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Bekenntnisse einer Seniorin

Meine abenteuerliche Reise durch das Netz

©2024 234 Seiten

Zusammenfassung

Anne Mey, 64 Jahre, 172 cm, nimmt Sie in ihren „Bekenntnissen“ mit auf ihre unerschrockene Reise durch die Dating-Welt. Ein Jahr lang hat sie die vielen munteren Begegnungen mit (männlichen) Menschen in ihrem Tagebuch notiert. Sie nimmt sich das Recht raus, als gestandene ältere Dame Liebe zu suchen, Sex zu haben, Männer zur Unterhaltung zu finden. Nichts von dem ist verboten. Also macht sie sich auf, das Leben noch einmal in vollen Zügen zu genießen. Die abenteuerlustige Seniorin, die auszog das Fürchten zu lernen - wie im Märchen der Gebrüder Grimm – hört den Lebensgeschichten ihrer Dating-Partner zu und beobachtet gleichzeitig ihre eigenen Wünsche und Ängste. Und sie analysiert die Funktionsweise der virtuellen Kontaktwelt. Sehr genau – und hilfreich – demaskiert sie Nachrichten von „Lovescammern“, lernt sie die Profile ihrer Männerkontakte richtig zu lesen. Es ist aber auch die mutige Erzählung über eine Dating-Sucht und das Ausschleichen aus dieser Droge. Versehen sind ihre Bekenntnisse mit kurzen Zitaten aus dem literarischen Liebeswerben und mit philosophischen Gedanken früherer Jahrhunderte - so wird jederzeit das Niveau gehalten. Ein äußerst unterhaltsames Buch für alle, die gedatet haben oder noch wollen, aber es bisher nicht wagten, weil sie dachten, sie seien zu „alt“, aber genauso für alle, die wissen, warum sie es nicht wollen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorspiel

Zu Pfingsten kommt der Heilige Geist über mich, und ich melde mich bei einer Partnerbörse an. Pandora ist gratis, gerade recht zum ersten Üben. Ich erfinde ein Pseudonym und suche ein geeignetes Foto von mir. Schließlich stehe ich im Netz, das Gesicht absichtlich so verschwommen, dass man selbst meine Brille nicht erkennt. Vom Alter schmuggele ich vier Jahre weg, statt 60 nur 56 Jahre. Ich bin zu alt, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein (Johann Wolfgang Goethe).

Die beiden Pfingsttage verbringe ich, an den Computer geklebt, auf der Jagd bei Pandora. Ich switche durch Profile und Fotos von Berliner Männern zwischen 50 und 65 mit Hochschulabschluss. Ich schreibe Messages an diese Männer, erhalte Antwort oder auch nicht. Ein paar abweisende Reaktionen wegen meines verschwommenen, also unehrlichen Fotos. Im allgemeinen jedoch ist man höflich und versüßt die Absage („ich schreibe mir schon mit drei Frauen, eine vierte ist mir zuviel“) mit „viel Erfolg bei Pandora“. Plötzlich flattert der schöne Journalist in meine Letter-Box. Ich stehe vor dem Bildnis meines Traummannes. „Du ziehst es vor, so vermute ich“, schreibe ich am zweiten Tag eines knapp gehaltenen, aber regen Textaustausches, „erst ein Weilchen zu korrespondieren, bevor du dich triffst?“ Er antwortet: „Ich ziehe es in jedem Fall vor zu erfahren, wie mein Gegenüber denkt, welche Vorlieben, Neigungen es gibt, wie das Temperament ist, ob schüchtern oder neugierig, zurückhaltend, lustvoll, leidenschaftlich etc.“ Da ist er schlagartig tot für mich. Wie dumm kann einer sein! Durch Texte erfahren zu wollen, ob eine Frau lustvoll und leidenschaftlich ist! Dass er ein kalter Fisch sei, war schon mein erster Eindruck bei seinen kargen, fast unhöflichen Sätzen gewesen. Ach ja, das erste Gefühl trügt nie, ein Bild allerdings doch.

Ein täglicher Chat mit Pembroke entsteht, benannt nach einem englischen Renaissance-Dichter, das zieht mich an. Auf Pembrokes Nachrichten freue ich mich jeden Morgen. Ich weiß jetzt bereits sehr viel über ihn: Wo er überall gelebt hat, auf welche internationale Schule seine Kinder gehen, wo sie in den Sommerferien hinfahren. Dasselbe weiß er von mir. Am siebten Tag antwortet Pembroke nicht mehr. Das Lämpchen neben seinem Pseudonym bleibt dauernd auf rot, also auf abwesend gestellt. Was hat das zu bedeuten? Verreist oder die Traumfrau gefunden? Warum hat er mir das nicht geschrieben? Nie wieder höre ich etwas von Pembroke. Also lautet der Beschluss, dass der Mensch was lernen muss (Wilhelm Busch).

Mittlerweile liegt mein erstes Treffen hinter mir. Für diesen denkwürdigen Akt habe ich mir jemanden ausgesucht, der gewiss mein Herz nicht erwärmen würde: einen 73-Jährigen. Gefunden habe ich mein Übungsobjekt nicht über Pandora, sondern über Near-to-thanatos, eine Gratis-Partnerbörse für Menschen über 50. Ein längeres, sympathisches Telefonat geht dem Treffen voraus. Die ungeschriebene Regel lautet: Nie gibt die Frau ihre Festnetznummer, sondern nur die Handynummer. Die Simkarte kann man zur Not, falls man einen Stalker erwischt, in den Papierkorb werfen. Übrigens habe ich keinen einzigen Stalker getroffen. Liegt es an der Altersgruppe? Oder an der Natur des Netzes? Will die eine Frau nicht, dann switcht man halt zur nächsten. Ein Mann gestand mir, er habe hundert Namen in seiner Favoritinnen-Liste gespeichert. Die wollen alle abgearbeitet werden!

Mein Übungsobjekt hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit Louis de Funès, dem französischen Filmkomiker. Sogar die eine Augenbraue zieht er hoch wie der! Zweieinhalb Stunden sitzen wir im Café. Er erzählt von seinem Buchprojekt über die Gesetzmäßigkeit des Zufalls. Ach, du meine Güte! Wenn ich ein Brechmittel brauche, hole ich es lieber aus der Apotheke als aus der Buchhandlung (Marie von Ebner-Eschenbach). Dann berichtet er von seinen drei Ehen. Ich kann nur eine geschiedene Ehe vorweisen. Funès entrollt ein großes Panorama seines Lebens. Jeder Laienpsychologie kann heraushören, dass er ein Problem mit Sexualität hat. Die größte Liebe seines Lebens war eine platonische, bekennt er, der bekennende Katholik. Als wir aufbrechen wollen, zückt Funès ein hübsches und dick gefülltes Portemonnaie, um unser beider Cappucino zu zahlen. „Wie findest Du, wie das Portemonnaie aussieht?“, fragt er. „Jugendlich“, antworte ich. „Ach, das beruhigt mich, denn erst vor kurzem habe ich entdeckt, dass es ein Damenportemonnaie ist. Aber es ist so praktisch.“ Er öffnet es und zeigte mir die vielen Fächer. Da liegen, systematisch geordnet, ganz viele Scheine: die grünen Hunderter, die rosa Fünfziger. Warum schleppt dieser Mann so viel Geld mit sich herum, denke ich, das ist doch gefährlich. Als ich meinem jüngsten Sohn – er ist fünfzehn Jahre alt – die Geschichte mit dem Portemonnaie erzähle, sagt er: „Mama, bist du naiv. Hast du nicht gemerkt, dass er das extra gemacht hat, um dir zu zeigen, dass er Geld hat?“ Oh je, wie naiv ich bin, das wird bald eine heftige Affäre bei Pandora zeigen.

Denn plötzlich tritt Anderson Seal in mein Leben. „Hallo, mein Fräulein, ich Ihre Schönheit bewundert wirklich. Würden uns sehr freuen, mit Ihnen zu plaudern, mein lieber.“ Ich antworte auf Englisch. Er gibt mir sofort seine E-Mail-Adresse, damit ich ihm Bilder schicken kann: colonelandersonseal@hotmail.co.uk. Hilfe, ein Militär! Ach warum nicht, denke ich, es macht mir so viel Spaß, auf Englisch zu schreiben. Fotos schicke ich nicht. Innerhalb der nächsten vier Stunden wechseln wir mehr als zwanzig Nachrichten. Ich erfahre, dass seine Frau eine Deutsche war und dass heute ihr Todestag ist. Ein Welle von Mitgefühl steigt in mir hoch, ich will ihn trösten und schreibe ihm das. Er ist zutiefst gerührt. An manchen Tagen könne er nicht schreiben, erklärt er irgendwann, er sei in einem Camp. Auf meine Frage, wo das Camp steht, antwortet er nicht. Am nächsten Tag ist sein Profil bei Pandora gelöscht. Ich bin enttäuscht und schreibe ihm an seine Mail-Adresse. Er habe sich gelöscht, antwortet mein Colonel, weil er mich gefunden habe. Ununterbrochen denke er an mich. Er sei in Afghanistan stationiert, schreibt er nun. Nur kurz bin ich entsetzt, dann kommt schon wieder mein Mitgefühl hoch. Er schickt mir Fotos im Mail-Anhang: ein sympathisch aussehender Mann im Tarnfleck, neben ihm der süße zehnjährige Sohn, von dem er mir schon erzählt hat.

Es kommen nun Mails mit Liebesschwüren:„I never felt love so pure“, „I stirr at your foto day and night“. Er verlasse bald das Militär und wolle nach Deutschland ziehen, schreibt er, sein Sohn brauche eine gebildete Mama wie mich. Ich rede ihm ins Gewissen, er kenne mich doch gar nicht. Vielleicht brauche er psychologische Hilfe wie manche Soldaten nach dem Einsatz in Afghanistan! Es folgt eine weitere Woche voller Liebesschwüre von ihm und freundlicher Beschwichtigungen von mir. Plötzlich schaltet sich mein Verstand wieder ein. Ich tippe „Colonel Anderson Seal“ bei Google ein. Ich lande auf einer Seite mit dem merkwürdigen Titel „Anti-scam-forum. Russian brides“. Da finde ich wortgleich den ersten Brief, den der Colonel in seinem krausen Deutsch mir geschickt hat, bei einer „Zaparella“, die sogleich misstrauisch wurde. Und das „Anti-scam-forum“ der russischen Bräute informiert: „Wir haben in der Zwischenzeit auch einen realen Namen zu diesem Gesicht: Jean Dupont, Geschäftsmann aus Toronto, Kanada.“ Nur mit Mühe verstehe ich: Das Forum schützt offenbar heiratswillige russische Bräute vor dem Typ Mann, den man früher Heiratsschwindler nannte. Ja, gerade diese Bräute sind darauf angewiesen, seriöse Männer zu treffen. „Scam“ definiert Wikipedia als „Vorschussbetrug mittels Massen-E-Mails“. Eine besondere Unterart des Scamming sei „Love Scam“, „eine Art Vorschussbetrug mittels einer fiktiven Liebesgeschichte. Die Betrüger suggerieren ihren Opfern, sie hätten sich verliebt. Etwas später bitten sie um Geld, z.B. für das Internetcafé, um den Kontakt aufrecht zu erhalten. Love-Scammer überhäufen ihre Opfer schon nach dem ersten Kontakt mit ellenlangen Briefen voller schwülstiger Liebesschwüre. Sie bezeichnen ihren neuen Partner dann bald als Ehemann oder Ehefrau und schmieden Heiratspläne, deswegen scheint die Bitte um ein Visum oder ein gemeinsames Konto gerechtfertigt. Die Polizei rät, bei Scamming „sofort jeden Kontakt abzubrechen und eine neue Mailadresse einzurichten. Denn die Täter schicken mit ihren Mails oft einen Computer-Virus mit. Dieser erlaubt Kontrolle über den Rechner ihrer Opfer.“

Panik befällt mich. Mein Konto wird ausgespäht! Zum Glück hatte ich die Fotos vom Colonel nicht auf meinen Computer heruntergeladen, weshalb ich mir keinen Virus eingefangen haben kann. Ich hatte eine extra Mailadresse nur für die Partnersuche eingerichtet, die ich sofort lösche. Wie fühlt man sich als Opfer eines Love-Scammers? Beschämt, missbraucht und unendlich dumm. Wonach soll man am Ende trachten? Die Welt zu erkennen und sie nicht zu verachten (Johann Wolfgang Goethe).

Ich kann sie gar nicht zählen, die Männer, die ich innerhalb von zehn Wochen getroffen habe. Doch, natürlich kann ich, es waren genau zehn, einer pro Woche. Nicht die mitgezählt, die ich schon nach einem Telefonat aussortiert habe. Weil die Stimme unsympathisch klang oder der Text es war. Wenn z.B. einer gleich darüber klagt, wie ungerecht er von seinem Chef behandelt wird. Für die schriftliche Absage nach den Treffen habe ich einen stereotypen Satz: „Ich kann mir uns als Paar nicht vorstellen“ und noch ein paar freundliche Worte. Der eine antwortet darauf verzweifelt mitten in der Nacht, dass er auch an der Beziehung arbeiten wolle. Das ist der mürrisch blickende, rheumakranke, früh verrentete Physiker, der nicht weiß, warum ihn vor kurzem die Frau verlassen hat. Beim ersten Date an einem lauen Sommerabend schenkt er mir so viel Wein ein, dass ich betrunken und sehr heiter werde. Rotwein ist für alte Knaben/ eine von den besten Gaben (Wilhelm Busch). Weil ich daher gar nicht mehr weiß, wie der Mann mir wirklich gefallen hat, treffe ich ihn ein zweites Mal. Oh Graus! Mit aller Macht muss ich meinen spontanen Fluchtimpuls unterdrücken. Gebeugte Silhouette, verbeulte Hosen und Jackett. Der Mann führt mich in ein Restaurant, danach in einen Park, um mir das Krankenhaus zu zeigen, in dem er vor kurzem wegen einer lebensgefährlichen Sache operiert worden war. Ja, was soll man dazu sagen? Und sein Auto! Man soll ja niemanden nach seinem Auto beurteilen. Aber bei diesem Mann kann ich den Messie deutlich an seinem alten VW-Bus erkennen. Jede Menge dreckige Putzlappen liegen herum, alte Plastikbecher, zerknautschte Pappkartons. Es fehlen nur die toten Fliegen in den Plastikbechern. Ich hatte mein schönstes Kleid für das zweite Date angezogen. Wie der Pfau auf dem Misthaufen fühle ich mich, als ich mich in den dreckigen VW-Bus hieve.

Und da ist noch Didi, der gut aussehende 70-jährige Flugzeugbauingenieur, der sich für 64 ausgegeben hat und der gleich aufspringt, als er mich sieht und ruft: „Ich muss dir gestehen, dass ich nicht 64, sondern 70 bin!“ Woraufhin ich sage: „Ich muss dir gestehen, dass ich nicht 56, sondern 60 bin.“ Didi ist lustig und unterhaltsam, aber schon ein wenig gaga. Wegen Didi hab ich mich fast mit einer Freundin entzweit, die auch bei Pandora unterwegs ist und Didi ebenfalls gedatet hat. Völlig begeistert ist sie von Witz und Wesen dieses Mannes. Aber irgendwie verläuft sich Didis Spur für uns beide im Nichts. Ach, ja, er hat weder bei mir noch meiner Freundin ein zweites Date vorgeschlagen. Aber telefoniert habe ich noch ein paar mal mit Didi, der zwischen seinen Häusern in Landau und Berlin hin- und herpendelt. Er erzählt mir, dass er über Pandora eine schwerkranke Frau kennengelernt hat, der er jeden Abend am Telefon Tiergeschichten vorliest. Wie rührend, aber ihn und mich bringt das auch nicht weiter.

Und da ist auch noch der exotisch wirkende Gentleman, mein zweites Date, vor dem ich richtig aufgeregt bin. Als Vorlieben sind in seinem Profil Titel von Filmen und Büchern angegeben, die ich alle auch mag. Nein, so viel Ähnlichkeit, das kann doch kein Zufall sein! Sein Foto zeigt einen interessant und sympathisch aussehenden Mann vor einem blühenden Blumenbeet. Wir verabreden uns in einem Café in meiner Nähe. Wir wohnen sogar nah beieinander! Am Telefon erzählt er, dass er in Uruguay geboren sei, von deutschen, jüdischen Eltern, die nach 1960 wieder nach Deutschland zurückkehrten. Ich sehe mich bereits am Arm dieses hageren, philosophisch anmutenden Gentleman nach Montevideo reisen. Als Beruf hat er allerdings Ingenieur angegeben. Erstaunlich, wieviele Ingenieure sich bei Pandora und Neartothan tummeln. Ob die besonders suchfreudig sind? Oder besonders technikaffin? Oder gibt es tatsächlich so viele? Jedenfalls bin ich vor dem Date mit José richtig high. Was ziehe ich an? Ich führe meinem fünfzehnjährigen Sohn mein glitzerndes Oberteil vor. „Overdressed“, sagt er und blickt kaum aus den Tiefen von Facebook empor. Trotzdem wähle ich noch eine nette Kette, ein paar glitzernde Ohrringe und hohe Schuhe. Ich fühle mich richtig schön, als ich kurz vor acht anmutig durch die sommerlichen Straßen schreite, dem Rendezvous entgegen. Anmut ist eine bewegliche Schönheit, eine Schönheit nämlich, die an ihrem Subjekt zufällig entstehen und ebenso aufhören kann (Friedrich Schiller).

Erste Enttäuschung: Das Draußen-Café ist oll, ein paar speckige Tische und wackelige Stühle, eine Strohmattenzaun drumherum. Ich bin vor José da. Ein Fehler, den man nie machen soll. Denn der Mann kann die Dame nicht in ganzer Gestalt wahrnehmen. Und sie kann weniger gut das etwaige Aufleuchten in seinen Augen erkennen. Hinter dem Strohmattenzaun hält schließlich ein Fahrrad. José, ein alt aussehender, nicht unsympathischer Mann, ist im Trainingsoutfit. Ach ja, er hatte gesagt, dass er vorher Volleyball spiele. Ich komme mir schon wieder vor wie der Pfau auf dem Misthaufen. Zweieinhalb Stunden haben wir uns unterhalten, das scheint meine Zeit zu sein. Ich frage ihn nach seinen Erfahrungen mit Neartothan. Ach, ehrlich gesagt, er gehe eigentlich nur noch zu einem Treffen, um festzustellen, dass er gar keine Beziehung mehr will. In unserem Alter noch diese Intimitäten? Ob ich mir vorstellen kann, fragt er unvermittelt und blickt mich an, mit ihm zusammen sich die Zähne zu putzen? Man kann ja auch getrennt ins Badezimmer gehen, antworte ich verlegen und erfasse nicht sofort das eigentliche Wesen dieser Frage. Beim Abschied begleite ich ihn zu seinem Fahrrad, und mit Entsetzen erblicke ich ein Liegerad. Jetzt wird José fast zutraulich: Ob man nicht mal ins Kino gehen soll? Na klar, antworte ich freundlich, wohl wissend, dass ich mich nie wieder mit dem Liegerad treffen werde.

Ja, es waren zehn angenehme Treffen, an sonnigen Nachmittagen oder lauen Sommerabenden im Café, immer waren es interessante Gespräche. Aber zehn Wochen nach Pfingsten habe ich mich bei Pandora gelöscht. Aus Enttäuschung? Nein, im Gegenteil: Ich bin fündig und glücklich mit Hugo geworden. Das Liegerad aus der Nachbarschaft kreuzt ab und an meinen Weg, aber es scheint mich nicht zu erkennen.

18. Juli

Nach fast vier Jahren hat Hugo plötzlich die Beziehung gekündigt. Er war chronisch überarbeitet und in einer depressiven Phase. Auch wenn unsere Beziehung etwas minimalistisch war – wir sahen uns ein- bis zweimal die Woche – war ich richtig doll in Hugo verliebt. Und er gab meinem Leben eine Struktur, die ich offenbar brauche. Seit ich siebzehn Jahre alt bin, habe ich immer in einer Beziehung gelebt. Die längste war meine Ehe, die immerhin fünfzehn Jahre hielt und aus der zwei wunderbare Kinder hervorgingen. Danach lebte ich ein Jahrzehnt in einer komplizierten Fernbeziehung. Es ist nicht so, dass ich sexsüchtig bin. Es ist etwas anderes, das wohl tief in die Kindheit reicht. Vielleicht der Wunsch nach Symbiose, den die Mutter nie befriedigt hat und der wie ein Phantom durch mein Gefühlsleben geistert. Wahrlich aus mir hätte vieles werden können in der Welt/ hätte tückisch nicht mein Schicksal/ sich mir in den Weg gestellt (Adalbert von Chamisso).

Schon vor zwei Jahren hatte Hugo, wieder in einer Depression, plötzlich Schluss gemacht, war dann aber nach wenigen Tagen zurück gerudert. Damals fiel ich in eine bodenlose Schlucht. Diesmal falle ich nicht ins Bodenlose, sondern lande auf einer Hängebrücke. So eine aus Seilen und Brettern gezimmerte löchrige Brücke, die leicht im Winde schwankt. Da liege ich nun und versuche mühsam, zu einem Ende der Brücke zu kriechen.

Unvermutet streckt sich mir eine hilfreiche Hand entgegen. Denn gleich nach dem Abschuss durch Hugo Anfang Juni hatte ich mich in die Partnersuch-Annoncen der Wochenzeitung Nordkurier gestürzt und auf eine Annonce geantwortet. Hatte dem Brief ein blaustichiges Foto beigelegt, das das Gesicht einer rätselhaften Unbekannten zeigt. Das Foto hatte vor ein paar Jahren ein über das Internet gefundene Verehrer gemacht, und ich fand es sehr sinnig, dass es nun dazu diente, neue Verehrer zu finden. Drei Tage nach Absenden meines Briefes klingelt mein Handy und zeigt eine unbekannte Nummer an. Eine sympathische, tiefe Männerstimme sagt atemlos und fast ohne Einleitung, er wolle mich unbedingt treffen. Er sei von meinem Brief – das Foto erwähnt er nicht – so begeistert, dass er sofort anrufen musste. Dieser Mann, 68 Jahre alt, ehemaliger Gymnasiallehrer aus Franken, erzählt mir, er habe hundertfünfzehn Zuschriften erhalten, aber meine sei die einzige gewesen, die bei ihm Klick gemacht habe, angeblich noch bevor er das Foto gesehen habe. Er habe nur gebetet, dass ich nicht adipös sei. Am nächsten Tag schickt er per Mail ein Foto von sich. Das Herz steht mir vor Schreck fast still. Ja, so stellt man sich einen Lehrer gern vor: strenges Profil, in ein Buch schauend. Meine Schwester in Westdeutschland – wie wir Westberliner früher sagten –, mit der ich fast täglich telefoniere, meint: „Aber die Ohren, glaube ich, sind hübsch.“ Die Nase sei markant, und meine gebildete Schwester weiß: „An der Nase eines Mannes erkennt man seinen Johannes.“

Der Franke und ich beginnen nun täglich abends zu telefonieren. Er wird zu meinem Strohhalm bzw. zu dieser Hand, die sich mir, dem auf der schwankenden Hängebrücke mühsam kriechenden Wesen, entgegenstreckt. Ich lüge, sage nicht, dass die Beziehung zu meinem Freund vor sechs Tagen zu Ende gegangen sei, sondern vor sechs Monaten. Er sagt, seine fünfjährige Beziehung zu einer Frau in Hannover sei vor zwei Jahren zu Ende gegangen. „Was mich an dir wundert“, meint meine Freundin Ida, „dass du immer glaubst, die anderen erzählen die Wahrheit, während du so munter drauflos lügst.“ Stimmt, ich erlaube mir viele Notlügen, traue dies aber meinen Mitmenschen, vor allem den Männern, nicht zu. Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist (Johann Wolfgang Goethe).

Der Schulmeister und ich erzählen uns das ganze Leben am Telefon. Wieviel Ehen, wieviel Kinder, wie die Jugend. Merkwürdig oft kommt das Thema Sex vor, nur in kleinen Sätzen, aber immerhin. Ja, Sex im Alter, das wolle man doch und wenn es nur kuscheln sei. Nicht dass ich denke, dass er ein Problem mit der Potenz habe, schiebt er sofort nach. Ich nicke freundlich in den Hörer. Ehrlich gesagt, interessiert mich das alles gar nicht, ich will nur endlich die schwankende Hängebrücke verlassen. Sogar über unser merkwürdigstes Sexerlebnis tauschen wir uns lachend am Telefon aus. Natürlich hat er wieder das Thema angeschnitten, aber ich habe es auch nicht abgebogen. Er werde nie vergessen, berichtet der 68-Jährige, wie er als junger Mann zum ersten Mal sich einer Frau gegenüber sah, die unten rasiert war. Das sei damals, also in den frühen siebziger Jahren ganz unüblich gewesen. Ich revanchiere mich mit einer lustigen Anekdote: Als junge Frau hatte ich auf einer griechischen Insel einen älteren Liebhaber. Beim Akt sei dem das Toupet hin und her geflattert.

Im Netz finde ich schließlich ein sympathisches Foto, das den Franken bei seiner Verabschiedung vom Schuldienst zeigt. Dieses Foto klicke ich nun täglich mehrfach an, um mich an diesen fremden Mann zu gewöhnen: Selbsthypnose. In früheren Jahrhunderten trug man das Bild des Geliebten in einem Medaillon um den Hals. Meine Freundin Ida, der ich das Foto zeige, findet den Mann nett und propper. „Er duscht bestimmt zweimal am Tag.“ Nach zehn Tagen Telefonieren und täglichen WhatsApp-Wechseln ist es soweit: Er will nach Berlin kommen, um mich zu treffen. Ich reserviere für ihn – auf seine Rechnung – zwei Nächte in der Pension bei mir um die Ecke. Egal, was wird, wenn er sich schon auf den weiten Weg in die Hauptstadt aufmacht, werde ich ihn zumindest mit zwei Tagen Tourismus beglücken.

Da stehe ich nun auf dem Bahnsteig am Hauptbahnhof und erwarte ihn. Ich weiß, dass er im letzten Wagen sitzt und erkenne ihn sofort, als er aus dem Zug klettert. Eisiger Schreck. „Alter Mann“, funkt mein Gehirn, „alter Mann“. Da kommt er auf mich zu getappt, einen Rollkoffer hinter sich her ziehend und bestimmt viel kleiner als die versprochenen 178 Zentimeter. Ich möchte fliehen. Aber er ist ein freundlicher Mensch, beruhige ich mich, das Gesicht sieht freundlich aus. Also begrüße ich ihn freundlich. Wir fahren in seine Pension, geben seinen Koffer ab und ziehen dann durch meinen Kiez zu dem Restaurant, das ich ausgesucht habe. Er hat ein fürchterliches Parfüm. Kein Rasierwasser, sondern ein Parfüm. Das war meine Hauptangst vor dem Treffen: dass sein Geruch mich abstoßen würde. Das Parfüm ist wahrscheinlich dazu da, den Altmännergeruch zu übertünchen. Es reitet mich der Teufel – wie meine Mutter gesagt hätte – und außerdem hatte ich nachts eine Beruhigungstablette genommen, die mich recht arschig macht, und ich sage unvermittelt: „Dein Parfüm ist schrecklich.“ Er grinst freundlich und kontert: „Was hättest du denn lieber? Schweiß und Leder?“ Die Antwort gefällt mir, und ich unterlasse es daher, mich über seinen kunstvollen Dreitagebart zu äußern, den er mir schon angekündigt hat. Als ob ich eine Küchenreibe küssen müsse!

Am Abend gehen wir ins Theater. Ich habe für das Stück von Sternheim „Die Hose“ Karten besorgt. Auf einmal befällt mich der Gedanke, ob es vielleicht etwas gewagt sei, beim ersten Date ein Theaterstück zu sehen, das immerhin auf die typische Bekleidung des männlichen Unterleibes anspielt. Ich finde das bürgerliche Lustspiel aus dem Jahre 1911 nett, aber etwas verstaubt, das Schulmeisterlein jedoch ist über die Maßen begeistert. Vielleicht hat er ja Angst gehabt, dass die Hose die Grenzen des Schicklichen übersteigt. Heilig ist die Unterhose, wenn sie sich in Sonn und Wind/ frei von ihrem Alltagslose auf ihres wahres Selbst besinnt (Christian Morgenstern).

Zwei Tage sind der Franke und ich als Berlin-Touristen unterwegs. Morgens gehe ich zum Frühstücken in seine Pension, und danach ziehen wir durch die Stadt. Der Gesprächsstoff geht uns nicht aus. Schließlich stehen wir wieder am Hauptbahnhof. Ich habe den Eindruck, dass er mich zum Abschied küssen will. Das kann ich im letzten Moment noch verhindern. Ein paar Stunden zuvor beim Mittagessen in einem lauschigen Restaurant hat er übrigens unvermutet ausgerufen: „Ja, ich will Sex mit dir!“ Was soll ich dazu sagen? Ich behelfe mich mit Schweigen.

Zehn Tage später gibt es den Gegenbesuch, ich fahre in ein Städtlein, dessen Name des Dichters Höflichkeit verschweigt (August Friedrich Langbein). Der Schulmeister hat gefragt, ob ich gleich bei ihm übernachten wolle oder ob er eine Pension buchen solle. Ich optiere für die Pension. Er ist verständnisvoll, bucht und zahlt. Ich zahle immerhin die teure Zugfahrt und später auch ein Abendessen. Er weiß um mein vergleichsweise schmales Budget. Am ersten Abend führt er mich in ein schönes Restaurant. Es ist ein sehr warmer Sommerabend, wir sitzen unter Bäumen neben einem fröhlich plätschernden Springbrunnen. Wieder reitet mich der Teufel, und ich kündige heiter an: „Heute Abend werde ich mich betrinken, und dann gehen wir ins Bett.“ Er schaut entgeistert.

Gesagt, getan. Ach, ich vergaß seine Wohnung zu schildern. Sie ist gepflegt, hat hübsche Möbel, aber scheußlich kitschige Bilder an den Wänden und überall Nippes verteilt. Nicht gerade die Porzellanschäferin, aber so ähnlich. Ich habe mittlerweile drei Gläser Wein getrunken und fühle mich meinem Schicksal gewachsen. Das Schulmeisterlein macht das Licht aus – warum eigentlich? – und wir fallen auf‘s Sofa. Was weiter erfolgte, brauchen wir nicht zu melden, weil es jeder, der an diese Stelle kommt, von selbst liest (Heinrich von Kleist).

Erwähnte ich schon, dass wir uns noch gar nicht geküsst hatten? Ich ahnte offenbar, was mich erwartet, nämlich eine Papageienzunge, ein gewaltiger, eingerollter Muskel, dem der Papagei seine Fähigkeit, Worte zu bilden, verdankt. Ich weiß ja, dass die Zunge auch der kräftigste Muskel beim Menschen ist, aber so genau wollte ich es gar nicht wissen. Und dagegen sein Johannes? Schwamm drüber.

Am Morgen danach betragen wir uns heiter, als ob nichts gewesen sei. Beim Frühstück habe ich eine kleine Blutdruckmalaise, mir ist schwindelig, weiß nicht, ob zu hoher oder zu niedriger Blutdruck. Der Schulmeister naht eilfertig mit einem Blutdruckmessgerät: zu niedriger Blutdruck. Ich verkrieche mich noch einmal ins Bett, aber allein. Bei den beiden nächsten Frühstücken gibt es dann ein Ritual: Bevor ich überhaupt meinen Kaffee trinken darf, wird mein Blutdruck gemessen. Ich fühle mich wie fünfzig Jahre verheiratet.

Zwei Tage lang lerne ich bei wunderschönem Sommerwetter die Highlights der Fränkischen Alb kennen. Das Fiasko der gemeinsame Nacht sprechen wir nicht an. Per WhatsApp lasse ich mich von Ida beraten, wie ich argumentieren müsse, damit ich die weiteren zwei Nächte in der Pension verbringen kann. Ich solle sagen, dass mir das alles zu rasch gegangen sei, rät sie. Weshalb ich nicht einfach abgereist sei, fragt eine andere Freundin erstaunt, der ich später die Geschichte erzähle. Ja, warum nicht? Ich hätte das irgendwie als zu dramatisch empfunden. Und außerdem hatte ich ein Ticket mit Zugbindung. Einen anderen Zug zu nehmen, wäre mich teuer gekommen. Ja, obwohl mit akademischen Weihen versehen, muss ich leider aufs Geld achten. Wer gar nichts hat, der ist gebildet (Theodor Fontane).

Das Schulmeisterlein und ich gehen die zwei gemeinsamen Tage zivilisiert miteinander um. Am letzten Abend sitzen wir wieder in einem lauschigen Restaurant unter Bäumen, im Garten eines ehemaligen Bauernhofes. Da fragt er plötzlich, grad nachdem wir fertig gegessen hatten, ob die Nacht ok gewesen sei. Ich nicke freundlich. „Also ich muss dir sagen“, fährt er fort, „dass ich am liebsten die Position habe, wenn die Frau auf mir liegt“. Ich lächle gefasst. Mangels Masse waren wir ja gar nicht so weit gediehen. Es kommt aber noch schlimmer. „Ich hatte solche Angst“, fügt er treuherzig hinzu, „dass du auf Analverkehr stehst.“ Der Ausgang der Begebenheit ist ganz unerträglich prosaisch (Ludwig Tieck).

15. August

Warum bin ich mit einem Mann ins Bett gegangen, von dem ich mich körperlich so gar nicht angezogen fühlte? Es ist wie eine Art Wunderglaube. Beim Durchbrechen der körperlichen Schallmauer tut sich eine Wunderkammer auf. Sicher hat dieser kindliche Glaube mit der Ehe meiner Eltern zu tun. Der Vater behandelte die Mutter respektlos bis verächtlich, aber unverdrossen proklamierte diese, er sei ihre große Liebe. Hinter der Schlafzimmertür, dachte ich als Kind, liegt das geheimnisvolle Land der wahren Liebe. Mein kühner Sprung über die Bettkante des Schulmeisters ist trotzdem ein Erfolg, denn schlagartig erlischt in mir das Bild von der schwankenden Hängebrücke. Ich habe wieder sicheren Boden erreicht.

Über das Ende der Geschichte sei Folgendes vermeldet: Nach meiner Rückkehr fühle ich mich höchst euphorisch und wie einer Gefahr entronnen. Sogleich rufe ich ihn an: „Du hast sicher auch gemerkt, dass die Chemie zwischen uns nicht stimmt, oder?“ Ja, das habe er auch gerade sagen wollen. Wir verabschieden uns höflich. Ob man ab und zu telefonieren werde, fragt er noch. Ja, sagte ich scheinheilig, warum nicht. Wir haben nie wieder von einander gehört.

„Du erinnerst mich an das Märchen von Einem, der auszog, das Fürchten zu lernen, sagt meine Freundin Ida, als ich ihr die Geschichte aus dem Frankenwald im Detail berichte. Ein Bauer hatte einen Sohn, der zu nichts gut war, aber sich vor nichts fürchtete. Da schickte ihn der Vater fort, damit er endlich etwas lerne. „Ich will lernen, was gruseln ist“, sagte begeistert der Sohn. Er kam schließlich zu einem alten Schloss und erfuhr vom König, dass es von unheimlichen Geistern bewohnt sei. Der König versprach dem Burschen die Tochter zur Frau, wenn er das Schloss befreie. Drei Nächte war der Bursche den fürchterlichsten Gespenstern ausgesetzt, aber nach jeder durchkämpften Nacht rief er nur: „Ach wenn es mich doch nur gruselte.“ So befreite er das Schloss und bekam die Königstochter zur Frau. Die war es eines Tages leid, dass ihr Mann immer sagte „Ach, wenn es mich doch nur gruselte.“ Im Schlaf übergoss sie ihn mit einem Eimer kalten Wassers mit vielen Heringen darin. Da rief der Bursch: „Jetzt endlich gruselt es mich.“

20. September

Das zweite Abenteuer in der Reihe Ach, wenn es mich doch nur gruselte ist ein Cellist aus Celle. In der Nordkurier-Annonce beschreibt er sich als Musiker mit „stattlicher Figur und freiem Geist.“ Angucken kostet nichts, überlege ich. Wenn er wirklich adipös ist, kann ich ja einen eleganten Rückzieher machen. Vielleicht hat der Cellist ja nur die stattlichen Ausmaße von Hugo, dessen gewaltiger Bauch mich nie störte. Ich schreibe dem Musiker, dass mich sein Text zum Lachen brachte – das hören Männer sehr gern – und dass das Verhältnis von Leib und Seele offenbar ausgewogen sei. Das wiederum begeistert ihn, und er antwortet postwendend. Er outet sich als engagierter Cellolehrer, wünscht sich sogleich, dass ich bei der Aufführung seines nächsten Schülerkonzertes dabei sei. Die Mail hat ein Foto im Anhang. Da steht ein großer Mann mit einem freundlichen Gesicht in einem Garten, ein Cello vor sich haltend, was eine Information über den Bauchumfang verhindert. Der Mann erinnert mich an den Komiker Heinz Erhardt, und den find ich toll.

Wir telefonieren, und ich habe Lust, den Hörer ganz weit weg zu halten. Denn die Männerstimme ist entsetzlich laut und das Lachen ein berstendes Dröhnen. Das entspricht so gar nicht meiner Vorstellung vom zartbesaiteten Musiker. Und er lacht viel, das tut man ja gern aus Verlegenheit. Eigentlich sagt mir mein Gefühl, lass es, hat keinen Sinn. Aber ich gewöhne mich an den Mann im Laufe zweier Wochen mit täglichen Telefongesprächen. Es ist wie bei dem Franken: tägliche Anrufe von mindestens einer Stunde. Worüber man spricht? Ach, da fällt mir immer was ein, und wenn man älter ist, blickt man ja auf ein langes, erzählenswertes Leben zurück. Natürlich geht es zuerst immer um die Eckdaten: wie lange verheiratet, wieviel Kinder, wie lange ohne Partner. Nein, an Gesprächsstoff mangelt es nie, vielleicht wäre ich eine gute Therapeutin geworden, denn ich bringe jeden zum Sprechen. Der Gerechtigkeit halber erzähle ich auch viel von mir. Das Reden tut dem Menschen gut/wenn man es nämlich selber tut (Wilhelm Busch).

Er ist so unglaublich naiv, dieser Cellist, sogar noch naiver als ich. Er beglückt mich bald mit der Information, er sei bei einer neuen Partnerin die ersten sechs Wochen immer impotent, denn er müsse erst die Gewissheit haben, geliebt zu werden. Au weia, denke ich, und er spürt immerhin, dass seine Mitteilung mich nicht begeistert. Deshalb versichert er mir eilfertig, ich müsse keine Angst haben, er sei ein echter Mann. Nach zwei Wochen am Telefon ist es soweit: Ich mache mich auf die Reise nach Celle. Ja, ich will das Cellokonzert seiner Schüler hören. Und damit man genug Zeit füreinander hat, buche ich für den Vortag also ein Hotel in Celle – das gar nicht billig ist –, kaufe die Zugtickets, die immerhin billig sind. Erfahrung muss was kosten, sage ich mir. Das ist wie eine Psychoanalyse, die muss laut Freud auch Geld kosten, damit sie effizient ist. Schon als Kind habe ich überlegt, ob man Erfahrung praktisch machen müsse oder ob sie theoretisch reiche. Auf diese Frage kann ich heute nur antworten: Erfahrung ist gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können (Reinhart Koselleck). Aber Erinnerungen musste ich mir doch erst einmal anschaffen!

Ich bin nicht aufgeregt vor der Reise. Ich freue mich auf Norddeutschland, das ich irgendwie als meine Heimat betrachte, weil ich meine frühe Kindheit dort verbracht habe. Selbst wenn der Cellist mir äußerlich missfiele, würde es auf der Kumpelebene funktionieren, da bin ich mir sicher. Die Erfahrung mit dem Schulmeisterlein gibt mir diese Sicherheit.

Auf dem Bahnsteig in Celle erkenne ich ihn sofort. Da steht ein großer, dickbäuchiger Mann mit beunruhigtem Gesichtsausdruck und einem Blumenstrauß in der Hand. Er hat mich vorgewarnt, er sei von der alten Schule, er würde mich mit Blumen empfangen. Die wurden ihm allerdings zum Verhängnis. Denn er berichtet mir sofort, noch voller Entsetzen, dass eben eine betrunkene Frau auf ihn zugetorkelt sei und mit den Worten „Ach, sind die für mich?“, ihn geküsst und den Blumenstrauß geschnappt habe. Schließlich wagte er die seltsame Frau zu fragen: „Bist du Anne?“ „Nein“, habe die gelallt, „war bloß Spaß, hier hast du deine Blumen wieder.“ Der arme Mann steht noch unter Schock. Ich stehe auch unter Schock, nicht ganz so schlimm wie beim Franken, aber immerhin. Denn der Cellolehrer hat keine einnehmende Gestalt: mächtig groß, hat er einen leicht gekrümmten Rücken, entweder von der Cellohaltung oder vom langen Zusammenleben mit einer viel kleineren Partnerin. Vorn wölbt sich ein stattlicher Bauch, auf dem sich eine merkwürdige Knolle befindet. So sieht also ein Nabelbruch aus, von dem er mir schon berichtet hat und den er so bald wie möglich operieren lassen will. Gebannt starre ich auf den Bauch mit Knolle und suche herauszufinden, wo der Bauch aufhört und wo die Knolle anfängt.

Wir gehen in ein Café zum Frühstücken. Das Frühstücksangebot ist lausig, und auch unser Gespräch schleppt sich fade dahin. Fort ist die Lebendigkeit unserer Telefongespräche.„Nur weg hier, schnell nach Hause“, hämmert es in meinem Kopf. Nach dem Frühstück gehen wir schweigend nebeneinander durch die Stadt. Bloß in der Nähe des Bahnhofs bleiben, befehle ich mir, damit ich jederzeit abhauen kann. Plötzlich sagt er: „Ich glaube, du bist enttäuscht.“ Nun ist das Eis gebrochen. Ich bin mal wieder gerührt, aber was soll ich ihm sagen, ohne ihn zu verletzen? Du hast Recht, dein Aussehen gefällt mir nicht? Mutter Theresa, nennt mich meine Freundin Ida, denn ich mag überhaupt nicht böse sein. Ich greife zu einer freundlichen Notlüge. „Nein, das ist es nicht. Ich stelle nur fest, dass ich vielleicht noch gar nicht wieder bereit bin für eine neue Beziehung. Ich hänge noch so sehr an meinem alten Freund.“ Er nickt verständnisvoll, und ich denke: Dieser nette Mensch hat extra für mich seine Wohnung auf Hochglanz gebracht, die Putzfrau bestellt und die Fenster putzen lassen. Er ist so stolz auf seine Wohnung. Diesen netten Menschen will ich nicht vor den Kopf stoßen. Außerdem habe ich das Hotel bezahlt, das Geld ist sowieso futsch. Warum nicht Celle genießen und alles laufen lassen und das Cellokonzert morgen anhören? Nach dieser inneren Entscheidung fühle ich mich befreit. Ja, ich habe immer so ein merkwürdiges Mitgefühl mit den armen Männern. In allen Fällen setzt das Mitgefühl das Bewusstsein einer gewissen Gleichartigkeit zwischen uns selbst und dem fremden Wesen voraus und haftet ihm zugleich etwas Kindliches und Naives an, insofern es von einer minder scharfen Ausprägung und Abgrenzung des eigenen Ichs zeugt (Meyers Großes Konversationslexikon 1906).

Es ist ein herrlich sonniger Herbsttag. Wir machen einen Bootsausflug auf der Aller. Am späten Nachmittag fahren wir in seine Wohnung, um dort Kuchen zu essen. Die Wohnung, ein Altbau, ist sehr nett und gemütlich. Er hat mir so sehr von ihr vorgeschwärmt, dass ich mir etwas ganz Exquisites vorgestellt habe. Aber nein, hübsche, alte Möbel, im Stil ähnlich wie bei mir, zusammengewürfelt. Ich verstehe, dass er so glücklich ist, endlich nach der Scheidung ein eigenes Heim zu haben. Zwanzig Jahre lang hat er wegen Frau und Kindern in einer Neubausiedlung mit Grünfläche und Spielplatz gelebt, da kann man schon bei einem Altbau ins Schwärmen geraten. In einer Ecke steht sein Cello neben dem Klavier, auf dem ein großes Foto prangt – ein nacktes Frauenbein mit Cello. Dass so ein Cello zwischen den Knien ein erotisches Gefühl hervorruft, habe ich schon immer vermutet.

Am Abend gehen wir in einem griechischen Restaurant essen, und er verschlingt einen riesigen Fleischberg. Zwischen den einzelnen Bissen schwärmt er davon, wie toll eine neue Beziehung sein könne. Noch einmal so richtig durchstarten! Nachdem er mich vor dem Hotel abgesetzt hat, schicke ich gleich Ida und meiner Schwester eine WhatsApp, dass der Cellolehrer zwar nichts sei, aber die Stimmung gut. Und schlafe zufrieden ein.

Am nächsten Morgen beim Frühstück in seiner Wohnung legt er mir völlig ungefragt seine finanziellen Verhältnisse offen. Das gehört offenbar zum männlichen Werbeverhalten: die Höhe der Ersparnisse zu nennen oder den Wert der Eigentumswohnung. Dann setzt er sich an seinen Bürotisch und telefoniert endlos wegen des gleich stattfindenden Konzertes. Ich sitze auf dem Sofa, lese in Fontanes Stechlin und wundere mich wieder, wie selbstverständlich die Männer einen rumsitzen lassen! Als ob allein ihre Zeit zählt. Das Gehen der Zeit ist freilich ein Kommen, aber ein Kommen, das geht, indem es vergeht (Martin Heidegger). Ach ja, ganz kurz bin ich auf des Cellisten Schoß gelandet. Als ich zufällig neben ihm stehe, sagt er auf einmal: „Ach komm, setz dich auf meinen Schoß.“ Und ich tue es tatsächlich für ein paar Sekunden und befinde mich überraschend wohl. Er presst seinen Kopf an mich, das hat was von einem jungen, tapsigen Bären. Für einen kurzen Moment vergesse ich Bauch und Nabelbruch, stehe aber gleich wieder auf.

Die Dorfkirche, in der das Cellokonzert stattfindet, ist ein typisch norddeutscher Backsteinbau, umgeben von hohen Eichen. Das Konzert ist grad so aushaltbar. Sieben Celli auf einen Streich, das ist nicht so meine Sache. Während des Konzertes sitzt er neben mir, und ich habe wieder Mühe, ihm nicht auf den Bauch zu starren, um herauszufinden, wo der Bauch aufhört und wo der Nabelbruch anfängt. Später beobachte ich seine Schüler ganz genau, ob die ihm auch auf den Bauch starren. Tun die aber nicht. Nach dem Konzert fährt er mich zum Bahnhof. Auf dem Parkplatz vorm Bahnhof unterhalten wir uns noch im Auto. Er schwärmt wieder vom Durchstarten in einer neuen Beziehung, ich äußere leise meine Zweifel, ob das etwas für mich sei. „Ich hoffe, du denkst nicht“, ruft er plötzlich, „der Mensch ist ja ganz nett, aber sein Aussehen ist scheiße.“ Ich fahre wie ertappt zusammen, denn genau das denke ich ja. Wie er denn darauf käme, fragt Mutter Theresa erstaunt.

Wenige Tage später erzähle ich ihm am Telefon, dass ich wieder zu Hugo zurückgekehrt sei, was natürlich eine Lüge ist. Wer möchte diesen Erdenball/ noch fernerhin betreten/ wenn wir Bewohner überall/ die Wahrheit sagen täten (Wilhelm Busch). Der Cellist wünscht mir alles Gute, meint freundschaftlich, ich soll aufpassen, ob die Beziehung mit Hugo gut für mich sei. Dann kommt wieder der Satz vom Durchstarten, und er signalisiert mir, dass er warten würde. Oh Schreck! Beim nächsten Telefonat zwei Wochen später sage ich ihm, dass es mit Hugo wieder zu Ende sei, ich aber jemand Neues kennen gelernt hätte. „Ach“, ruft er aus, „dann warst du gar nicht in mich verliebt!“ Ich verschlucke mich fast vor Überraschung. Wie ist er bloß auf diese Idee gekommen? Ich hatte doch deutlich das Schild raus gehängt „Nur gut Freund.“ Hat er es als Zeichen von Verliebtheit interpretiert, dass ich ein paar Sekunden auf seinem Schoß verbracht habe?

Bereue ich den Besuch in Celle? Außer Spesen nichts gewesen? Nein, ich verbuche es unter schönem Ausflug. Ich habe diese norddeutsche Landschaft meiner frühen Kindheit wieder erlebt und viele schöne Erinnerungen sind hoch gekommen. Er wolle eine neue Annonce aufgeben, sagt der Cellist beim letzten Telefonat, und er werde meine Tipps beherzigen, und nichts von „stattlicher Figur“ schreiben und auch nicht „Gelegenheitsraucher.“ Wir sind in Kontakt geblieben, und es entwickelte sich eine Freundschaft, die allerdings sicher zu Ende ist, falls er diese Zeilen lesen sollte. Sein zweiter Anlauf zur Partnersuche über den Nordkurier ist wieder erfolglos. Zwar hatte er sich in eine vielversprechende Klavierlehrerin aus Bamberg verliebt und beim ersten Treffen schien er ihr zu gefallen, denn immerhin haben sie sich ausgiebig geküsst. Aber beim zweiten Treffen zu Silvester war sie abweisend und schickte ihn postwendend wieder auf den langen Heimweg. Dann kam ein Brief von ihr: Er würde ihren ästhetischen Ansprüchen nicht genügen! Ein Mann kann niemals so grausam sein wie ein Weib (Sören Kierkegaard, Tagebuch des Verführers).

19. November

Mitte Oktober, einen Monat nach der Begegnung mit dem Cellolehrer, habe ich mich auf der Kontaktbörse Petra & Paul angemeldet, die gratis ist, recht dödelig und quasi frei von Akademikern. Nichts gegen einen sympathischen Handwerker als Partner, hatte ich mir überlegt, es muss doch nicht immer ein Akademiker sein. Wie bei all diesen Börsen kann man durch die Profile switchen und jemanden anschreiben. Außerdem gibt es eine Extrafunktion, die das Kennenlernen erleichtern soll. Soundsoviel Singles möchten die kennenlernen, heißt da eine Rubrik, und es werden mir Männergesichter vorgeführt, eines entsetzlicher als das andere. Ich darf zwischen „Ja“, „Nein“ und „Vielleicht“ wählen. Fast immer klicke ich auf „Nein“, dementsprechend selten habe ich ein Match, das entsteht, wenn der entsprechende Mann angesichts meines Fotos auch auf den Button „Ja“ oder „Vielleicht“ drückt. Kommt ein Match zustande, sollte man meinen, dass nun ein Dialog zwischen mir und dem Matchpartner entsteht. Weit gefehlt. Meist rührt sich nichts. Reicht es dem männlichen Ego ein Match zu haben, und es besteht gar keine Neugier, die betreffende Frau näher kennenzulernen? Nach kurzem Nachdenken versteh ich, warum die Matchpartner sich nicht melden. Die Kommunikation kann gar nicht zustande kommen, denn allein in dem Moment, wenn das Match angezeigt wird, kann ich dem Treffer schreiben. Wenige Sekunden später wird er bereits verpixelt und sein Profil ist verschwommen und nicht lesbar. Wer hat aber immer spontan die richtigen Worte bereit? Wäre ich jedoch zahlendes Mitglied bei Petra & Paul, könnte ich meine vierzig Matchpartner, die sich innerhalb einer Woche einfinden, bequem wie im Katalog durchblättern und anschreiben. Aber zwei nicht zahlende und daher rasch verpixelte Matchpartner können gar keinen Kontakt miteinander aufnehmen. Dieses System muss man erst verstehen, dann löst sich die Verbitterung über die ach so bösen Männer, die trotz Match einen nicht anschreiben. Sie können nicht, wenn sie genauso wie du nicht zahlen wollen, und weil auch du nach dem Match sofort verpixelt wirst.

Jedoch schon nach einer Woche ist mir das Glück hold. Ich habe einen Match, dem ich sofort schreibe, bevor er verpixelt wird. Ich mache meinem Unmut Luft. „Die, denen ich schreibe, antworten mir nicht, und denen, die mir schreiben, antworte ich nicht. Ob uns das weiter bringt?“ Er antwortet „Wer weiß?“, und so kommen wir ins Gespräch. Wir verabreden für den nächsten Tag ein Telefonat. Was er beruflich macht, weiß ich nicht. „Akademiker und einiges mehr“, heißt es in seinem Profil recht arrogant. Auf dem offenbar absichtlich unscharfen Foto kann man den Mann gar nicht erkennen. Er steht an einem Maschendrahtzaun und scheint recht groß zu sein. Mir ist längst klar, dass die Männer mit unscharfen Fotos oder gar keinen in eher hervorgehobenen Positionen arbeiten und ihre Anonymität wahren wollen.

In der Nacht vor dem Telefonat habe ich eine meiner Vorahnungen. Entweder arbeitet er im Strafvollzug, schießt es mir durch den Kopf, oder er ist beim Militär. Die Assoziation läuft über den Maschendrahtzaun. Welcher Mann lässt sich neben einem Maschendrahtzaun fotografieren? Einer, dem solche Zäune vertraut sind.

Helmstedt ist als Wohnort des Maschendrahters angegeben. Höflich frage ich zu Beginn unseres Telefonats, wie das Wetter in Helmstedt sei. Er sei gerade unterwegs in einem kleinen Ort, antwortet er, den ich bestimmt nicht kenne, Heimershof im Sauerland. „Aber das kenn ich gut“, rufe ich entgeistert, „da wohnt meine Schwester. Ich besuche sie regelmäßig.“ Von wo genau er anrufe, will ich jetzt wissen. „Vom Waldfriedhof“, er habe das Grab seines Vaters besucht. Seine alte Mutter lebe noch in Heimershof. „Das ist doch ein tolles Omen“, sage ich begeistert. Gleichzeitig flüstert meine innere Stimme: „Anruf vom Friedhof“, das heißt entweder „bis dass der Tod euch scheide“ oder Totgeburt.

Meine nächtliche Ahnung erweist sich als richtig. Der Mann outet sich als Oberst. Aber das schreckt mich nicht. Mein Vater war beim Militär, und die Siedlung, in der wir wohnten, als ich ein Kind war, wimmelte abends von Uniformen, wenn die Väter nach Hause kamen. Die Stimme des Oberst gefällt mir und vor allem sein Lachen. Das Lachen ist ein Regenbogen, der dunklem Grund des Sturms entsteigt (Anastasius Grün).

Die nächsten Tage wechseln wir Nachrichten über WhatsApp. Ich begleite ihn virtuell durch den Wald von Heimershof, weiß genau, wo er nach dem Ententeich links gehen muss, um zu seiner Mutter in der Watzlawickstraße zu kommen. Er hoffe, dass wir bald diesen Spaziergang realiter machen können, schreibt er. Meine Schwester freut sich, dass ich einen kennengelernt habe, der oft nach Heimershof fährt. „Da seh ich meinen Weizen blühen.“

Nach wenigen Tagen verabreden wir ein Treffen in Berlin. Er reist mit der Bahn aus Helmstadt an. Ich erkenne ihn sofort, als er aus dem Zug steigt. Mein Herz fliegt ihm entgegen. Mein Traummann steht vor mir: groß, gepflegt, gut angezogen und ein sehr nettes Lächeln. Natürlich habe ich mich hübsch gemacht, habe einen Rock angezogen, damit man meine wohlgeformten Beine sieht. Er ist aber noch feiner zurecht gemacht. Er trägt einen Schlips, und aus der Brusttasche seines Sakkos ragt ein gefaltetes Tüchlein. Ich kann mich nicht erinnern, je einem Mann mit Brusttüchlein begegnet zu sein. Und wann habe ich das letzte Mal mit einem Schlipsträger verkehrt? Vor vielen, vielen Jahren, in den Zeiten meiner Ehe, wenn mein Mann zu einer wichtigen Veranstaltung ging. Und da mich mal wieder der Teufel reitet, mache ich mich über den Schlips lustig. Ob das denn nötig sei? Er lacht: „Schließlich handelt es sich ja um ein Bewerbungsgespräch.“ Eine schlagfertige Antwort. Ich gestehe ihm noch in der U-Bahn, als wir in meinen Kiez fahren, dass ich nicht 60 Jahre alt sei, wie bei Petra & Paul angegeben, sondern 64. Ein bisschen irritiert scheint er über diese Lüge schon, denn immerhin sind wir jetzt nicht mehr gleichalt, sondern er ist vier Jahre jünger als ich.

Wir gehen in ein Restaurant. Ich habe auf einmal große Mühe, meine Aufregung in Schach zu halten. Ich setze mich falsch, meine bessere Gesichtshälfte von ihm abgewandt. Im Rock zeichnet sich mein Bauch ab, den ich mich einzuziehen bemühe. Ich gehe aufs WC, um den Lippenstift nachzuziehen und blicke in den Spiegel. Da starrt mir eine völlig unattraktive, unerotische Frau entgegen! Bei den Dates mit dem Franken und dem Cellisten hat der Spiegel mir eine blühende, attraktive Frau gezeigt. Und nun dies! So ist das also, überlege ich gefasst, wenn man einen Mann attraktiv findet. Man selbst hat Angst, nicht selber attraktiv zu sein, und diese Angst spiegelt sich. Und hübsch jung bin ich ja schon gar nicht mehr. Gewiss, das Alter ist ein kaltes Fieber/ Im Frost von grillenhafter Not/ Hat einer dreißig Jahr vorüber/ So ist er schon so gut wie tot (Johann Wolfgang Goethe).

Nach dem Essen machen wir einen Spaziergang durch die Dunkelheit, er hakt mich sofort unter. Ich lasse ihn von seiner frisch geschiedenen Ehe erzählen. Seine Frau ist mit dem Zahnarzt durchgebrannt. Dann schwärmt er mir von seinen tollen Stilmöbeln vor, die seit der Scheidung unbehaust im Depot verstauben. Die Schlafzimmerausrüstung habe er sogar doppelt, weil er aus beruflichen Gründen einmal getrennt von der Familie wohnte. Was soll er nur mit zwei ganz neuen Boxspringbetten machen? Den Kindern vererben? Ach, wenn er wüsste, wie leidenschaftslos mein Verhältnis zu Möbeln ist. Die Möbelfrage beschäftigt den Oberst sehr. Vielleicht verständlich, wenn jemand hauptsächlich in der Kaserne lebt? Dann berichtet er mir von dem Geld, das der Verkauf des Familienhauses bei der Scheidung gebracht hat. Was er damit machen solle?, fragt er mich, die er nun gerade knapp zwei Stunden kennt. Später mit der Pension einfach aufbrauchen? Oder in eine Immobilie investieren? Ich rate fürsorglich zur Immobilie. Und wo er wohnen solle nach der Pension? An dem Ort der Partnerin? Es käme wohl darauf an, wo der größere Bekanntenkreis sei. Durch die vielen Umzüge habe er keinen festen Freundeskreis mehr. Ich könne lauter nette Frauen bieten, sage ich. „Ach, Hahn im Korb, das ist doch nett“, lacht er. Ein klein wenig irritiert bin ich schon, die großen Fragen des Lebens innerhalb der ersten zwei Stunden einer Bekanntschaft abgehandelt zu wissen.

Während wir zum nächsten Restaurant ziehen, um noch einen abendlichen Absacker zu trinken, bevor ich ihn wieder zum Zug bringe, sagt der Oberst plötzlich: „Beruflich ist bei mir alles unklar im Moment. Vielleicht werde ich in die Türkei, nach Incirlik, versetzt.“ „Das ist doch toll“, rufe ich begeistert, „diese Gelegenheit sollst du dir nicht entgehen lassen!“ Mit leicht schiefem Grinsen blickt er mich an: „Nicht gerade die Reaktion, die man von einer künftigen Partnerin erwartet.“ Ich widerspreche. Ich hätte Verständnis für Fernweh, es sei seine letzte Chance noch einmal in die bunte, weite Welt zu kommen, bevor er pensioniert werde. Man könne doch eine Fernbeziehung über Urlaube und über WhatsApp recht gut aufrecht erhalten.

Ich begleite ihn wieder zum Bahnhof. Der Zug hat Verspätung. Plötzlich fallen wir uns in die Arme und küssen uns auf dem Bahnsteig und können gar nicht genug kriegen. „Nehmt euch doch ein Zimmer!“, grölt eine besoffene Frau quer über die Gleise vom anderen Bahnsteig herüber. „Wann sehen wir uns wieder?“, frage ich. „Morgen“, schlägt er vor. Denn er weiß, dass ich übermorgen für eine Woche zu meinem jüngsten Sohn nach Barcelona reise. Ja, am nächsten Tag ist er dann abends zum Essen bei mir. Was weiter erfolgte, brauchen wir nicht zu melden, weil es jeder, der an diese Stelle kommt, von selbst liest (Heinrich von Kleist).

Gestern Abend hat der Oberst auf WhatsApp mal wieder geschrieben. Wir schicken uns jetzt alle drei bis vier Tage freundliche, belanglose Nachrichten. Er weiß immer noch nicht, ob er nach Incirlik geht. Mir ist es egal, denn wir haben uns längst getrennt. Die Liaison hat genau drei Wochen gedauert. Diese plötzliche sexuelle Chemie verflüchtigt sich offenbar genauso schnell wie sie kommt, wenn sie nicht durch andere Gemeinsamkeiten genährt wird. Er war nicht unbegabt/ Die Geisteskräfte genügten für die laufenden Geschäfte (Wilhelm Busch).

Bereits nach dem zweiten Treffen stritten wir uns heftig am Telefon. In Barcelona bei meinem Sohn hatte ich Sehnsucht nach ihm und rief ihn in seiner kargen „Stube“ in der Helmstädter Kaserne an. Da drückte er sein Befremden über meine Wohnung aus. „Du hast ja selbst gesagt, sie ist studentisch“, beschreibt er seine Missbilligung. Ja, das hatte ich tatsächlich gesagt, denn ich hatte seine abschätzenden Blicke gesehen. Eine ältere Dame muss offenbar teure Möbel um sich versammelt haben, was bei mir nicht der Fall ist. Am Telefon zwischen Barcelona und Helmstedt entwickelt er sein Szenario. Meine Dreizimmer-Wohnung sei zu klein für ein Paar. Man müsse mindestens eine Vier-Zimmerwohnung haben. Vermutlich würde ich sogar ein paar meiner Möbel behalten wollen. Was er aber tun solle mit seinen vielen Möbeln? Ich hätte jetzt das Möbel-Depot bei mir um die Ecke vorschlagen können, aber ich kam erst einmal aus dem Staunen nicht heraus. Die Zukunft einer Beziehung aus der Möbelperspektive? Sicher alles Gelsenkirchener Barock, kommentiert später meine Freundin Ida. Ja, die Möbel erschlagen mich förmlich. Ich werfe ein, dass ich fast nur solche Haushalte wie meine kenne, so sei dass halt bei Leuten, die nicht so großen Wert auf Äußerlichkeiten legen. „Wenn du vielleicht einmal bei meiner Mutter zu Besuch bist“, erwidert der Oberst, „dann kannst du sehen, wie ich aufgewachsen bin.“ Was für ein Satz! Aus den Möbeln seiner Mutter sollte ich auf seine Erziehung schließen? Es hörte sich an wie: „Wenn du eines Tages vielleicht bei uns auf dem Schloss zu Besuch bist, dann wirst du sehen, wieviel Domestiken ich gewöhnt bin.“ Empört beende ich das Telefongespräch.

Wütend gehe ich in die Küche zu meinem Sohn. „Soll er mir doch den Buckel runterrutschen!“, rufe ich. Mein Sohn leitet meine Wut sofort in kreative Bahnen und meldet mich bei der Partnerbörse Fireplace an. Man stellt die Entfernung ein, in der man einen Partner sucht – mein Sohn wählt einen Umkreis von 25 Kilometern und die Altersgruppe ab 55. Er lädt ein Foto von mir hoch. Allein hätte ich das alles nie geschafft. Ohne mich zu fragen, gibt er mein richtiges Alter an. Da steht es nun: „Anne, Universität Berlin, 64 Jahre.“ Nun kann ich nicht mehr schummeln und mich jünger machen. 64 hört sich doch so alt und grauhaarig an, nach Schuhen mit Kreppsohle! Alt wird man wohl, wer aber klug? (Johann Wolfgang Goethe).

So klicke mich also durch die Männerwelt von Barcelona. Eine Galerie von Männerfotos wird angezeigt, normalerweise mit Angabe der Entfernung zu meinem Standort. Unter dem Foto sind zwei Buttons. Drückt man den linken, heißt das, weg mit ihm, drückt man den rechten, heißt es, den mag ich. Die Männer wiederum erhalten eine Fotogalerie der Frauen in ihrer Nähe und wischen genauso nach links oder nach rechts. Wirst du von einem Mann nach rechts gewischt, den auch du nach rechts gewischt hast, habt ihr ein Match. Fireplace macht Pling, und dein Bild und das eines fremden Mannes erscheinen nebeneinander mit der traulichen Information: „Xy und du steht aufeinander.“ Nur durch solch ein Match eröffnet sich die Möglichkeit, mit einer Person zu kommunizieren, also ein Fortschritt gegenüber Petra & Paul, wo die Vermatschten ganz bald verpixelt werden. Innerhalb einer Stunde habe ich vier Matches, einfach aus dem Grunde, weil die Männergalerie, durch die ich mich klicke, am Anfang eben sehr groß ist. Aber mein Foto ist auch wirklich gut. Eine Freundin, Hobbyfotografin, hat es gemacht. Es war das letzte einer Fotoserie, als ich durch ein Glas Sekt endlich lockerer geworden war. Ich habe ein sportliches, geringeltes T-Shirt an, die Arme auf die Stuhllehne gestützt und schaue dem Betrachter lächelnd in die Augen. Ich sehe aus, sagt meine Freundin Ida, als ob ich jedes Wochenende einen großen Kuchen für die Familie backe. Mit einem toll aussehenden Segler habe ich ein Match. Der stellt mir die schöne Frage, ob ich „slightly reckless“ sei. Ach, wie schön, für leicht unbekümmert gehalten zu werden. Leider sei ich ein Bücherwurm, schreibe ich prompt zurück.

Allerdings hab ich mich dann noch zweimal mit dem Oberst getroffen. Nach unserem Telefonzwist hatten wir zunächst beide wieder eingelenkt. Auf das dritte Treffen aber folgt wieder der Eklat am Telefon. Er wolle am Wochenende nach Heimershof zu seiner alten Mutter fahren. „Oh, toll“, rufe ich, „ich komm mit, ich muss bei meiner Schwester noch Geschirr und Bücher abholen!“ Er wehrt ab: „Bitte lass mich jetzt erst mal allein, ich muss nachdenken.“ Ich bin schlagartig ernüchtert: solche Worte nur wenige Stunden nach einem gemeinsamen, eigentlich harmonischen Abend? An dem er nicht mit seinen Möbeln gewinkt hat, sondern mit seinem anderen Lieblingsthema: dem Geld. Was soll er mit dem Geld aus seinem Hausverkauf anfangen? Im Osten ein altes Haus kaufen, renovieren und die Wohnungen altengerecht ausbauen? Eine Wohnung wäre dann für ihn, und er würde als Hausverwalter und Ansprechpartner für die alten Leute dienen. Ich sehe mich meine Zukunft am Arsch der Welt verbringen, verfrüht in einem Seniorenheim. Da reitet mich mal wieder der Teufel. „Ach, die Sorgen habe ich nicht!“, sage ich lachend, „ich bin recht arm, und wenn ich Geld brauche, dann mach ich Schulden bei meiner Schwester oder bei meinem geschiedenen Mann. Ist das nicht toll?“ Das scheint ihm den Rest zu geben. Er gibt vor, in meinem Bett nicht gut schlafen zu können und fährt noch am späten Abend zurück nach Helmstedt.

Am Tag darauf das Telefonat über sein Nachdenkenwollen. „Wir sind sehr unterschiedlich“, meint er. „Bitte, was trennt uns?“, rufe ich ins Telefon. Es falle ihm jetzt nichts ein. Ich lasse nicht locker, fordere ein Beispiel. „Du hast in Barcelona und Buenos Aires gelebt“, sagt er schließlich. Wo denn das Problem sei, frage ich überrascht. Wenn er in Schanghai gelebt hätte, würde ich doch nur denken, wie interessant, erzähl mir von Schanghai. Zum Problem würde es ja erst, wenn er wieder in Schanghai leben wolle. Das ist das letzte Gespräch mit dem Oberst. Ich will ja keine Vorurteile gegen Militärs haben, aber nun hab ich sie. Dass ich in einem Gewerkschaftschor singe, hat ihm am allermeisten missfallen: „Über deinen sozialistischen Chor müssen wir dringend reden.“

Details

Seiten
234
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2024
ISBN (eBook)
9783958942813
ISBN (Buch)
9783958942769
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Januar)
Schlagworte
Seniorin Dating-Abenteuer Internetdating Tinder Partnerbörsen Lovescamming Abenteuerlust Lebensgeschichten Virtuelle Kontaktwelt Mutige Erzählung Sex im Alter Selbstbestimmung Rollenkonventionen Freiheit

Autor

Anne Mey, 1956 geboren, studierte Germanistik, Romanistik und Soziologie. Sie arbeitete einige Jahre in Spanien im Schuldienst, hat zwei erwachsene Söhne und lebt heute in Berlin.
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Titel: Bekenntnisse einer Seniorin