Wozu sonst hätte er gut bezahlte Leute? Über Geld sollten sie nicht nachdenken, der Firma ginge es blendend.
„Benutze ich neuerdings chinesischen Dialekt oder eine andere exotische Ausdrucksform?“, blaffte Hans Karl Peter seine Assistentin an. Ihre Freude auf ein schönes Wochenende zerfiel vor ihrem inneren Auge in Einzelteile. Sie blickte ihn fragend an.
„Ich, äh …“
„Hatte ich nicht in einer auch Ihnen gut verständlichen Version der deutschen Sprache klar und deutlich gesagt, was ich erwarte? Und das war kein Mittelhochdeutsch.“
Eine fiese Anspielung auf ihr abgebrochenes Germanistikstudium. Er musste mal wieder Dampf ablassen, und mal wieder an ihr.
„Wenn Sie meine sprachlichen Möglichkeiten für begrenzt halten, sollten Sie mir das vielleicht sagen. Ansonsten gehe ich davon aus, dass sie mich gut verstanden haben und hier etwas schiefgelaufen ist.“
Er zeigte auf den vor ihm liegenden Papierstapel. Nadine Grosfuß musste sich kurz sammeln und Luft holen. Dann erklärte sie ihrem Chef, dass sie das sehr wohl alles genauso weitergegeben hätte. Und sie hätte den Kollegen ihre Aufgaben übertragen. Nur dann hätten sich die anderen – gegen ihren Protest – dafür entschieden, nicht einen gemeinsamen Vorschlag abzugeben, sondern drei Alternativen, die in drei Gruppen erarbeitet wurden. Was sollte sie da machen, petzen? Wenn er es auch nicht zugeben würde, gefiel Hans Karl Peter diese Eigenmächtigkeit seines Personals. Frech kommt weiter, ein weiteres Credo. Er war sogar neugierig. „Und welcher Vorschlag ist von wem?“ Das wüsste sie selbst nicht, erwiderte Grosfuß kleinlaut. Jetzt amüsierte es ihn, sehr sogar. Auch wenn es niemand glauben würde, er liebte Überraschungen. Wenn sie gut waren. Er schickte sie raus und begann zu lesen.
„Vorschlag eins: Peterchens Mondfahrt“. Das ging ja gut los, völlig falsche Schublade. Er wollte sofort aufhören zu lesen. Aber vielleicht war alles andere ja noch schlechter, also las er weiter. Wie er es hasste, wenn sein Name für irgendwelche geschlaumichelten, meist plumpen Anspielungen missbraucht wurde. Das ganze Firmengelände sollte in eine Mondlandschaft verwandelt werden. Statt eines Maikäfers, wie in dem Kindermärchen, sollte eine Raumkapsel auf dem Mond landen. Aus der sollte dann der Firmenchef selbst steigen und im Astronautenanzug die Gäste begrüßen, die sich dann alle wie Astronauten fühlen sollten, die nicht das sechste Bein des Käfers, sondern das neue Getränk der Firma Peter GmbH & Co. KG suchen. Dem Finder der gut versteckten Flasche winkte ein Abo „All you can drink“ für ein Jahr. Von Hüpfburgen für Kinder, Disco für die Jugend, einem opulenten Büfett und Achterbahn für die Großen war die Rede. Auch die Reise nach Jerusalem fehlte nicht, damit war Hans Karl Peter alles klar. Als musikalisches Highlight sollte Peter Krause auftreten, ein sehr in die Jahre gekommener Alt-Rock-’n’-Roller. Das könnte Hans Karl Peter gefallen, dachte die Gruppe eins. Falsch gedacht. Er gähnte und blätterte weiter. „Vorschlag zwei: Menschen, Tiere, Sensationen!“ Ein international bekannter Zirkus sollte anrücken, sein Zelt innerhalb von zwei Tagen aufbauen, mit den Mitarbeitern einige Nummern einüben, die dann vor den Gästen in vier Shows gezeigt werden sollten. Das Zelt fasste fünfhundert Menschen. Der Höhepunkt sollte jeweils Hans Karl Peter sein, wie er aus einem Zylinder kein Kaninchen, sondern eine Flasche mit dem neuen Drink zauberte. Und das vier Mal. Um das Zelt herum allerlei Jahrmarktreiben, Fressbuden, Süßkram, Dosenwerfen, Schießbuden, Autoscooter. Hau den Lukas war auch dabei. Den Lukas könnte doch der Betriebsratsvorsitzende spielen, dann würde sogar er selbst zum Hammer greifen, dachte Peter. Aber nein, öde. Weiter. Eine Chance gab er dem Team Fünfzig noch. „Vorschlag drei: E-S!“ Angelehnt an einen legendären Horrorthriller sollte das komplette Firmengelände in ein unterirdisches Kanalisationssystem umgestaltet werden. Völlige Dunkelheit. Aufgabe für jeden Gast wäre es, allein oder in Gruppen den Weg vom Eingang bis zum Ausgang des Labyrinths aus Gängen und Kloakenströmen, die richtig stinken sollten, zu finden. Dazu war eine Zusammenarbeit mit den örtlichen Abwasserbetrieben geplant, die für die Dauer der Feier den gesamten flüssigen Abfall des Industrieviertels in dieses Kanalsystem umleiten sollten. Jeder bekam eine Wegeskizze, die aber nicht zu genau sein sollte, damit es genügend Möglichkeiten des Verlaufens gäbe. Ein Beispiel lag dabei und sah aus wie eine Schatzkarte in einem Goldgräberfilm. Sie stank erbärmlich. Gummistiefel wären mitzubringen und robuste Kleidung, am besten wasserdichte. Garantie für die Garderobe würde auf keinen Fall übernommen. Wer durchkam, könnte per Losziehung eine Flasche des neuen Drinks der Firma gewinnen. Für Kinder eine Spezialmischung ohne Alkohol. Aber der Weg hatte es in sich. Beleuchtete rote Luftballons sollten den Gästen den Weg weisen, von einem Schrecken zum nächsten. Manche Wege führten auch ins Nichts oder zum Eingang zurück. Aus Gullischächten rechts und links würden Hände nach den Beinen der Besucher greifen und leicht daran ziehen. Schreckliche Clownsmasken sollten die Menschen urplötzlich anbrüllen und irre kichern. Eine Stimme von irgendwo würde drohen, sie wolle den Menschen die Arme abbeißen. Es gab Strecken, die nur durch stinkende Abwasserbecken führten, mit dem „Fäulnisgeruch der Unterwelt“, wie es in dem Vorschlag hieß. An einigen Stellen würde unvermittelt Dreckwasser über den Menschen ausgegossen. Einige Höhenunterschiede könnten nur durch glitschige Strickleitern überwunden werden. Echte Ratten sollten durch die Gänge wuseln, die an Fleischresten nagen würden, welche ein örtlicher Schlachter stiften würde. Skelette würden überall herumliegen, Totenschädel würden den Gästen zuflüstern, sie seien die nächsten. Dazu grauenerregende, laute Musik aus versteckten Lautsprechern. Zartbesaitete fänden überall Notausstiege, um den Horror jederzeit beenden zu können. Für Aussteiger wäre dann die Feier allerdings beendet. Auch Sanitäter waren dort geplant. Wer gut und schnell war, würde den Weg in ungefähr drei Stunden schaffen. Das dann geplante Büfett sollte unter dem Motto „Gotham’s Delight“ stehen und einem auf Heavy-Metall-Festivals spezialisierten Caterer übertragen werden. Als Höhepunkt zum Schluss sollte die bekannteste deutsche Metall-Band, Kantstein, auftreten und das Erkennungslied für das neue Getränk der Peter GmbH & Co. KG spielen. Vom Dach des fünfstöckigen Firmengebäudes sollten die Musiker über eine dreißig Meter lange Rutsche auf die Bühne gleiten. Konnte das alles wahr sein? Hans Karl Peter las einfach weiter. Eingeladen würden die Gäste nicht langweilig per Brief oder E-Mail. Sie würden überhaupt nicht eingeladen, sondern müssten herausfinden, ob sie erwünscht wären oder nicht. Das würde auch für Kunden, Lieferanten, Politiker, andere VIPs und die Medien gelten. Dazu sollte in verschiedenen Zeitungen und an Plakatwänden ein QR-Code veröffentlicht werden unter der Überschrift: „50 Jahre Peter – nichts für Weicheier!“ Mit dem Code käme man auf eine spezielle Internetseite, auf der nur wenige, sehr abschreckende Informationen zu finden wären – düster und gruselig. In einem Video würde ein ekelhaft geschminktes Wesen gezeigt, gekleidet in schwarze Tücher, das triefend und tropfend aus dem Abwasser steigen und grollen würde, wer seine Kinder mitbringen wolle, sei selbst schuld und solle sie vorher besser durchzählen, auch deren leckere Beine. Wer dann noch wollte, könnte sich registrieren, müsste allerdings drei Fragen beantworten. Von den insgesamt zweitausend vorher definierten Gästen, die zur Registrierung zugelassen wären, würde sicher mindestens ein Viertel nicht kommen wollen. Weitere fünfundzwanzig Prozent würden die Fragen falsch beantworten. Und da sicher nicht mehr als die Hälfte der verbleibenden Gäste den Weg bis zum Ende des Kanalsystems finden würden, wäre man am Ende bei höchstens fünfhundert Menschen für das Konzert und das Büfett. Das wäre der elitäre Kreis, der sich die Abschlussfeier erarbeitet und verdient hätte. Eine satte Einsparung zum Schluss. Hans Karl Peters Kaufmannsseele lachte. Was für ein verwegener Vorschlag! Er schauderte vor Vergnügen. Das war ganz nach seinem Geschmack. Die Leute würden nicht wie sonst bei den Firmenfeiern von der Stange gepampert und verwöhnt, gemästet und bespaßt, bis sie mit vollgestopften Taschen nach Hause gefahren würden (er dachte an Krachnitz, den Kleptomanen). Und am nächsten Tag wäre die Hälfte der Belegschaft krankgeschrieben wegen Kater und Verdauungsstörungen. Nein! Sie würden gefordert, zu Tode erschreckt und von Kopf bis Fuß besudelt. Und das Beste wäre, niemand könnte sagen, er wäre nicht gewarnt worden. Die notorischen Ich-kannleider-erst-zum-Büfett-Kommer würde es auch nicht geben. Von einer solchen Jubiläumsfeier würde man in der Tat noch lange reden, wenn auch nur die wenigen, die es bis zum Schluss schafften. „Genauso machen wir das!“ Er schlug mit der rechten Faust auf den Schreibtisch. Vor Schreck fiel der Grosfuß ihr teurer Mont-Blanc-Füller aus der Hand und mit der Feder voran auf den harten Tisch. Gebrochen! Und das helle Designerkleid? Schwarz gesprenkelt. „Frau Grosfuß, kommen Sie doch bitte mal zu mir“, tönte es aus der Sprechanlage. Selten war sie einer Ohnmacht so nah.
Eien Män (Samstag, 6.8.22)
„Mein herzliches Beileid, Herr Peter. Es ist für uns alle ein schwerer Schlag, besonders natürlich für Ihre Familie und Sie. Ihr Vater war bis vorgestern so agil und dynamisch, saß genau dort, wo Sie jetzt sitzen, und gab mir Anweisungen.“ Johannes Friemel stand vor dem Schreibtisch, der jetzt Jeremias Peter gehörte, in einem dunklen Anzug mit drei dicken Aktenmappen unter dem rechten Arm. Der über Nacht in die Rolle des Alleingeschäftsführers gestoßene Erbe erhob sich schüchtern, um das Beileid entgegenzunehmen, wurde aber von Friemel zurück in den Stuhl gedrückt.
„Es gibt viel zu tun, Herr Peter. Er knallte die nummerierten Mappen auf den Tisch. „In der ersten sind die bisher eingegangenen Kondolenzbriefe von Kunden, Lieferanten und so weiter. Die können Sie später lesen. Die Angebote des Bestattungsunternehmens und des Restaurants, in dem das Essen nach der Trauerfeier stattfinden soll, finden Sie in der zweiten. Das eilt.“
Dort fand er auch den Entwurf für die Trauerrede des örtlichen Pastors, den dieser gern mit Jeremias Peter abstimmen wollte, um Fettnäpfchen zu vermeiden.
„Am dringendsten sind aber die Angebote und Vertragsentwürfe in der dritten Mappe. Am besten unterschreiben Sie die sofort, es muss ja weitergehen“, ordnete Friemel an. Und er erinnerte ihn daran, dass ab jetzt allein er die Verantwortung für das Unternehmen und alle Mitarbeiter hätte. Ein Firmenlenker ohne Führerschein. Dann war er allein. Er stand auf und tigerte durch sein Büro, die Hände in den Hosentaschen seines viel zu großen Anzugs – er hatte nur diesen einen. Was sollte er jetzt tun, was zuerst, was danach, was überhaupt? Krampfhaft versuchte er, sich daran zu erinnern, was er während seines Studiums gelernt hatte. Speziell für die Söhne älterer Unternehmer wurde der Wochenendkurs „How to be a Captain over night“ angeboten. Er hatte die Veranstaltung nur am ersten Tag besucht, weil er lediglich jedes zehnte Wort des nordschottischen Dozenten Ian Mac Dermit verstand. Woran er sich noch erinnerte, war der dringende Rat, Stärke zu zeigen, kein Mitgefühl zuzulassen, alle Emotionen zu unterdrücken, niemanden fragen, mit starker Hand zu handeln. Mitarbeiter und Geschäftspartner dürfen keine Sekunde an der Führungsstärke des neuen Kapitäns zweifeln, er selbst auch nicht. Also setzte er sich an den Schreibtisch und nahm sich die Mappe mit den Verträgen, schlug sie auf und wollte den ersten unterschreiben. Es ging um den Einkauf von zwanzigtausend Flaschen in Quittenform für das neue Getränk im Wert von rund dreißigtausend Euro. Auf einem gelben Klebezettel stand eine Anmerkung vom Leiter der Einkaufsabteilung. Trotz harter Verhandlungen wäre kein besserer Preis möglich gewesen, es täte ihm leid. Unten links, irgendwie hineingequetscht, war die Zeile für seine eigene Unterschrift, davor stand gedruckt sein Name. Rechts daneben eine weitere Zeile, der Name daneben war durchgestrichen: Hans Karl Peter. Er nahm den goldenen Füller, den Friemel bereitgelegt hatte, und setzte an. Sein Blick fiel auf die Gravur im oberen Teil des Schreibgerätes: „H.K. Peter.“ Der spontane Schweißausbruch kam wasserfallartig, und er sah sich wieder in den Fußspuren dieses großen Unternehmers versinken. Bilder, die immer wieder in seinen Träumen auftauchten, in denen er wie ein Zwerg neben seinem Vater aussah, der ihn an einer Hundeleine hinter sich herzog. Der schwere Füllfederhalter rutsche ihm durch die Finger. Vielleicht ging es besser mit seinem eigenen Stift, dem Plastikkugelschreiber mit der Adresse des Tierheims, den er für eine kleine Spende bekommen hatte. Er sah Mac Dermit vor sich und hörte ihn brüllen: „Du itt, ju Feigling! Ju mast bi än Eien Män!“ Abermals setzte er an.
„Stopp! Sofort aufhören!“ Jeremias Peter fuhr vor Schreck zusammen. „Was machen Sie denn da?“ Johannes Friemel raufte sich die Haare.
„Ich dachte, wir wären schon viel weiter. Sie machen ja einen Fehler nach dem anderen, Herr Peter! So einen Vertrag können Sie doch nicht einfach unterschreiben, ohne vorher mit dem Einkaufsleiter zu sprechen. Sie müssen ihm sagen, dass Sie mit diesem Vorschlag nicht zufrieden sind und er nachverhandeln muss. Druck machen, Herr Peter, Druck machen! Sonst nimmt Sie niemand ernst.“
„Aber mein Vater hätte den Vertrag doch auch …“
„Nein, hätte er nicht“, unterbrach ihn Friemel. „Und Sie müssen jetzt noch strenger sein als Ihr Vater. Das erwarten die Leute. Sie haben nicht nur ein Unternehmen geerbt, sondern auch eine Rolle. Also weiter, bitte, holen Sie sich jetzt den Einkaufsleiter.“
Friemel ging wieder raus. Jeremias Peter bat seine Assistentin, den Einkaufsleiter zu rufen.
Vor Jeremias Peter stand wieder Johannes Friemel, nun in der Rolle des Einkaufsleiters, breitbeinig, Hände in den Taschen und mit fiesem Grinsen.
„Watt is’ denn nun wieder, Junior?“
„Wie bitte, was bilden Sie sich ein?“, mehr kam aus Jeremias Peter nicht heraus.
„So, und jetzt nachladen und voll auf die Zwölf! Lassen Sie sich das nicht gefallen“, brüllte Friemel ihn an.
„Schluss, aus! So geht das nicht!“, schrie der entnervte Neugeschäftsführer.
„Pause, Leute!“, rief Friemel in den Raum hinter sich. Der Kameramann und der Tontechniker ließen sich mit einem Bier in der Hand auf ein Ledersofa fallen.
„Kompliment, Herr Peter, jetzt sind Sie genau da, wo ich Sie haben möchte: sauer, wütend und laut. Ganz der Vater.“
Jeremias Peter stöhnte, diese Vergleiche mit seinem alten Herrn machten ihn fertig. Konnte der Friemel das nicht einfach mal lassen? Es erinnerte ihn jedes Mal aufs Neue an seine Unzulänglichkeit. Immer sollte er ein anderer sein, als er war. Das war schon während der Schulzeit so. Ab der achten Klasse bestand sein Vater darauf, dass er mit Anzug, Weste und Krawatte in die Schule ging. Jeden Tag. Freunde hatte er keine. Ab der neunten Klasse redeten seine Klassenkameraden ihn frotzelnd mit „Herr Doktor Peter“ an. Als reicher Lulli im Dreiteiler bestand seine Schulzeit aus Demütigungen und Spott. Das sahen alle, nur sein Vater nicht. Mehrfach sprachen die besorgten Lehrer die Eltern des Jungen auf dessen Sonderrolle an und ob eine schlichte Jeans nicht auch eine gute Idee wäre. Darauf wetterte Hans Karl Peter, dass er mit der Schulleitung ein ernstes Gespräch über eine ordentliche Kleiderordnung führen müsse. Vier Wochen lang versuchte Jeremias alles, um diesem Bekleidungsdiktat zu entkommen. Er wälzte sich mit den Anzügen im Dreck, zerschnitt die Sakkos, riss Löcher in die Hosen, goss Motoröl über die Klamotten und verbrannte die Krawatten im Kamin. Allein, es half nichts. Sein Vater hatte für solche Fälle pubertärer Renitenz beim örtlichen Herrenausstatter ein Depot mit Anzügen anlegen lassen. Es wurden einfach am selben Tag neue geliefert. Dann gab sein Sohn auf. Vier Wochen Aufbegehren, lebenslanger Schaden.
Johannes Friemel hatte mit Hans Karl Peter vertraulich vereinbart, dass er dessen Sohn bis zum Firmenjubiläum für die Nachfolge bereitmachen solle. Mehr Zeit hätte er nicht. Geld sollte keine Rolle spielen. Im Erfolgsfall würde der Alte noch auf der Feier das Ruder an seinen Sohn übergeben, und dann wären Friemel und Jeremias Peter die beiden Geschäftsführer der Peter GmbH & Co. KG. Die Alternative war deutlich unattraktiver: Friemel wäre seinen Job los, Jeremias Peter bekäme irgendwelche Sonderaufgaben im Unternehmen, und Hans Karl Peter bliebe im Amt. Es gab noch eine dritte Variante. Die aber gab es nur im friemelschen Kopf. Er hütete sie sehr sorgfältig. Als Johannes Friemel mit Gesprächen, Arbeitsspaziergängen und therapieähnlichen Sitzungen nicht weiterkam und Jeremias Peter immer wieder in alte Verhaltensmuster zurückfiel, griff er zum letzten Mittel: Rollenspiele waren der letzte Schrei unter Betriebspsychologen und Personalchefs, die sich mit Problemen in Unternehmen oder mit schwierigen Einzelfällen beschäftigten. Im Internet fand er das Unternehmen ‚Wer nicht lernen kann, muss fühlen‘. Im Angebot waren unter anderem Rollenspiele – fiktive Situationen für Firmennachfolger, die ohne Anlauf ins kalte Wasser geworfen würden. Für verschiedene Themengebiete könne man Sprechtexte, Auswertungstabellen und Requisiten buchen, sogar einen erfahrenen Kameramann und einen Tontechniker. Als Gegenüber von Jeremias Peter in diesen gestellten, aber realistischen Situationen, könne Friemel sich von professionellen Schauspielern vorher trainieren lassen, in seinem Fall wurde die Kinogröße Udo Bullenkecht empfohlen. Wie ihm das gefiel! Das Konzept überzeugte Friemel sofort. Durch überzogenes und provokantes Verhalten wollte er Jeremias Peter zwingen, zu reagieren, zu entscheiden, aus sich herauszugehen, seinen Instinkten zu folgen, wenn er denn welche hätte. Friemel wählte die zu spielende Situationen aus und machte Termine. Jede Szene wurde gefilmt und ausgewertet, wobei es um die richtigen Reaktionen, Ausdrucksweise, Überzeugungskraft und Führungsqualitäten ging – in allen Bereichen war Jeremias Peter nach Friemels Auffassung auf dem Niveau eines Praktikanten. Außerdem wurden die Filme Hans Karl Peter zur Verfügung gestellt, damit er die Entwicklung seines Sohnes selbst verfolgen könnte. Bislang gab es allerdings nichts zu verfolgen. Irgendwie kam es am Ende immer dazu, dass Jeremias Peters aus der Rolle fiel, Fehler machte und aufgab. Das alles hatte bislang fünf Mal stattgefunden – und nichts gebracht. Wenn es für Jeremias Peter so schwer war, sich vorzustellen, wie es am Tag der Tage sein würde, das Unternehmen allein zu leiten, musste Hans Karl Peter eben sterben, damit er seinen Vater komplett ausblenden könnte. Nun war er tot – und Jeremias dennoch mal wieder gescheitert. Das Video dieser letzten Folge war gleichsam der Nachweis des ultimativen Scheiterns des Sohnes als möglichem Nachfolger seines Vaters. Johannes Friemel lächelte zufrieden. Er konnte sich nichts vorwerfen, niemand konnte das.
Keiner da (Samstag, 6.8.22)
Die Delegation chinesischer Geschäftsleute war tatsächlich erschienen, alles Hoffen, es könnte etwas dazwischenkommen, hatte nicht geholfen. Hans Karl Peter hieß die Gäste aus Peking zähneknirschend willkommen und dankte ihnen für ihr Interesse an seinem Unternehmen.
„Ich spreche und trete auf der Stelle für alle. Wir schätzen das Wissen, dass Sie ein Opfer Ihrer Zeit sind“, antwortete der Übersetzer Tu Hin. Peter begann mit der Führung. Mit bedeutungsvollem Blick bat er die Gruppe, alle Mobiltelefone auszustellen, da sie durch sicherheitsempfindliche Bereiche gehen würden, Signale aller Art würden sofort den Alarm auslösen. Zwanzig Augenpaare zwinkerten sich erfreut zu. Die von Helen Spieker in dreistündiger Arbeit vorbereitete Power-Point-Präsentation hatte er sich gar nicht erst angesehen. Da er die Gäste schnell wieder loswerden wollte, sollten die es sich im Sitzungsraum gar nicht erst bequem machen. Er hatte den Azubi Lukas Neubert angewiesen, Getränke für die Gäste an Stehtischen in der Kantine bereitzustellen. Das Übliche. Dafür gab er ihm eine Stunde Zeit, denn länger würde die Führung nicht dauern.
Peter zeigte leere Büros, den Parkplatz, eine neu geflieste Herrentoilette, die Dachterrasse mit Solarmodulen aus China. Applaus. Von hier hatte man einen tollen Blick über die Stadt und die ganze Gegend. Die Chinesen lächelten gequält. Man konnte auch den Garten mit den zehn Gewächshäusern sehen. Der Dolmetscher versuchte einen Vorstoß und fragte, ob man nicht einen Blick in ein „Hauswachs“ werfen könne. Hans Karl Peter tat so, als hätte er das nicht gehört, und führte die Gruppe wortlos lange Gänge entlang, Treppen hinauf und hinunter, in die leere Tiefgarage, vorbei an Werkstätten und der Abfüllung. „Nein, da können wir nicht rein, weil da niemand ist“, sagte Peter, ohne dass er gefragt wurde, und legte einen Zahn zu, die Stunde war fast um. Sie hasteten vorbei an Besprechungsräumen und der Entwicklungsabteilung. Ein dumpfer Knall, hektische Stimmen hinter ihm. Offenbar war ein Mann aus der Gruppe gestürzt und nun ohnmächtig, genau vor der Tür von Entwicklungsleiter Mischke. Einige bemühten sich auf Knien und bildeten einen Kreis um ihn. „Soll ich einen Arzt rufen?“, fragte Peter den Dolmetscher lustlos. Das sei nicht nötig, Herr Pin Tau habe wohl nur zu wenig getrunken. Den unausgesprochenen Hinweis auf die schlechte Gastfreundschaft ignorierte Peter. Von dem Kreis der knienden Männer verdeckt, schob einer mit einem Teleskopstab ein ultradünnes Smartphone unter der Bürotür hindurch, das sofort im Stakkato zu fotografieren begann. Da die gemeinsamen Wiederbelebungsversuche der anderen mittlerweile auffallend laut waren und von lauten Aufmunterungen begleitet wurden, hörte niemand die Geräusche des Auslösers. Ein lautes Krachen ließ alle verstummen. Hans Karl Peter schmunzelte. Hinter der Bürotür von Jonas Mischke hatte die zusätzliche Sicherheitstür reagiert, ausgelöst durch die von dem Teleskopstab unterbrochene Lichtschranke am Boden. Eine eiserne Tür war von der Zimmerdecke nach unten gerauscht und hatte – wie eine Guillotine – das Smartphone vom Stab getrennt. Hier kam nun niemand mehr rein, bevor nicht der Sicherheitsdienst beide Türen entsicherte. Der eben noch bewusstlose Herr Pin Tau erstand spontan auf und schob sich den stark beschädigten Teleskopstab ins linke Hosenbein. Die Gruppe folgte Hans Karl Peter hektisch, während hinter der Bürotür von Jonas Mischke einsam ein Smartphone klingelte.
Schweigen (Montag, 8.8.22)
Die Tür zu Julia Bendes Büro war geschlossen, es roch auch nicht nach Lachs und Ei. Montags ab acht Uhr war sie doch sonst immer da. Urlaub vielleicht? Also trottete Buschido weiter und stieß im Gang auf Enno Klamm, den Leiter der Buchhaltung. Er hatte eine Tasse Kaffee und ein belegtes Brötchen auf einem Tablett. „Na komm, du Wonneproppen!“, sagte er und ging in Richtung seines Büros. „Hattest du ein schönes Wochenende?“ Der Hund wusste, der Tag würde gut beginnen, und folgte ihm. Klamm schätzte die Gesellschaft des ausgeglichenen Vierbeiners, für den er ein Hundekissen unter seinen Schreibtisch gelegt hatte. Und Hundefutter hatte er auch immer in der Schublade. Die beiden konnten gut zusammen schweigen, das können Buchhalter immer gut, auch allein. Quatschende Menschen sind nichts für Hunde. Es war Zeit für die Wochenbesprechung. Enno Klamm rief seine sechs Mitarbeiter aus dem Nebenzimmer zu sich. „Und bringen Sie bitte den Jungspund mit!“, rief er noch. Der Azubi Matthias Albrecht saß in seinem Einzelbüro, wo er nichts mitbekam und immer eine Extraeinladung brauchte. Als Letzter kam er in Klamms Zimmer geschlurft. Buschido sprang auf, schnüffelte intensiv an seiner Hose und wedelte mit seinem ganzen Hinterteil. Die anderen wunderten sich. Hatte der Azubi nicht eine Hundehaarallergie? Albrecht blickte nur cool in die Runde. Die Abteilung musste jede Menge neue Rechnungen prüfen, bezahlen oder eigene ausstellen. Sie gingen das immer zusammen durch, teilten die Aufgaben auf, bevor sich jeder in seine Arbeit stürzte. Wie immer war auch eine Rechnung dieses Professors für Linguistik mit der Überschrift „Notfall Jeremias Peter“ dabei. Jedes Wochenende ein sprachlicher Notfall? Das ganze Team war zur Verschwiegenheit verpflichtet, aber wundern durften sie sich schon. Und dann war da auch wieder eine Zahlungsanweisung an das Unternehmen „Wer nicht lernen kann, muss fühlen“. Beide Dokumente waren freigegeben durch Johannes Friemel. „Was treibt der Fummler da bloß?“, fragte sich Enno Klamm halblaut. Buschido grollte, Hunde wissen oft mehr, als sie sagen. Sie sind die wahrhaften Meister des Schweigens.
Gute Idee (am selben Tag)
Einmal im Monat sichtete die Abteilung für Betriebliches Vorschlagswesen alle eingegangen Verbesserungsvorschläge. Die sinnvollsten mussten sie Hans Karl Peter zur Entscheidung vorlegen, der nur solche Ideen akzeptierte, die für Einsparungen sorgten. Erst im letzten Monat hatte er einen Vorschlag zur Umsetzung freigegeben und vergab dafür eine satte Prämie: Ab sofort kaufte das Unternehmen eine sehr viel billigere Kekssorte für Besprechungen als bisher. Ein Test hatte ergeben, dass niemand sie mochte, weil sie staubig und moderig schmeckten. Also wurden bald gar keine mehr gekauft, und die Dauer der Meetings reduzierte sich um fünfzig Prozent. Das gefiel dem Alten. Heute lagen drei Verbesserungsideen im Briefkasten. Ein Mitarbeiter wünschte sich jeden Freitag ab dreizehn Uhr leichte alkoholische Getränke in der Kantine, weil das gut fürs Betriebsklima sei. Abgeschmettert! Ein anderer meinte, die Kleiderordnung solle gelockert und Sneakers erlaubt werden. Abgelehnt! Das würde Hans Karl Peter niemals genehmigen. Und ein Mitarbeiter der Personalabteilung war der Meinung, jeder solle sich Pflanzen und Haustiere mit ins Büro bringen dürfen. Das sei gut gegen Stress und würde sogar die Sozialkompetenz der Mitarbeiter erhöhen.
„Wie oft hatten wir diese blöde Idee eigentlich schon auf dem Tisch?“, stöhnte Abteilungsleiter Ulf Sondermann.
„Herr Peter reißt uns doch den Kopf ab, wenn wir ihm das vorlegen.
„Wir könnten es wenigstens mal versuchen.“
Dieser Satz kam von Jeremias Peters, der sonst kaum etwas in dieser Runde sagte. Er blickte in erstaunte Gesichter, Sondermann war baff. Das waren ja ganz neue Töne. Seit er regelmäßig ins Tierheim ging und Tarzan bei ihm zu Hause die Gardinen zerrupfte, sah Jeremias Tiere mit anderen Augen. Er fügte hinzu, das sei in vielen Unternehmen erlaubt und die Peter GmbH & Co. KG solle mit der Zeit gehen. Das sei auch gut für das Gewinnen neuer Mitarbeiter.
„Und am besten kann man dann auch noch eine Auszeit für das Pflegen von schwangeren Hamstern beantragen“, frotzelte Sondermann. Alle lachten und schlugen sich auf die Schenkel. Nur Jeremias schwieg, Sondermann errötete.
Details
- Seiten
- 260
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2024
- ISBN (eBook)
- 9783958942783
- ISBN (Buch)
- 9783958942776
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2024 (April)
- Schlagworte
- Familienunternehmen Quittenbrand-Hype Meetings im Überfluss Der Wahnsinn des Arbeitsalltags Geheime Erfolgsformel Korruption und Verrat Filmreife Spionageaktionen Implosionsreife Welt Kleinstadtleben Lachen und Amüsement Satirischer Roman Absurditäten der Arbeitswelt Satire Humor