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Die Geistervilla

Roman

©2024 210 Seiten

Zusammenfassung

Die legendäre Villenruine des "Geistermalers" Gabriel von Max am Starnberger See als Hintergrund eines schockierenden Real-Krimis: Die Geister von Séancen, schwarzen Beschwörungen und bizarren Opferriten wirken bis heute nach. Der untote "Anatom" auf dem bekanntesten Gemälde des Maler-Okkultisten geht wieder um. Verschwörung zum Greifen nahe: Skrupellos-mächtige "Geheime Obere" werden lebendige Gegenwart. Ein aufregendes Spindeln zwischen Fiktion und Wirklichkeit des bayerischen "Grusel-Papstes" Fritz Fenzl. Ein Buch, das den Schlaf rauben wird. Ein Schauerort zum Hingehen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


VORSPIEL:

EIN FREMDER AM SEE

Es war einer jener Tage, da die Menschen lieber zu Hause bleiben, Tee trinken, die Zimmertemperatur prüfen und irgendwann sagen: „Es wird frischer. Der Sommer ist wohl vorüber.“ Die Wellen des Starnberger Sees schwappten seit Tagen mit größerem Willen gegen die Holzbohlen der Stege und Uferbefestigungen. Unfreundlicher Ostwind trieb Blätter uralter Buchen quer über den Weg. Eine wunderbare Zeit hub an, da die Natur sich selber zu gehören und zu behaupten beginnt. Nur ab und zu störte ein Radfahrer mit grellem Helm und verzerrten Gesichtszügen den Frieden des Seins.

Der Endsechziger stand vor mir am Zaun eines Ufergrundstücks und schien mit der Natur, dem Wind, der Zeit eins. Er blickte versonnen über das Wasser, und man sah, dass er in der Lage war, in solchen Augenblicken an nichts zu denken, sondern nur zu sein. Unvermittelt sagte er:

„Okkultisten werden nur von Okkultisten erkannt.“

Er sprach ruhig vor sich hin, mit ungewöhnlich tiefer Stimme. Er formte die Sätze in Richtung See, aber ich wusste, dass er mich damit meinte. Trotz dieser überraschenden Worte blickte er weiter über die gräulichen Wasser mit der hellen Dünung, sah mit ebenso grauen Augen genau nach Westen.

„Wie meinen Sie das?“

„Ich kann Ihre Gedanken, Ihr Fühlen und Ihre Absicht erkennen“, meinte er tonlos.

„Hm?“

„Sie interessieren sich für den Geister-Maler Gabriel von Max, richtig?“

„Oh ja“, gab ich zu, „deshalb bin ich hier, gleich vorne muss seine verfallene Villa sein.“

„Sie stehen unmittelbar davor.“

Ich drehte mich um.

Die gesuchte Ruine der ehemaligen Max-Villa. Geborstene Holzstützen eines Balkons, abgeblätterter Lack auf modrigem Holz, blinde und geborstene Scheiben, feucht bemooste Dachziegel, Verfall überall. Mir war nicht bewusst, dass ich mein Ziel schon erreicht hatte.

Der Fremde hatte sich mir halb zugewandt:

„Ich dachte mir, dass Sie heute hier auftauchen“, meinte er dann.

Zuerst wollte ich ihn fragen, woher er das wusste. Doch ich schwieg.

„Die Loge im Geiste“, stellte er entschieden fest. Es funktioniert immer noch, genauso wie damals. Ein Geheimbund, den es längst nicht mehr gibt, der aber funktioniert und das Leben aller beeinflusst und sogar manipuliert. Eigentlich mehr denn je.“

Und er wiederholte lächelnd:

„Die Loge funktioniert mehr denn je.“

Unvermittelt wandte er sein Gesicht zu mir. Ein feiner Herr, sicher Akademiker alter Schule: Spitzbart, korrekter Anzug klassischen Zuschnitts, kluge und beobachtende Augen. Woher kannte ich diese Züge?

Wieder las er meine Gedanken:

„Kennen Sie das Bild Der Anatom des Geistermalers Gabriel von Max?

„Oh ja“, sagte ich.

„Wollen Sie eine Geschichte hören? Sie sind doch auf der Suche?“

„Gewiss“, entfuhr es mir.

Er lud mich in eine Gründerzeitvilla mit Erkertürmchen nicht weit von der Ruine der Max-Villa. Rundbogenfenster hin zum See; teilweise farbig verglast mit sprechender Logensymbolik; viel teurer Stoff für kardinalrote Decken, Lampen, Bezüge, ein offener Kamin mit gemauertem Sims, in dem aber kein Feuer brannte. Die herrlichen Bilder an den Wänden! Jeder Kunsthändler und Auktionator hätte viel dafür gegeben, diese weltberühmten Symbolisten auf den Markt zu bringen. Ein der Kunstwelt unbekanntes Gemälde des Franz von Stuck hing mittig an der Wand:

„Die Geburt der Gedanken.“

Wieder las er meine Gedanken:

„Unverkäuflich, Familienbesitz. Denken Sie nicht einmal daran.“

Natürlich nicht zu haben, auch nicht für Geld. Ich schluckte.

Was ich dann hörte, war ungeheuerlich. Mehrere Tage und Abende berichtete die geistähnliche Gestalt, die aus einer dunklen Vergangenheit der Zeit und der Epoche vor 1900 auferstanden schien. Manchmal übermannte sie ein sanfter Schlummer, ich ließ sie dann ruhen und betrachtete die herrlichen Gemälde an der Wand. Ich sagte und fragte nichts, das Gehörte ließ mich wortlos werden.

Für Monate fehlten mir nach dieser Begegnung zwischen Traum und Wirklichkeit tatsächlich die Worte. Kann so etwas wahr sein?

Später habe ich versucht, das alles getreulich wiederzugeben.

1.

Erlaubt ist es sicher nicht. Aber die Neugierde siegte. Der junge Mann wollte, nach dem Spiegel-Artikel über den jämmerlichen Zustand der Max-Villa, sehen, was „innen“ los ist.

„Das ist Einbruch!“ Seine Freundin Lydia sprach die Worte mit großem Ernst.

„Ach was.“

„Doch! Auch dann ist es verboten, wenn das Anwesen leer steht und keiner da ist “, merkte Lydia an.

Sie hatte den pinkfarbenen Regenschirm aufgespannt unter dem sie nun in dem einsetzenden Nieselregen, mitten auf der Seeleiten stehend, recht verloren wirkte. Ein Bild für Maler.

Malerisch, im Sinne gewesener Schauerromantik, war das Anwesen, vor dem die beiden jungen Leute hier staunend verharrten. Hinter einer hohen und leidlich geschnittenen Hecke drohte die heruntergekommene Ruine eines Anwesens, dem man trotz des elenden Zustandes die ehemalige Noblesse ansah. Doch all das war lange vorbei. Taube Fensterhöhlen mit blindem oder zerborstenem Glas verwandelten das modrige Holz der Mauervertäfelung, die gebrochenen und gesplitterten Balken eines Balkons, das Moos an den Außenwänden zum Schreckensbild. All dies, zusammen mit den hohlen gebrochenen Fensteraugen, ließ den verlassenen Ruinenbau wie ein mahnendes Totengesicht erscheinen.

„Ich muss das alles von innen sehen.“

Gabriel sah man die Entschlossenheit an, hier bewusst und mit der Kraft des Willens Grenzen zu überschreiten. Er sah sich nochmal um und sog die Seeluft in die Lungen.

„Egal“, sagte er zu sich selber, „es ist eh keiner da.“

„Mach, was du willst. Aber lass mich raus.“

„Nicht heute, aber möglichst bald“, insistierte Gabriel in sein eigenes Wollen. Denn es naht der Stichtag.“

„Welcher?“

Der Regen wurde jetzt stärker.

Eine Zeit lang standen beide noch unter dem Regenschirm. Und die Zeit stand einen Moment still. Das war und ist ein Phänomen an diesem verwunschen Ort. Die Zeit verhält sich anders als anderswo. Die beiden befanden sich in einer Bannmeile und wussten es nicht. Die Frau allerdings spürte eine drohende und unsichtbare Gefahr.

Dann beschloss der junge Mann:

„Es sind keine Spaziergänger da, nicht mal Einheimische. Das ist die Gelegenheit! Was du heute kannst besorgen …!“

„Bist du wahnsinnig?“

Doch er war schon unterwegs.

2

„Energie bleibt an dem Ort, an dem sie erschaffen wurde! Egal, wieviel Zeit darüber vergeht. Hier haben wir es mit Schwarz-Magieren zu tun. Mehr noch: wohl mit den besten, die das neunzehnte Jahrhundert hervorgebracht hat!“

Die kleine Menschenansammlung sah auf den ersten Blick aus wie eine der zahllosen Wandergruppen, die aus Pflanzenkennern und emsigen Kräuterkundlern besteht. Vielleicht auch handelte es sich um interessierte Laien, die an Erdgeschichte – in dem Falle das Werden der Würmeiszeit – lebendiges Interesse zeigen? Eine regionale Volkshochschule? Solide Outdoor-Kleidung wies darauf hin, dass man nicht zum ersten Mal unterwegs war.

Dass es sich um Wissende im höchsten Grade handelte, zumeist um Eingeweihte und Kenner komplexer unaussprechlicher Traditionen und Riten, um diskrete Mitglieder einer schwarzen Loge, die seit über einhundert Jahren Maler, Schriftsteller, Okkultisten und verbohrte Darwinisten an diesen Abschnitt des Starnberger-See-Ostufers herlockte, und immer noch herlockt, das konnte kein außenstehender Beobachter ahnen.

Die Gruppe stand schweigend fasziniert um eine mit den Jahren verfallene Holzhütte. Das alles geschah auf einer Wiese südlich des keltischen Krafthügels von Holzhausen. Hier wurde vor Jahren vom Orkan Wiebke die legendäre tausendjährige Linde gefällt, auf malerischem Hügel thront die auf ein Wunder zurückgehende Kirche St Johannes. Weithin sichtbar gebietet der wuchtig-herrische Turm übers schönste Oberbayern. Und zu Füßen der stämmigen Gottesburg schmiegt sich der Friedhof mit seltsam saugender, Lebenskraft wegnehmender Energie rund um das weiße Gemäuer. Mit Namen auf schwarzen Metallkreuzen, die selbst einen Kenner der dunklen Szene erschauern lassen.

„Sie müssen sich vorstellen“, begann der Wortführer, „dass genau hier, eben genau an der Stelle, auf der diese hölzerne windschiefe Bruchbude verfällt, damals ein Holzschuppen stand, der wesentlich gepflegter war.“

Der Mann, der dies sagte, putzte sich umständlich die Brille.

„War das wirklich hier?“

„Ja, genau da, wo Sie stehen. Sie alle sind fühlig genug, um die damals evozierten Energien auch noch heute zu erkennen.“

Alle in der Runde nickten. Tatsachlich war in dem Kreis von Eingeweihten keiner, der nicht gewusst hätte, was damals geschah. Nicht nur Séancen, auch Opfer von Lebenden. Was heute noch geschieht, nur eben in anderer, nämlich in verfeinerter und perfektionierter Form.

Der Vortragende, Professor Dr. Ziegenbarth, im bürgerlichen Beruf Chefarzt und Leiter eines renommierten Krankenhauses in der Landeshauptstadt, fuhr fort:

„Es lebt sogar noch ein hochbetagter Maler und Restaurator, der das Innere der nur äußerlich unscheinbaren Hütte, diese war damals ein Logentempel, mit den entsprechenden Fratzen und Dämonen ausgemalt hat. Die dargestellten Ungeister entsprechen genau der Rangfolge einer ewig unverrückbaren Hierarchie.“

Er machte dann eine sprechende Pause:

„Allerdings keiner himmlischen Rangordnung!“ Das Wort Hölle dachte er nur. Ewige Verdammnis. Dann schwieg er beredt. Aber hier in der verschwiegenen Runde konnte jeder Gedanken lesen.

So harmlos die Gruppe für Außenstehende wirken mochte, es handelte sich um keine harmlosen Männer, ganz im Gegenteil. Hier stand der harte Kern der denkbar gefährlichsten Geheimloge, die das Land und die Welt mit schwarzem Wollen überzogen hat.

„FOGC-Loge, 99er-Loge, Drittes Reich, Ahnenerbe, Germanenorden, Schwarze Sonne“, so ging ringsum ein Murmeln.

„Ja, vieles ist ja inzwischen zumindest im kleinen Kreise bekannt und durch Indiskretion durchgedrungen“, schloss Dr. Ziegenbarth.

Und leiser, obwohl sonst niemand auf der Wiese stand, fuhr er fort: „Wenige aber wissen dies: Die Sache ist gegenwärtig aktueller denn je. Geister, einmal gerufen, die wird keiner mehr los. Wie bei Goethes Zauberlehrling!“

„Genau. Diese Geister bleiben für immer. Man spricht zurecht vom 1000-jährigen Reich.“

Kein Laut in der Runde.

Die Blätter der hohen Eichen bisperten leise und verschwörerisch, eine Krähe krächzte und erinnerte die anwesenden Wissenden, dass die Zeit erfüllt ist. Ziegenbarth flüsterte fast: „Nichts hat sich geändert, nur die Form ist anders, vielleicht eleganter, wesentlich feiner.“

„Die Form? Vielleicht sind die Formen durchsichtig? Und vielleicht sind diese Formen zu sehen für jene, die sehen können?“

„Durchaus. Séancen sind heute nicht mehr Höhepunkte offizieller Gesellschaften der bürgerlich gewachsenen Oberschicht. Wie überhaupt das Wissen um Kraftplätze und Geomantie, auch um das Völkische, auf den ersten Blick verloren gegangen sind.“

„Ja, alles ist heute diskreter, indirekter“, murmelte einer in der Gruppe. Der wohlsituierte Herr war als Kunstsammler bekannt.

Da er auch als Zyniker galt, bemerkte er:

„Alles ist demokratischer. Dem Volk und der Masse zugänglicher. Aber nur auf den ersten Blick. Oder sagen wir: neoliberaler.“

Und er dachte dabei: Geändert hat sich gar nichts. Aber das Schweigen der Wissenden! Ein Gruppenschweigen der Machtelite hat zugenommen, zugunsten des Schwafelns über Belangloses und über belanglose Nebenschauplätze. Und Nebenschauplätze gab es genug: Umweltbewusstsein, Pseudopluralität, aufgesetzte Humanität, noch schnelleres Internet, Dauererreichbarkeit. In letzter Zeit sogar die Art der Heizung.“

Die Masse der Menschen blieb genügend beschäftigt.

Ziegenbarth las die Gedanken des jüngeren Mannes und grinste.

Er fügte dann hinzu:

„Wir begeben uns nun zur verfallenen Villa eines der federführenden Okkultisten dieser Zeit, die nun wieder aktiv wird. Der berühmte und berüchtigte Affenmaler Gabriel von Max.

3

Es war trotz des Alters der Ruine nichts anderes als Einbruch. Gabriel fand überraschend schnell einen Weg in das Innere der verfallenen Max-Villa. Rechts um das Anwesen herum, dann das Grundstück ein wenig nach oben, zur Rechten sah er die stets vorbildlich gepflegte Schrenck-Notzing-Villa, jetzt wieder links durch die hohe Hecke, der brüchige Maschendrahtzaun bedeutete kein echtes Hindernis. Durch ein kaputtes Fenster huschte er hinein ins dunkelschattige Zwischenreich. Alarmanlagen und Bewegungsmelder waren hier nicht zu erwarten!

Innen das trostlose Nichts. Schimmel, Feuchtigkeit, Fäulnis, abgestandene Luft, Moder einer jahrelang unbewegten Luft, und dennoch unangenehme Zugluft. Über ihm die Spuren einer ehemals gewaltsam entfernten Kassettendecke.

Gabriel war von Natur aus forsch, frech und neugierig. Extrem neugierig sogar. Die Sucht, Neues zu erfahren, hatte ihm bisher eher geschadet als genutzt. Nervenkitzel bedeutete ihm Stimulans, Leben.

Hier aber hingen tote und ungesagte Worte in der Luft, so wie geistiger Moder, Unausgesprochenes und Unaussprechliches zwischen Materie und Geist. Und dann dieses seltsame Locken, ein mentales Saugen gar. Es war so, als ob der Verstand hier anderen Mächten gehorchte. Gehorchen musste!

Er hab einige Bodensparren nach oben und erstarrte.

Er hatte viel erwartet, aber nicht das.

Da lag, tot und nicht tot zugleich, ein schwarz gekleideter Bartträger. Der wirkte wie ein seriöser Wissenschaftler des vergangenen Jahrhunderts. Das war kein Geringerer als der Anatom aus dem Gemälde des Gabriel von Max. Das alles wusste der junge Eindringling nicht. Er sah nur den Körper, das unbewegte intelligente Gesicht. Und dann der Nachtfalter! Unerwarteter Lichteinfall hatte ihn erweckt. Jetzt bewegte das Insekt sich auf das weiße Gesicht des Untoten zu.

Woher kam er nur, der übergroße Nachtfalter, der, plötzlich aus langem Schlaf erwacht, mit wütendem Brummen den Kopf des frechen Störenfriedes umkreiste?

4

Nicht allzu weit von dem Geschehen entfernt blieben zwei Spaziergänger, die von Ammerland aus die Seeleiten gen Süden unterwegs waren, verwundert stehen. Zur Rechten der wohltuende, heilende Blick über den ruhig daliegenden See und die für nur diesen Fleck der Erde typischen Wolkenformen. Links aber, nicht minder staunenswert, weite und sichtbar gepflegte Grundstücke, hinter denen die östlichen Moränenhügel sich dunkel laubbewaldet nach oben zogen. Die Anwesen zwischen See und Hügel zeigten sich gärtnergepflegt, ganz in dem Stil des Wir-können-uns-leisten-was-wir-Wollen. Man sah diesen Grundstücken und Prachtvillen an, dass sie nicht mit Geld allein käuflich und erreichbar waren. Man musste einem inneren Kreis angehören.

Ererbt, erarbeitet, erheiratet, Geldwäsche? Hier fragte keiner. Die überraschend geschmackvolle Ästhetik des Habens, ohne kalkulieren und finanzieren zu müssen.

Dann aber, zwischen den stilvollen Seevillen, dieser extreme optische Kontrapunkt: Hinter hoher Hecke, die den Großteil des schlimmen Anblickes verbergen soll, eine so jämmerlich zusammengefallene Bruchbude. Zersprungene Fenster, ein seit Jahren eingestürzter Balkonträgerbalken, dessen gespreißelte, längst angefaulte Enden mahnend in die Luft ragen.

Ein magischer Kontrapunkt zur Umgebung.

Abgebrochene, seit Jahren angefaulte Holzträgerelemente, die ehemals weiße Lackfarbe der vordem repräsentativen Villa von Wind und Wetter abgeblättert. Grünes Moos auf den brüchigen Dachschindeln, die längst der Feuchtigkeit nicht mehr Einhalt gebieten können. Wuchernde Natur hat längst von dem Anwesen Besitz ergriffen. Dazu schief verkantete kaputte Rollläden, Grünzeug, das ungehindert ins Innere hineinwächst. Die Mattheit, Fensterscheiben, die ewig nicht mehr gepflegt wurden. Und dazu diese so seltsam bannende, zugleich anziehende und abstoßende Ortsenergie.

„Gehen wir weiter“, sagt die junge Frau zu ihrem Begleiter, „ich fühle mich hier beobachtet und bedroht.“

„Von wem?“

„Weiß nicht.“

„Schau!“, meinte die gute Beobachterin dann mit plötzlich erwachtem Interesse.

„Was?“

„Das da sieht aus wie ein Einbruch!“

„Wie kommst du denn auf so etwas. Die Bruchbude, da gibt’s schon lange nichts mehr zu holen. Von einer Villa mit Wertgegenständen im Innern ist nicht mehr viel übrig.“

„Wer weiß.“

Ihre Intuition täuschte sie nicht. Die Frau spürte nicht nur, dass hier in der Ruine unerlaubtes Betreten im Sinne eines gewaltsamen Aktes geschehen war, sie ahnte etwas undefinierbar Böses. Entschlossen nötigte sie ihren Begleiter zum Fortgehen. Der ließ es widerstandslos geschehen. Er gab sich zwar ironisch-überlegen und gegenüber der Dame verständnislos. Aber auch er war froh, wegzukommen. Der Ort, an dem sie eben noch verweilten, blieb grauenhaft und lockend zugleich.

5

Sie hatten schon richtig gesehen und geurteilt. Dies hier war ein Einbruch. Unerlaubtes Eindringen in ein fremdes Grundstück, in ein Haus sogar. Aber in eine leerstehende Ex-Villa, eine Ruine. In der es nichts zu holen gab?

Nachdem Gabriel sich bei seiner eindringenden Untat vom ersten Schreck erholt hatte, blieb sein Blick gebannt auf das geheftet, was er da sah. Ein Mensch, tot und lebendig zugleich, ein Professorentyp mit eckig vorspringender Nase, die aus dem hageren weißen Gesicht ragte wie eine Felsklippe. Eine Adlernase, die bestimmt nicht erst im Tod diese markante Spitze erlangt hatte.

Der Tote faszinierte! Obwohl totenruhig daliegend, übte er körperliche und seelische Macht aus. Er ruhte mit einer gelassenen Vornehmheit, die zeitgebundenen Lebendigen fremd ist. Dabei zeigte er nicht die geringsten Verwesungsspuren. Seine Kleidung ließ auf eine gewesene obere Bürgerschicht schließen und ebenso auf einen vergangenen Zeitraum von gut einhundert Jahren!

Gabriel verharrte in einer Mischung aus Schreck, erfüllter Neugierde und unerklärlichem Fremdbestimmtsein. Eine Willensstarre, die ihn nun nicht mehr loslassen sollte.

Gleichzeitig fühlte er, dass hier Kräfte an ihm sogen und zerrten, die seine ungewollte Passivität bewirkten. Wohl wollte er fliehen, gehen, agieren, sich hinwegbegeben, was auch immer. Aber er konnte nicht oder wollte nicht. Wie in einem Traum, in dem man fliehen will, aber, zu keiner eigenen Initiative oder keiner Fluchtbewegung fähig, ausharren muss.

Und so war es auch. Er hatte die Bannmeile durchschritten. Okkulte Kräfte wirken auch besonders dann, wenn man nicht um sie weiß.

Nach unbestimmter Zeit aber kehrte Leben und einordnender Verstand in ihn zurück. Er entschloss sich zu gehen. Das fiel ihm seltsam schwer, er nahm aber die dicht beschriebene Skizze mit, die zu Füßen des Toten lag. Neben säuberlich poliertem Anatomiebesteck, das überraschend neu und gebrauchsfertig wirkte.

Das Blatt mit der Skizze zeigte Erstaunliches. Gezeichnet war auf dem tadellos erhaltenen Blatt genau die Person, die da mit weißem Gesicht und spitzer Nase vor ihm lag. Das Skizzenpapier war unterschrieben mit „Paracelsus“.

Und nun machte Gabriel einen verheerenden und die Welt der Okkultisten erschütternden Fehler, dessen Folgen er nicht absehen konnte.

Er steckte das Blatt, dessen Besitz ihm nicht zustand, in seine Tasche.

6

„Ich habe da so eine Ahnung!“

Ein alltäglicher Ausspruch, zumeist einfach dahingesagt. Nicht bei Dr. Ziegenbarth. Wenn der „eine Ahnung“ hatte, dann war dies eine Mischung aus geschliffener Intelligenz, hoher Intuition, einem Sich-Einstellen auf die Schwingung des zu Ahnenden, aus solidem Grundwissen der Magie, vor allem Telepathie.

Und Wissen. Nicht aber das Wissen, wie es in Schulen abgefragt wird, wie es die wahre Lehre der Universitäten verstopft und eben allgemein als Bildung gilt. Auch kein geheimes Logenwissen. Das wirkliche Wissen ist niemals und nirgendwo weitergebbar. Weder heimlich noch offen.

Alles, was irgendwo fixiert ist, schriftlich, sogar mündlich, auch verschlüsselt und durch dunkle Mythen verdeckt: Es ist niemals das Geheimnis.

Geheimnisse sind lesbar, für die Sehenden. Und eine Gruppe kann nie auf lange Zeit hin ein Geheimnis wahren, auch kein noch so hermetisch verschlossener Geheimbund ist zu solchem in der Lage.

Dies nämlich bleibt unbekanntes Wissen der wirklich Eingeweihten und Wissenden. Es gibt keine Organisation, die eine Gruppe der Wissenden einheitlich zusammenfasst. Denn all diese Bünde und Geheimbünde spielen mit der Macht. Sie spielen nicht nur, sie gieren danach. Macht aber löst unweigerlich Konkurrenzdenken aus. Die Angst der Machtelite, auch andere könnten Macht gewinnen, mehr Macht als die eigene. So entsteht statt Weltherrschaft Weltkonkurrenz. Letztlich Machtverlust.

Wirkliches Wissen ist nur durch Gedanken und durch Telepathie überliefert. Diejenigen, die tatsächlich wissen und reif sind, sie werden durch innere gedankliche Verbundenheit und eine für Außenstehende unbegreifliche telepathische Beziehung zusammengehalten. Eher müsse man sagen: zusammengefesselt. Wirkliche Magier und Mächtige verständigen sich ohne besonderen Kraftaufwand und ohne technische Hilfsmittel. So sind und bleiben sie niemals abhörbar.

Am wenigsten durch Apparate, welcher Art auch immer. Auch modernste Technik bleibt hier hilflos. Denn: Die Schwingung, die Logenbrüder im Geiste miteinander verbindet, ist nicht zu orten, nicht einmal zu ahnen.

„Meine Ahnung sagt, die Zeit drängt“, fuhr er fort. „Der Meister ist entdeckt, und das Geheimnis der Unsterblichkeit darf niemals in falsche Hände geraten!“

„Vielleicht war es damals am Ende des neunzehnten Jahrhunderts die falsche Eingebung, ihr Doppel dort zur vorläufigen Ruhe zu betten?“

Dies wagte ein junger Restaurator einzuwenden.

Ziegenbarth antwortete entschlossen.

„Niemals. Es gab und gibt nur diesen Ort. Die Max-Villa.“

7

Anatol Frischmuth, Dr. Phil.

Einer der Wissenden, die durch telepathische Verbindung mit der Gruppe der Magier um Professor Ziegenbarth in Verbindung standen. Der Endfünfziger war ein öffentlich angesehener Mann mit profunden Fachkenntnissen der Philosophie und der Kunstgeschichte, hierbei besonders des Symbolismus.

Anatol Frischmuth hatte in Kunstgeschichte promoviert. Motive des Symbolismus und ihre Wirkung auf andere Kunstgattungen. Seit einem knappen Jahr bekleidete er das Amt des zuständigen Leiters der Gemäldesammlungen in München. Und er machte seine Sache gut. Vielleicht zu gut. Bald hatte er durch Ideen, Ausstellungen und profunde Katalogpublikationen weltweit Achtung erlangt. Das allerdings geriet ihm als Beschäftigter der Stadt München nicht immer nur zum Vorteil.

Und er musste sich, wie viele Könner und Idealisten, mit trivialen Problemen herumschlagen. Die Neue Pinakothek wurde nun für Jahre geschlossen, die entscheidenden Bilder der Öffentlichkeit vorenthalten. Sanierung, so lautete der vorgeschobene Grund für die Presse. Er allein wusste mehr über die wahren Hintergründe.

Frischmuth, Kenner, Ästhet und Zyniker zugleich. War er doch durch sein Wissen und seine unglaubliche Intuition selbst den titeltragenden Akademikern und Würdenträgern der 99er-Loge überlegen. Er konnte in Bildern denken und sah weit hinein in die Zukunft. Das alles bemerkte er wohl, gab sich aber harmlos.

Der Mann mit den Koboldaugen konnte vor seiner Berufung an die Pinakothek einen spektakulären Werdegang vorlegen. Auktionator, Restaurator, Kurator. Warum er die diversen gut dotierten Stellungen der Vergangenheit wieder aufgegeben hatte oder aufgeben musste, konnte keiner in seinem Umfeld beantworten. Groß, stattlich und schlank, trug er stets diesen demonstrativ wissenden Blick durch die randlosen Brillengläser wie einen Schutzschild. Er beobachtete scharf wie ein Falke, er sah alles, leicht ironisierend von oben herab, was ihm Respekt, besser noch: respektable Distanz verschaffte. Dr. Frischmuth hielt sich, was alles Persönliche betraf, auffallend bedeckt.

Nicht umsonst hörte er gerne Lohengrin, überhaupt, Richard Wagner war ihm wie offenbarte Religion, wenn nicht mehr, Wagner mit seinen seelengreifenden Leitmotiven war ihm Wahrheit und Programm. Und er schätzte die mahnenden Zeilen des Schwanenritters, weil diese absolute Diskretion einforderten!

„Nie sollst du mich befragen,

noch Wissens Sorge tragen,

woher ich kam der Fahrt,

noch wie mein Nam’ und Art.“

Er stand, wie so oft, vor dem opulenten Bild Der Anatom im Saal mit den Symbolisten und der dem Maler Gabriel von Max gewidmeten Wand. Und er hielt, Zufall oder nicht, die Hand ebenso versonnen am Kinn wie der Dargestellte auf dem Bild.

„Manchmal glaube ich, der Nachtfalter zu Füßen der dargestellten Toten lebt und fängt im nächsten Moment an, nach vorne zu krabbeln.“ Kaum hatte er das gedacht, bewegte der Falter sich, unmerklich, aber er bewegte sich!

Das Bild sprach, eine Art Murmeln für das innere Ohr; doch die fein verschlüsselte Sprache musste man kennen. Im Hintergrund des schönen Frauenkörpers, dem immer noch der Reiz des Lebendigen anhaftete, auf einem Arbeitstisch des Anatomen, im Halbdunkel geborgen, zwei Schädel. Einer davon halb Affe, halb Mensch.

Dr. Frischmuth dachte an alte Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen Gabriel von Max’ ausladende naturwissenschaftliche Sammlung dokumentiert war. Sogar diese alten Abbildungen zeugten von einer Besessenheit, einem fast wahnhaften Verfolgen von etwas Unaussprechlichem.

Ja, von was?

Dem wahnhaften Ansinnen, man könne durch Sammeln, Beobachten und Auswerten wissend werden. Dem Wahn fast aller Wissenschaftler, man wäre irgendwie in der Lage, der Schöpfung und damit dem Mysterium des Lebens und Werdens auf die Spur kommen.

Jede geistige Brücke dazu war recht, wirklich jede! Naturwissenschaften, aber auch Magie, Anthroposophie, dazu Charles Darwin, Bio-Rassismus, Elitedenken, natürliche Auslese, Survival oft the Fittest.

Und, letztlich nur folgerichtig, der Pakt mit Dämonen.

Fittest. Was ist damit gemeint? Wer ist der vom Leben Auserwählte? Nicht immer nur der Stärkere. Zumeist auch der Klügere! Der Angepasste? Vielleicht vor allen anderen der Gerissenste!

Obwohl Ziegenbarth auf das Gemälde starrte, waren der innere Blick und das innere Sehen ganz woanders. Ziegenbarth traf die Erkenntnis wie ein Blitz:

„Der Maler Gabriel von Max hatte das Missing Link!“

Und dann die Erkenntnis:

„Der unverstandene Trick der Schöpfung!“

Er räusperte sich vor Aufregung: Tod ist nicht gleich Tod.

In dem Moment begann der Falter auf dem Gemälde deutlich nach vorne zu kriechen.

8

Man hatte von der Holzhütte bei Holzhausen, die dereinst Ort eines Ritualtempels war, nun genug gesehen. Nun ging es auf angenehm waldigen Pfaden hinunter zum See und Richtung Ammerland. Nach etwa einer Stunde Gehzeit hatte die Wandergruppe der Magier, die den Ausführungen von Chefarzt Ziegenbarth gebannt folgte, die verfallene Max-Villa an der Seeleiten erreicht.

Es brauchte nicht viel, um über den elenden Zustand der Immobilie eine Mischung aus Erstaunen und Verärgerung zu erreichen. Und mehr noch, um zugleich die Spuren eines äußerst uneleganten Eindringens ins Innere zu bemerken. Ein Einbruch. Hier? Eine Katastrophe war das. Der Ort mit seiner Unwirtlichkeit schien doch so absolut sicher. Wer bricht schon in eine verlassene Ruine ein. Welchen Sinn hat das?

Ziegenbarth erbleichte, trotz der fahlen Grundfarbe seines allzeit weißlichen Adlergesichts.

„Wenn da ein Außenstehender …?“

Er schluckte:

„Wenn da ein Außenstehender etwas erfahren hat!“

Der Professor hielt inne. Man konnte leicht seine Gedanken weiterlesen.

„Wenn da einer das Geheimnis entdeckt“, so ein anderer.

„Aber kein Fremder kann davon wissen.“

Alle schwiegen.

Und jeder wusste: Viel, viel mehr als nur ein Geheimnis, das vielleicht entdeckt werden könnte, lag hier offen. Dieses Wissen würde die Welt verändern, es könnte die angstmachende Öffentlichkeitsarbeit der Nachkriegszeit ad absurdum führen, dieses unselige, über allem kollektiven Denken ausgebreitete Totentuch aus Sündenreligion, autoritärem Gesundheitswesen mit ständig neuen fiktiven Bedrohungen. Und dazu dem manipulierten Wirtschaftsjournalismus, der das Volk in Weltuntergangsstimmung versetzen sollte.

Ziegenbarth musste sich an einen hölzernen Zaunpfahl lehnen. Der Zaun schloss das dem See zugewandte Grundstück zur Straße hin ab.

Er war ein Mann, der Wissen wahren und in sich verschließen konnte. Und musste. Durch Gedankenkraft rief er Dr. Frischmuth, den Leiter der Neuen Pinakothek, aus der Wandergruppe zu sich. Frischmuth hatte einige schlaflose Nächte hinter sich, seit der Falter auf dem Anatombild des Malers Max zu krabbeln begonnen hatte. Und seitdem das Insekt eine andere Position auf dem magischen Bildnis hielt! Ein unübersehbares Zeichen aus der dunklen Gegenwelt. Eine tödlich ernste Mahnung zugleich.

Den beiden führenden Köpfen der schwarzmagischen Loge war klar: Hier, in dem Ruinenanwesen am Starnberger See, da ruhte Der Anatom. Und das war nicht nur ein weltbekanntes Bild des genialen Maler-Okkultisten Gabriel von Max, vor dessen zusammengefallener Villa sie soeben staunend standen.

Der Anatom lebte.

Er lebte weiter, als Untoter, und er hatte damit die Freiheit, anzustellen, was er wollte. Der Anatom lebte, so wie jeder lebte, der um das Geheimnis wusste. Nun musste man handeln.

Und der 23. Juni rückte immer näher. Das besondere Datum einer jeden Loge auf der Welt.

9

23. Juni. Sommersonnwende. Der Tag, an dem die Nacht am längsten währt, die Dunkelheit ihr ureigenes Fest feiert. Den dunklen Mächten gefällt es, dass nun die Tage wieder kürzer werden. Sie stehen an diesem besonderen Tag im Licht, weil es jetzt am längsten währt, wohl wissend, dass dieses Licht von nun an beständig abnimmt.

Umgekehrt agieren die Mächte des christlichen Glaubens. Sie feiern am 24. Dezember, kurz nachdem der Tag am kürzesten dauert und die Nacht am längsten ist, freuen sich über die Geburt des lichtbringenden Erlösers, mitten in der dunkelsten Winterzeit. Ein Licht kam in die Dunkelheit und es hält an, dieses Gotteslicht. Mächte der Finsternis hören das nicht gerne.

Wintersonnenwende, Weihnachtszeit. Zeit der Jahreswende, wobei es aber lichtwärts geht und die Tage wieder länger werden. Bis alles bei den Sonnwendfeuern im kommenden Juni erneut kippt. Kreislauf des Lebens, wissend, dass der Tod nur Übergang ist, Neubeginn, Verjüngung gar.

„Das Bild!“ Frischmuth hatte die Visionen noch im Kopf und wusste, dass Ziegenbarth genau dasselbe dachte.

„Ja! Der Anatom!“ Beider Blicke trafen sich.

„Diese magische Tafel. Die Skizze des Malers Max, die den Anatom zeigt. Das Blatt mit den geheimen Notizen und Handschriften.“

Frischmuth sprach das Unaussprechliche aus:

„Wie nur kommen wir an das Bild?“

„Die Pinakothek wird nun für Jahre geschlossen, wegen angeblicher Sanierungsmaßnahmen. Ihnen als Leiter der Sammlung brauche ich das nicht zu sagen.“

„Dann glauben Sie, Professor Ziegenbarth, das Wissen ist gefährdet, entdeckt zu werden? Öffentlich zu werden? Sie meinen, es wissen bald auch andere ...?“

„Genau!“

„Ich habe mich seit Langem gefragt, warum unsere so renommierte Galerie für nahezu zehn Jahre geschlossen werden soll. In der Zeit könnte man locker einen Neubau tätigen.“

„Da geht es doch um etwas ganz anderes.“

„Das Bild! Der Nachtfalter.“

Frischmuth erinnerte sich an das Erlebnis mit dem magisch belebten und auf dem Gemälde krabbelnden Nachtfalter und wurde augenblicklich so weiß wie das tote Mädchen auf dem Gemälde.

Sein Wissen war den anderen Eingeweihten stets einen Tick voraus. Indes, er schwieg.

Ziegenbarth, Magier und Seelenleser, dazu Arzt mit herausragendem Wissen, übersah absichtlich die innere Bewegung des Logenmitbruders, überlegte kurz und sagte entschlossen:

„Egal wie. Wir müssen an den Nachtfalter auf dem Bild vom Anatom kommen! Er trägt das Geheimnis. Und mit diesem Wissen würde den Menschen die Angst vor dem Tod genommen.“

„Unvorstellbar.“

10

Frischmuth, ausgewiesener Experte für Symbolismus in der Kunst, damit auch für die enorme Wirkmacht der Symbole, rief sich die Überlegungen der letzten unruhigen Tage ins Gedächtnis zurück:

Nachtfalter. Wie der Schmetterling immer schon als Symbol für die Seele gilt, so steht der Nachtfalter für die deren Nachtseite. Die dunkle Seite, das abgrundtiefe Altwasser, das Brackwasser der Phantasie. Und ein Nachtfalter, der wie auf dem Max-Bild aus dem Dunkel taucht, bedeutet ein Selbsterkennen, hin bis zur Selbstzerstörung. Jedoch, das Tier kriecht auf das Gesicht der Toten zu, das Gesicht steht für Sehen, Erkennen. Genau das ist es. Das Geheimnis.

Und nun wurde er sehr ernst. Nochmals versicherte er sich, dass seine Gedanken vor Zuhörern sicher waren, denn er wusste nur zu genau, dass auch Gedanken abgehört werden konnten, ebenso wie gesprochene Sprache oder Funkverkehr. Doch er war in einem hermetisch geschlossenen Raum.

„Man darf den Menschen niemals die Angst nehmen.“

Denn das hieße, die Masse unregierbar zu machen. Im Gegenteil, man muss Angst schaffen. Lebenssaugende, vampirische Angst! Wodurch? Die gute altgediente Kirche mit Sünde, Höllenangst und Fegefeuer taugt nicht mehr, zu groß wurde die Antipropaganda der letzten Jahrzehnte. Aber Todesangst ist und bleibt der Hit für alle Manipulatoren.

Angst, undefinierbare lähmende Angst, Isolation, Einschränkung der Freiheit, der individuellen Begegnung! Frischmuth saß jetzt sinnend da wie der Anatom selber. Der Falter in seiner schwarzen Phantasie begann, mit einem hässlichen Brummton zu flattern.

Ein undefinierbares Virus, ein Angstvirus, das ist es! Seine Gedanken begannen zu rasen, der Tod wird verdrängt, Religion gibt längst keine Hoffnung mehr, undefinierbare Angst, Angst vor dem Unsichtbaren, dem was?

Dem – was?

Frischmuths Ideen begannen zu rasen. Der aufflammende höllische Gedanke des Machtmenschen erschien ihm wie eine Krone, eine Corona.

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Die überaus feierliche Stimmung konnte keineswegs über den Ernst der Situation hinwegtäuschen. Man fand sich überpünktlich ein unter der weiten Kuppel in einem hallengleichen Raum, dessen Stimmung und dessen seltsam energetisches Grundbrummen sakral anmutete.

Das Rund der Kuppel wiederholte sich auf dem Marmorboden mit dem logentypischen Schwarz-Weiß-Schachbrettmuster.

Dieses Schwarz-Weiß steht für die Gut-Böse-Dualität des Lebens. Und für das Wissen, damit Macht zu generieren. Denn dort unten gruppierte sich eine Sitzreihe von hundert, genauer: neunundneunzig Stühlen um den überdimensional breiten Rundtisch aus schwarz poliertem und spiegelndem Marmor. Der seltsame Tisch trug keinerlei Schmuck – außer einem gebleichten Schädel und einer brennenden Kerze.

Die feierlich-ernste Szene, das so seltsam verzögerte, man könnte meinen, dieses unwillige Platznehmen aller korrekt gekleideten männlichen Anwesenden fand so lautlos wie möglich statt. Smoking, Zylinder, seltsame Stolen in unheilvollem Dunkellila. Die Symbole und Sigillen darauf verhießen nichts Gutes. Kein Plaudern, keine Grußformel unterbrach die hörbare Stille.

Etwas stand unausgesprochen im Raum. Jedes Geräusch, sei es der Klang von Schritten, von Stimmen oder Musik, geriet hier unter der Kuppel zum Crescendo einer todbringenden Gegenwelt. Vergleichbar war die Szene nur, wenn man an das seelengreifende Getragensein einer Aussegnungshalle mit Jugendstilästhetik dachte. Goldene Cherubim und Seraphim mit gewaltigen goldenen Schwingen; Angst einflößende, stilisierte und unheimliche Engelwesen mit ungeklärter Abstammung – kalte Boten der Macht, wie sie nur der Tod selber besitzt und aussendet. Die stille Macht des Unentrinnbaren, ähnlich dem Totentempel des Münchner Westfriedhofes.

Dieser Raum, der tagsüber als Votivkapelle Besucher aus der ganzen Welt anzog, agierte wie eine Person. Das Gebäude agierte wie ein forderndes Wesen, wie ein Ungeist, der Energie abzog und einforderte. Angst nimmt immer Energie fort, Angst entreißt sie der Vitalkraft. Ein schwarzmagisches Machtmittel aller Zeiten. Ein Schwarzes Loch im Geiste. Angst!

Und eben diese Gefühle kannte der hohe Kuppelraum von zahllosen schwarzen Versammlungen der Vergangenheit her. Unsichtbar, aber wirksam tat ein Geheimnis des Raumes seine lähmende Wirkung.

Angst und Beklemmung in Gestalt von symbolistischer Bildgestaltung war seinen marmornen Wandverkleidungen einbeschrieben, aber eben nicht nur Angst – auch grenzenlose Erleichterung. Das hatte seinen Grund in dem bizarren Ritual, das hier alljährlich stattfand.

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Die alljährliche Wahl. Einer der hundert Mitglieder der MAX-Loge, ein jeder einzelne von ihnen den Mächten der Dunkelheit für immer verschrieben und dafür mit Reichtum, Macht, Erfolg hier auf Erden (aber eben nur da!) belohnt. Alle hatten sich pünktlich eingefunden.

Jeder saß auffallend starr auf dem ihm angewiesenen Platz, einem thronartigen Stuhl aus dunkel gebeiztem Holz mit senkrecht aufrechter Lehne, den Kopf des hier Sitzenden weit überragend, die jeweils die ihm persönlich zugeschriebene, kunstvoll eingeschnitzte Dämonenfratze zeigte.

Obwohl eisiges Schweigen herrschte, war unter der hohen Kuppel das murmelnde Grundbrummen des Todes zu hören. Ein Klang ohne Geräusch, aber umso wirkmächtiger.

Und jeder der hier versammelten Eingeweihten der Schwarzen Loge wusste um den kalten Klang der Stille, der Grabesstille.

Professor Dr. Ziegenbarth, seit vielen Jahren Großmeister der MAX-Loge, schlug mit einem Holzhammer, der mit einem Silbergriff versehen war, auf ein Mahagonibrett, ähnlich einer Kunstauktion, wenn der Hammer fällt.

Details

Seiten
210
Erscheinungsjahr
2024
ISBN (eBook)
9783958942912
ISBN (Buch)
9783958942721
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Januar)
Schlagworte
Horror Grusel Starnberger See Anatom Untote Gabriel von Max
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Titel: Die Geistervilla