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31 Jahre hinter Gittern

Ein ehemaliger Anstaltsleiter erzählt

©2023 400 Seiten

Zusammenfassung

Knast hat noch niemandem geholfen, oder doch? Was kann und soll der deutsche Strafvollzug leisten? In seinem Buch teilt der erfahrene Sozialpädagoge und Jurist Norbert Henke seine einzigartigen Einblicke in den Alltag deutscher Gefängnisse. Nach über drei Jahrzehnten im Justizvollzug und als „Gefängnisdirektor“ wollte Henke mit dem Ruhestand sein Wissen und seine Erfahrungen nicht einfach „abschließen“.
Das Buch bietet mehr als bloße Sachinformationen. Es enthält fesselnde Erzählungen, berührende Anekdoten und historische Hintergründe über die Justiz und den Strafvollzugsalltag. Henke eröffnet uns eine Welt, die bisher kaum bekannt war. Dabei zeigt er nicht nur die Chancen auf, Menschen zu verändern, sondern beleuchtet auch die Unzulänglichkeiten und Herausforderungen des Systems „Gefängnis“.
Mit überzeugender Stimme appelliert Henke an uns alle, den Strafvollzug nicht länger als reine Abstellkammer für Gescheiterte zu betrachten. Er ruft dazu auf, die Gefangenen als Menschen ernst zu nehmen und das Ziel der Resozialisierung in den Mittelpunkt zu stellen. Denn eine erfolgreiche Wiedereingliederung ist nicht nur im Interesse der Gefangenen, sondern auch der beste Schutz für potenzielle Opfer.
Norbert Henke ist damit ein eindringliches Buch gelungen, das nicht nur den Gefängnisalltag eines ehemaligen Anstaltsleiters beleuchtet, sondern zugleich ein Spiegelbild unserer heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Als ehemaliger Sozialpädagoge mit Erfahrungen in der Heimerziehung landete ich nach den beiden juristischen Staatexamen auf Dauer hinter Gefängnismauern. Insgesamt 31 Jahre war ich im rheinland-pfälzischen Justizvollzug tätig. Begonnen habe ich 1989 in der JVA Frankenthal. Weitere Stationen als stellvertretender Leiter waren das Koblenzer und Diezer Gefängnis. Anschließend war ich insgesamt 21 Jahre als Anstaltsleiter in der JVA Koblenz (1999 - 2001), JVA Diez (2001 -2011) und der in rheinhessischen Gemeinde Wöllstein liegenden JVA Rohrbach (2011 - 2020) tätig.

Dem Leser möchte ich einen Blick in die fremde Welt der Gefängnisse ermöglichen. In 47 Kapiteln habe ich über eine Vielzahl von Themen geschrieben. Berichte über meine Erfahrungen als Anstaltsleiter oder einfach nur Erlebnisse, die mich beschäftigt haben, sollen unterhaltsam und teilweise eher beiläufig über den Justizvollzug informieren.

Einige Kapitel enthalten ironische Passagen. Auch wenn sich Ironie in Deutschland angeblich nicht allgemeiner Beliebtheit erfreut und nicht immer auch als solche erkannt wird, hoffe ich dennoch, dass dies positiven Anklang findet. Die allermeisten Passagen sind jedoch durchaus ernst gemeint, bisweilen sogar sehr ernst.

Der Schwerpunkt der Texte und Beispiele bezieht sich auf den geschlossenen Vollzug mit dem Strafvollzug insbesondere an männlichen Erwachsenen.

Den inhaftierten Frauen, die nur einen Anteil von zwischen ca. 6 und 7 Prozent der Strafgefangenen in Deutschland ausmachen, habe ich zwar nur ein Kapitel gewidmet. Die Texte behandeln allerdings viele Themen, die gleichermaßen Männer und Frauen im Vollzug betreffen.

Den Untersuchungshaftvollzug habe ich nur am Rande thematisiert, da ich mich auf den Strafvollzug konzentrieren wollte.

Ich habe von Erlebnissen berichtet, die sich auf alle vier Justizvollzugsanstalten beziehen, in denen ich tätig war. Relativ häufig geht es in den Texten um Gefangene, die langjährige oder lebenslange Freiheitsstrafen verbüßen mussten. Dies hängt damit zusammen, dass ich zu diesen Inhaftierten angesichts deren langer Aufenthaltszeit hinter Gittern am häufigsten Kontakt hatte und sie mir daher auch am meisten in Erinnerung geblieben sind. Zudem verbrachte ich mehr als die Hälfte meiner Dienstzeit in der JVA Diez, wo überwiegend Gefangene mit langjährigen Freiheitsstrafen untergebracht sind. Dort war ich während meiner Ausbildung als Rechtsreferendar, später als stellvertretender Anstaltsleiter und schließlich als Leiter der Einrichtung tätig.

Die meisten Inhaftierten befinden sich dagegen nur eine überschaubare Zeit in den deutschen Gefängnissen wie auch überwiegend in den weiteren drei rheinland-pfälzischen Einrichtungen, in denen ich gearbeitet habe und von denen ich berichte. Die vermeintlich „dicken Fische“, die im Mittelpunkt des Interesses der Öffentlichkeit, der Medien und deshalb auch der Politik stehen, machen die deutlich kleinere Gruppe der Inhaftierten aus. So verbüßen 32,1 % der insgesamt 36.830 männlichen Strafgefangenen nur eine Freiheitsstrafe bis zu 9 Monaten (11.812) und 29,5 % von mehr als 9 Monaten bis 2 Jahre (10.867). Daher haben 61,6 % der Inhaftierten weniger schwere Straftaten begangen.1 Mehr als 2 Jahre bis 5 Jahre Freiheitsstrafe haben 24,8 % (9.124), mehr als 5 Jahre bis 15 Jahre 9,1 % (3.356) und 4,5 % der Strafgefangenen lebenslange Freiheitsstrafen (1.671).

Hinzu kommen noch als kleinste Gruppe die 602 Sicherungsverwahrten in speziellen Einrichtungen, deren Unterbringungsgebäude sich wie auch in Diez zumeist auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalten befinden.

Dieses Buch widme ich den vielen Tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich tagtäglich auf diesem oft steinigen Acker der Justiz abmühen. Ihre engagierte Tätigkeit leistet einen wesentlichen Beitrag zur Resozialisierung der Strafgefangenen und damit zugleich für den Schutz potentieller Opfer. Dies wird leider in der Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommen, obwohl die Ausgangslage für die Bediensteten in den Justizvollzugsanstalten besonders anspruchsvoll ist. In die Justizvollzugsanstalten kommt nur ein kleiner Teil der Straffälligen. Lediglich 6 bis 7 Prozent der Straftaten werden mit einer unbedingten Freiheitsstrafe geahndet, weil die Kriminalprognose ungünstig ist oder es sich um eine schwerere Straftat handelt, bei der aufgrund der zwei Jahre überschreitenden Strafhöhe eine Bewährungsstrafe ausscheidet.

Dennoch wird nur etwa ein Drittel der erwachsenen Strafgefangenen nach der Entlassung so erheblich rückfällig, dass sie erneut eine Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt verbüßen müssen.2 Allein dies ist ein Erfolg.

Den Strafvollzug sollte man weder über- noch unterschätzen. Er ist nicht der Reparaturbetrieb der Gesellschaft, der alle früheren Versäumnisse ausgleichen kann. Die Persönlichkeit, die Stärken und Schwächen eines Menschen sind Ergebnis seiner Sozialisation, Erziehung und Lebensbedingungen.

Nach wie vor sind Menschen aus unteren sozialen Schichten in den Gefängnissen zwar deutlich überrepräsentiert. Doch ist ihr Weg in die Kriminalität keineswegs zwingend. Der in seinen Entscheidungen freie Mensch gehört zu unserem Menschenbild und entspricht dem unseres Grundgesetzes. Auch die Entscheidung, Regeln zu brechen oder einzuhalten, unterliegt uneingeschränkt der Verantwortung eines Menschen, sofern er nicht vom Gericht als schuldunfähig oder eingeschränkt schuldunfähig betrachtet wird. Letztlich ist auch der Strafvollzug nicht in der Lage, einen Menschen gegen seinen Willen zu ändern. Er bietet Chancen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese Chancen sollte man gleichwohl anbieten. Ein Strafvollzug, der die Gefangenen überwiegend verwahrt, hat den gesetzlichen Auftrag der Wiedereingliederung verfehlt. Resozialisierung bedeutet Opferschutz.

Das Persönlichkeitsrecht der Gefangenen lässt es im Regelfall nicht zu, in den Texten Namen zu nennen, Fälle in allen Einzelheiten darzustellen oder Personen betreffende Informationen dergestalt zu schildern, dass sie identifiziert werden können. Der Konkretisierungsgrad wurde deshalb auf das Notwendige beschränkt und teilweise wurden auch Inhalte verfremdet.

Kapitel 1: Der letzte Diezer Ausbruch und die Sicherheit der Anstalt

Zur Einstimmung soll mit einem Ereignis begonnen werden, das in den Justizvollzugsanstalten selten geworden ist: ein Ausbruch aus dem geschlossenen Vollzug. Der einzige, den ich erlebt habe, und der letzte aus der JVA Diez. Verbesserte Sicherheitstechnik, Gitter aus Manganstahl vor den Zellenfenstern und mit dreifachem Sicherheitsdraht gekrönte Gefängnismauern sollen verhindern, dass Gefangene mit einer altertümlichen Feile mühevoll Gitterstäbe durchsägen, sich mit zusammengeknüpften Bettlaken auf den Gefängnishof herunterlassen und womöglich noch frech winkend über die Mauern klettern. In Spielfilmen über die vergitterte unbekannte Welt ist dies ein Spannungsmoment, das gerne genutzt wird, um den Zuschauer gut zu unterhalten.

1993 an einem schönen Frühsommertag gegen 16.20 Uhr. Die Alarmsirene der JVA Diez schrillte über das Anstaltsgelände. Ein Gefangener fehlte. „Ein bisschen Schwund ist immer“, bemerkte einer der zur zentralen Sammelstelle der Anstalt geeilten Beamten. Da ich als Mitglied der Anstaltsleitung schon vor Ort war, sagte niemand etwas zu dieser Bemerkung. Doch besaß sie einen wahren Kern. Einen Tag später sagte ein sehr erfahrener Bediensteter, der die Sicherheit der Anstalt durchaus im Auge hatte: „Vielleicht ist es für das Personal ja ganz gut, wenn einem Gefangenen einmal die Flucht gelingt. So gibt es keine Geiselnahme. Das wäre viel schlimmer.“ Er dachte offenbar an Vorfälle in anderen Justizvollzugsanstalten, bei denen Bedienstete zum Teil schwer verletzt worden waren.3

Nahezu zeitgleich mit der Auslösung des Alarmes meldete sich ein Kollege in der Anstalt, der bereits in den verdienten Feierabend gestartet war. Von seinem Wohnhaus aus hatte er die Flucht beobachtet, jedenfalls den letzten Teil. Die für die zahlreichen Beamten errichteten Dienstwohnungshäuschen wurden 1912, zeitgleich mit dem Preußischen Zentralgefängnis Freiendiez, der heutigen Justizvollzugsanstalt Diez, errichtet. Die Gebäude sind mit dekorativem Schiefer verkleidet. Jedem Grundstück ist ein kleines Gartengelände zugeordnet. Fast eine Idylle, wäre da nicht der ständige Blick auf die Gefängnismauern. Vielleicht ist es auch so zu erklären, dass selten ein JVA-Beamter straffällig wird. Die Häuser stehen unter Denkmalschutz, anders als der nach einem Ausbruch gefährdete Anstaltsleiter, dessen Stuhl in solchen Fällen bedenklich ins Wackeln gerät. Der Mitarbeiter beobachtete, wie der Gefangene sich mit einem Seil geradezu klassisch von der Anstaltsmauer herunterließ und einen lang gezogenen Sprint startete. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um einen aus Ex-Jugoslawien stammenden Inhaftierten, Ende 20 und recht sportlich. Dem Gefangenen war es gelungen, nach Arbeitsende in den Werkhallen zu verbleiben. Wie immer erhielten die Gefangenen an der Außentür des Betriebes ihren zum Arbeitsbeginn eingesammelten Arbeitsausweis zurück. Sind sie ausgegeben, weiß der Betriebsbeamte, dass alle den Arbeitsbereich verlassen haben. Zumindest geht er dann davon aus. Der Ausbrecher hatte zwar seinen Arbeitsausweis erhalten, schlüpfte jedoch an dem offensichtlich abgelenkten Mitarbeiter vorbei zurück in die Halle. Der Gefangene hatte damals eine knappe Stunde bis zur nächsten Vollzähligkeitszählung zur Verfügung. Die Zeit nutzte der gut vorbereitete Ausbrecher. Er verschaffte sich Zugang zu einem Trennschneider und einer Zange. Außerdem hatte er bereits ein Seil mit Leinen von einer der vielen Wäschespinnen geflochten, die damals in den Arbeitshallen hergestellt wurden und viele private Hausgärten mehr oder weniger zierten. Am Ende des Seils hatte der handwerklich nicht ungeschickte Gefangene eine ankerartige Vorrichtung befestigt. So ausgestattet gelangte er über einen Lagerraum der Halle an die Außenwand des Gebäudes, das an das große Sportgelände der Anstalt grenzte. Mit dem Trennschneider sägte er das Gitter eines Fensters durch und sprang vom Fenster auf das Sportgelände, das zu diesem Zeitpunkt nicht überwacht war, da zur maßgeblichen Zeit hier kein Sport getrieben wurde. Dort, wo die Außenmauer der Werkhalle mit der Außenmauer des Anstaltsgeländes einen spitzen Winkel bildete, warf er den Wurfanker mit dem Kletterseil über die mehr als fünf Meter hohe Mauer, wo es sich in der Mauerkrone hinter dem Stacheldraht verhakte. Der Ausbrecher konnte den Mauerwinkel wie einen Kamin nutzen, indem er sich mit den Beinen an den beiden Mauerseiten abstemmte und gleichzeitig am Seil hochziehend an die Mauerkrone kletterte. Dort schnitt er mit der Zange den Stacheldraht durch, kletterte auf die Mauerkrone und ließ sich mit dem Seil an der anderen Mauerseite herunter.

Der Beamte, der den Ausbrecher bemerkt hatte, fasste den Vorsatz, dem Fluchtversuch ein Ende zu setzen. So eilte der Mitarbeiter, der noch seine Pantoffeln trug, Anfang 40 und mit einem leicht überdurchschnittlichen Body-Mass-Index ausgestattet war, dem Gefangenen nach. Ein bisschen hatte es etwas von einer Pflichtübung, da dem Mitarbeiter durchaus bewusst war, dass er bei dem Lauf nur den zweiten Platz belegen würde. Er beendete seine sportliche Aktivität und informierte die Anstalt, nicht ohne rechtfertigend sein ungeeignetes Schuhwerk zu erwähnen, das er für seine Niederlage im Rennen verantwortlich machte.

Der Strafvollzug wird in den Augen der Bevölkerung und damit auch der Politiker, die ja auf die Stimmen der Bevölkerung angewiesen sind, mit Wohlwollen betrachtet, sofern dort nichts Schlimmes geschieht. Als eher unschön wird ein Ausbruch bewertet. Dort, wo dies geschehen ist, scheint die Welt hinter Gittern nicht mehr in Ordnung. Der Strafvollzug hat dann kläglich versagt. So die Meinung der Öffentlichkeit. Ein Ausbruch wird als Justizskandal begriffen. Hat doch ein nicht geringer Teil der Bevölkerung wenig Verständnis dafür, dass tatsächlich ein Gefangener die hohen, mit Stacheldraht versehenen Anstaltsmauern überwinden kann. Wenn die Welt vor den Mauern schon nicht in Ordnung ist, muss sie doch wenigstens dahinter funktionieren, ist die Erwartung. Manche gehen in einem irrealen Optimismus von einer geradezu klösterlichen Ordnung aus, in der die evangelischen Räte Armut, Keuschheit und vor allem Gehorsam vermeintlich strikt befolgt werden.

Dagegen wissen weniger weniger blauäugige Bürger durchaus, dass dort keine heile Welt gibt. Dass man dennoch überzogene und irreale Erwartungen an die Gefängnisse äußert, entspricht wohl dem menschlichen Bedürfnis, einen scheinbar greifbaren Ansatzpunkt für Kritik an den Schwächen und Mängeln des Staates zu besitzen.

Die jeweilige Opposition im Landtag bewaffnet sich nach einem solchen Vorfall und verlangt regelmäßig nach Konsequenzen. Getreu dem Motto, dass der Fisch vom Kopf aus stinkt, soll ein Verantwortlicher in die Wüste geschickt werden. Dies betrifft selten den Justizminister, sondern vielmehr den Anstaltsleiter, obwohl dieser zumeist noch unsportlicher ist als die meisten seiner Mitarbeiter und bei einer Nacheile zweifelsohne auch das Nachsehen gehabt hätte. Der Minister, der in Mainz seinen Platz hat, hätte zwar auch nicht die Möglichkeit gehabt, den Flüchtenden nachzurennen. Er trägt aber Mitschuld an dem Skandal, weil er einen Anstaltsleiter eingesetzt hat, der weder schnell rennen kann noch seine Anstalt so organisiert hat, dass ein Ausbruch ausgeschlossen ist.

Gelingt ein Ausbruch aus dem geschlossenen Bereich, werden oftmals von der Ferne verallgemeinernde Schlüsse gezogen und man kommt zum Ergebnis, dass die Anstalt nicht sicher genug ist.

1993 hat eine Expertenkommission formuliert, was unter Sicherheit im Strafvollzug zu verstehen ist.4 Danach soll die Sicherheit gewährleisten, dass die Allgemeinheit, die Bediensteten und die Gefangenen keinen Schaden nehmen. Man unterscheidet zwischen der inneren und der äußeren Sicherheit.

Die äußere Sicherheit umfasst die Verhinderung von Gefährdungen der Allgemeinheit, Fluchtversuchen von innen und Fluchthilfe von außen, das Einschleusen unerlaubter Gegenstände und Stoffe, wie unter anderem Betäubungsmittel, Waffen, Briefe, Werkzeuge, verbotene Kontaktaufnahme mit der Außenwelt und Abwehr terroristischer oder sonstiger Angriffe und Sabotageakte.5

Bei der inneren Sicherheit geht es insbesondere um den sicheren Verschluss der Gefangenen in den Hafträumen, die Überwachung der Gefangenen, die Verhinderung von kriminellen subkulturellen Strukturen, Erpressung und Unterdrückung von Gefangenen, die Vermeidung von Gefährdungen der Bediensteten und die Aufrechterhaltung geordneter organisatorischer Abläufe.6

Auf der Basis des von der Expertenkommission entwickelten Sicherheitsverständnisses gibt es vier Bausteine, die das Fundament dieser äußeren und inneren Sicherheit bilden.7

Hierzu gehören die instrumentelle Sicherheit, die bauliche und technische Vorkehrungen wie Mauern, Wachtürme, Zäune, Videoanlagen umfasst. Das Personal, das die Sicherheitsmaßnahmen umzusetzen und zu kontrollieren hat, ist wesentlicher Aspekt bei diesem Teilbereich der Sicherheit. Ein zweiter Baustein ist die kooperative Sicherheit. Hiermit ist die Qualität der Zusammenarbeit aller am Justizvollzug im weitesten Sinne beteiligten Behörden und Personen gemeint.

Die administrative Sicherheit ist die dritte Säule. Sie ist in erster Linie von den Führungskräften der Anstalt neben dem Justizministerium als Aufsichtsbehörde zu gewährleisten. Dies geschieht, indem gute sicherheitsrelevante Vollzugsabläufe gestaltet werden. So sind zum Beispiel schriftliche Regelungen für den Umgang mit besonderen Vorkommnissen wie Bränden, Geiselnahmen und Ausbrüchen erforderlich. Hierfür werden Alarm- und Sicherungspläne als Vorgabe oder Richtlinie erstellt. Dort wird zum Beispiel auch geregelt, wie häufig und wann Vollzähligkeitskontrollen der Gefangenen zu erfolgen haben.

Der Diezer Ausbrecher konnte es sich zunutze machen, dass erst geraume Zeit nach dem Arbeitsende der Inhaftierten die nächste Zählung erfolgte. So besaß er ein ausreichendes Zeitfenster für die Flucht. Seit diesem Ausbruch wurde eine Vollzähligkeitskontrolle unmittelbar nach Ende der Arbeitszeit der Gefangenen eingeführt.

Prägend für die administrative Sicherheit ist der effiziente Personaleinsatz, der sich mit der Frage beschäftigt, wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für bestimmte Aufgaben eingesetzt werden. Nahezu alle Bediensteten nehmen unabhängig von ihrer konkreten Zuständigkeit zumindest auch Sicherheitsaufgaben wahr. Ist zum Beispiel ein Bereich wie die Anstaltsküche unterbesetzt, besteht die Gefahr, dass die Beamten, die für eine gute Verpflegung der Gefangenen verantwortlich sind, ihre Aufsichtsaufgaben vernachlässigen. Ist die Nachtdienstbesetzung zu knapp bemessen, kann die Sicherheit bei unvorhersehbaren Vorkommnissen wie einer plötzlich notwendig gewordenen Krankenhausunterbringung erheblich gefährdet sein. Pro Schicht müssen nämlich zwei Mitarbeiter für die Überwachung des Gefangenen abgestellt werden. Sofern sich ein weiteres besonderes Vorkommnis in diesem Zeitraum ereignet, stößt eine Anstalt personell an ihre Grenzen. Der Ausbruch aus der JVA Diez wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindert worden, hätte man hinter dem Beamten, der die Arbeitsausweise einsammelte, einen zweiten zur Absicherung eingesetzt.

Alle Aufgaben müssen konkret genug bestimmt sein. Es muss eindeutig sein, wer die Leitungsaufgaben in den einzelnen Arbeitsbereichen wahrnimmt. Die Verantwortlichkeiten müssen klar benannt sein.

Daneben wird die administrative Sicherheit auch von der sachlichen Zuständigkeit einer Anstalt bestimmt, für die das Justizministerium verantwortlich ist. Konzentriert man Strafgefangene mit langen Haftzeiten in einer Anstalt, unterscheiden sich die Sicherheitsanforderungen von denen, die für eine Einrichtung mit kürzeren Freiheitsstrafen gelten. Für die Sicherheitslage einer JVA ist in besonderem Umfang die Binnendifferenzierung innerhalb einer Anstalt maßgeblich. Sie bestimmt das Ausmaß an Freizügigkeit in der Anstalt bzw. innerhalb einer Abteilung. Die Entscheidung, ob die Hafträume in den Wohnbereichen zeitweise offen sind, gehört hierzu. Diese Binnendifferenzierung ist häufig zu wenig ausgeprägt. Deshalb ist ein erheblicher Teil der Inhaftierten in unnötigem Umfang Beschränkungen ausgesetzt, die ausschließlich bei problematischeren Gefangenen notwendig sind.

Als Letztes ist die soziale Sicherheit zu nennen. Sie besitzt eine herausragende Bedeutung und umfasst die Qualität der sozialen Beziehungen zwischen Gefangenen und Bediensteten. Kommunikationsbereitschaft und gegenseitiger Respekt prägen die Atmosphäre einer Einrichtung wesentlich und wirken sich auch unmittelbar auf die Sicherheit aus. Schlagwortartig wird hierzu oftmals von „Sicherheit durch Nähe“ gesprochen.

Teilweise wird die soziale Sicherheit, der vierte Tragpfeiler der Sicherheit, als eine eher diffus erscheinende Vorgabe betrachtet und mehr dem Vollzugsziel der Resozialisierung zugeordnet, als sei die Wiedereingliederung der Strafgefangenen eine von der Sicherheitsaufgabe trennbare Größe. Eine solche Einschätzung würde die Zusammenhänge zwischen dem Vollzugsziel der Resozialisierung und der Sicherheitsaufgabe verkennen. Ein Strafvollzug, der die Sicherheit in überzogenem Umfang über alles stellt, wäre ausschließlich ein restriktiver Verwahr- und Wegsperrvollzug. Wolfgang Suhrbier, ein im Justizvollzug tätiger Sicherheitsexperte, hat sich treffend hierzu geäußert:8

„Nur eine sinnvolle und sich ergänzende Verknüpfung aller Instrumentarien führt zur Sicherheit in den Anstalten. Im Mittelpunkt aller Überlegungen hat dabei allerdings der Mensch, sowohl das Personal als auch die Inhaftierten, zu stehen. Der personelle Einsatz im Inneren der Anstalt im Zusammenwirken mit Vollzugsmaßnahmen für den Inhaftierten ist allein der Garant für einen sicheren und humanen Strafvollzug. Wenn im Strafvollzug zu beengend und überwachend für die inhaftierten Menschen vorgegangen wird, steigt der emotionale Druck der Häftlinge derart, dass sich die Gefahr von Geiselnahmen erhöht. Beispiele dafür gibt es in den vergangenen Jahren im Bundesgebiet reichlich.“9

Zum Abschluss dieses Kapitels soll es um einen Ausbruchsversuch in der JVA Koblenz um die Jahrtausendwende gehen. Ein Inhaftierter war offenbar nicht mit der Unterbringung in der JVA Koblenz zufrieden und nahm einige Probebohrungen im Bereich der Außenwand seines Haftraumes vor. Allerdings ohne nennenswerten Erfolg. Um sich zu motivieren, hatte der gescheiterte Ausbrecher vor Arbeitsbeginn an die Haftraumwand geschrieben: „Der Geist besiegt die Materie!“ Ich muss einräumen, ein wenig hat mich dieser Versuch der Selbstmotivation schon beeindruckt. Dies hat mich an eine Phase während meines Jurastudiums erinnert. Damals überlegte ich, das Studium, das ich erst im Alter von 24 Jahren begonnen hatte, abzubrechen, um in meinen alten Job als Sozialpädagoge zurückzukehren. Mir kam der Weg bis zum 1. und später 2. Staatsexamen plötzlich unendlich lang vor. Beim morgendlichen Lesen der Tageszeitung stieß ich auf eine kurze Meldung. Sie bestand aus der Überschrift „Jeder 2. bricht ab“ und zwei kurzen Sätzen, mit denen berichtet wurde, dass die Hälfte der Jurastudenten abbricht. Ich schnitt diese kleine Meldung aus und versah sie mit dem an mich selbst gerichteten Appell: „Ich nicht!!!“ Das Zettelchen legte ich gut sichtbar in mein Portmonee, wo es mir gelegentlich in die Augen fiel. Manchmal war ich allerdings kurz davor, mir das Zettelchen in den Mund zu stecken und aufzuessen. Ballaststoffreiche Nahrung soll schließlich gesund sein.

Kapitel 2: Die JVA Diez, Begegnungen mit Dr. Dieter Bandell und Lebenslangen in der Referendarzeit

1989, während des letzten halben Jahres meiner Referendarzeit, die mich auf das zweite juristische Staatsexamen und mein späteres Berufsleben vorbereiten sollte, durfte ich in der Justizvollzugsanstalt Diez erste Praxiserfahrungen im Justizvollzug sammeln. Damals verbüßten dort von insgesamt etwa 500 Gefangenen die meisten langjährige, davon 120 lebenslange Freiheitsstrafen. Hinzu kam eine in den neunziger Jahren noch recht überschaubare Anzahl von etwa 13 Sicherungsverwahrten. Noch ahnte ich nicht, dass ich in dieser Justizvollzugsanstalt insgesamt mehr als 15 Jahre in der Anstaltsleitung ausharren würde, nämlich zunächst 7 Jahre und 9 Monate als Dezernent und stellvertretender Anstaltsleiter und später ebenso lang als deren Leiter. Bei dem Diezer Gefängnis handelt es sich um einen 1912 erstellten Gefängnisbau, der dem damals üblichen preußischen Modell entsprach. Man spricht von dem panoptischen System. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass man von einem zentralen Punkt aus – eben der Zentrale mit der kleinen Bürokanzel – in alle Hafthausflügel Einsicht nehmen kann. Wenn ein Anstaltsleiter an dieser Stelle steht, glaubt er den Überblick zu haben. Jedenfalls sofern er naiv genug ist.

Das Hafthaus des geschlossenen Vollzuges besteht aus den drei aus der Erbauungszeit stammenden Gebäudetrakten neben dem 1974 erbauten vierten großen Hafthausflügel. Die älteren drei Flügel besitzen jeweils vier Stockwerke, die nicht mit Zwischendecken voneinander getrennt sind. Vielmehr schließen sich parallel zu den sich auf beiden Seiten der Hafthausabschnitte befindlichen Haftraumreihen Galeriegänge an, die durch Treppenaufgänge miteinander verbunden sind. Solche martialisch anmutenden Gefängnisbauten werden gerne als Kulisse in Krimis benutzt. Die neueren Bauten besitzen kleinere bauliche und voneinander abgetrennte Einheiten. Darüber hinaus gibt es in der JVA Diez noch das nur wenige Meter von der Außenmauer des geschlossenen Vollzuges entfernt stehende Gebäude des offenen Vollzuges, das Freigängerhaus.

Ich hatte als Referendar die Möglichkeit, mit allen Berufsgruppen ein Gespräch zu führen, und durfte ihnen zeitweise im Dienst über die Schulter schauen. Die meisten begegneten mir recht offen, da sie mich nur als vorübergehenden Gast des Gefängnisses betrachteten und wohl kaum mit meiner Rückkehr als Vorgesetzter rechneten.

Ich hatte eine Justizvollzugsanstalt als letzte Ausbildungsstation der Rechtsreferendarzeit ausgewählt, da ich mir eine Tätigkeit in diesem Bereich der Justiz gut vorstellen konnte. Bereits als Sozialpädagoge hatte ich in der Heimerziehung geraume Zeit mit Menschen zu tun gehabt, denen man auf den Abstellgleisen unserer Gesellschaft einen Platz zugewiesen hatte. Daher erschien mir dieses Arbeitsfeld passgenau. Einen der Jungen, für die ich im Landesjugendheim Ingelheim verantwortlich war, traf ich in der JVA Diez wieder. Wir hatten in der ein wenig abseits vom Zentrum des rheinhessischen Ingelheim gelegenen Einrichtung neben vielen Gesprächen stundenlang Tischtennis im Freizeitraum des Heimes gespielt, erinnerte ich mich. Es stimmte mich ein wenig traurig, als ich ihm wieder begegnete.

Während der Referendarzeit hatte ich jedoch einige Erlebnisse, die meine Motivation, nach dem 2. Staatsexamen im Justizvollzug zu arbeiten, ins Wanken gebracht hatten.

In den ersten Wochen in Diez nahm ich an mehreren Dienstschichten des allgemeinen Vollzugsdienstes teil. Dies sind die uniformierten Bediensteten, die insbesondere in den Gefangenenvollzugsabteilungen und den Arbeitsbetrieben tätig sind. Sie stellen mehr als 80 % des Personalkörpers und besitzen den unmittelbarsten und häufigsten Kontakt zu den Gefangenen. Diese Mitarbeitergruppe hat maßgeblichen Einfluss auf ein gutes und menschliches Klima. Sie sind den größten psychischen Belastungen im Berufsalltag ausgesetzt. Die Mitarbeiter müssen sich Tag für Tag auf teilweise sehr schwierige Menschen und manchen Konflikt einstellen. Ein Anstaltsleiter sollte sich dies stets bewusst machen. Er tut gut daran, die engagierte Arbeit dieser Mitarbeitergruppe wertzuschätzen und dies immer wieder zum Ausdruck zu bringen.

Ich begleitete einen in der Zentrale des Hafthauses tätigen Mitarbeiter des allgemeinen Vollzugsdienstes. Der Zentralbeamte ist insbesondere für die Organisation des täglichen Ablaufes zuständig und trifft eigenständig viele Entscheidungen, je nach deren Bedeutung auch in Zusammenarbeit und in Absprache mit den Vorgesetzten. Außerhalb der üblichen Dienstzeiten der Verwaltung ist er als Schichtleiter für die gesamte JVA verantwortlich. Bei gravierenden Vorkommnissen informiert er fernmündlich einen Vorgesetzten oder hält Rücksprache bei Fragestellungen, wenn er Unterstützung benötigt.

Bei dem Bediensteten, dem ich einen Tag über die Schulter schauen durfte, handelte es sich um einen Mitarbeiter, der ein ruhiges, bescheidenes Auftreten und aufgrund seiner väterlichen Art einen guten Draht zu den Inhaftierten besaß. Nachdem er seinen Blick in einen der drei Hafthausflügel, die er von seinem Platz aus sehen konnte, hatte schweifen lassen und offenbar einen der inhaftierten Männer erkannt hatte, äußerte er: „Der war auch schon mal hier; kommen alle wieder.“ Geprägt von meiner sozialpädagogischen Vorbildung und dem hierbei vermittelten beruflichen Optimismus war ich etwas irritiert und verkniff mir einen Kommentar. Wenn man viele Jahre in einer Justizvollzugsanstalt tätig ist, nimmt man zwangsläufig nur die Rückkehrer wahr, sagte ich mir. Ebendiese sieht man; diejenigen, denen es nach einer guten Vorbereitung im Gefängnis in Freiheit gelingt, ihr Leben zu ordnen, dagegen weniger. Man läuft als Mitarbeiter Gefahr, überwiegend die Misserfolge zu sehen, erklärte ich mir die Wahrnehmung des Zentralbeamten.

Einen ungewöhnlichen Kontakt hatte ich zu einem sehr erfahrenen Sozialarbeiter. Er neigte zu einer direkten und offenen Sprache. Wie viele Bedienstete hatte er das Bedürfnis, einem Außenstehenden, der ich als auszubildender Referendar ja noch war, seine beruflichen Sorgen und Nöte mitzuteilen. Der Sozialarbeiter schockierte mich zunächst mit einer recht derben Äußerung. Nachdem ich ihn gefragt hatte, ob er den Eindruck habe, dass seine Arbeit erfolgreich sei, antwortete er sinngemäß: „Ich gehe zweimal täglich auf die Toilette, um dort ein großes Geschäft zu erledigen!“ Mit seinen drastischen Worten wollte er zum Ausdruck bringen, dass man nicht überzogen hohe Erwartungen an berufliche Erfolge im Strafvollzug haben dürfe. Er relativierte seine Botschaft jedoch und teilte mir mit, er erhalte immer wieder Anrufe von ehemaligen Gefangenen, die stolz darüber berichten, dass sie „draußen“ gut zurechtkämen. Dies motiviere ihn immer wieder. Offenbar wollte er einen blutigen Anfänger wie mich nur ein wenig erschrecken.

In einer Einrichtung wie der JVA Diez, wo langjährige Freiheitsstrafen vollzogen werden und manche Gefangene sogar ihr Leben hinter den Mauern beschließen, nahm ich mehr perspektivlose Inhaftierte wahr als später in anderen Justizvollzugsanstalten mit überschaubaren Haftzeiten.

Ein Anstaltspsychologe gab mir Gelegenheit, in einer Gesprächsgruppe zu hospitieren, an der einige dieser Menschen teilnahmen. Sie bestand neben dem Therapeuten aus zehn Gefangenen und traf sich wöchentlich in einem in die Jahre gekommenen wenig wohnlichen Gruppenraum, der mit ungepolsterten Holzstühlen ausgestattet war. Die Gefangenen befassten sich mit Hilfe des sehr erfahrenen Psychologen mit dem Thema soziale Beziehungen. Bei dem Therapeuten handelte es sich um einen stets gut gelaunten und sehr engagierten Mann, der mich mit seiner optimistischen Lebenseinstellung beeindruckte.

Die Teilnehmer der Gesprächsgruppe hatten Gelegenheit zur Selbsterfahrung und Weiterentwicklung, da sie außer von dem Therapeuten auch von den Mitgefangenen kritische und konstruktive Rückmeldungen erhielten.

Ein älterer Gefangener fing plötzlich an leise zu weinen; einer von den eher schweigsamen Gruppenmitgliedern, die im Stuhlkreis wenig von sich gaben. Der Mann, der so emotional reagierte, ging auf die siebzig zu, wirkte aber deutlich älter. Gelbe Fingerspitzen wiesen ihn als starken Raucher aus.

Der Psychologe setzte das Gruppengespräch zunächst nicht fort und wartete, bis der Gefangene sich wieder gefasst hatte. Er murmelte lediglich etwas, was sich anhörte wie: „Ich komme nicht weiter!“ Ich wunderte mich darüber, dass der Therapeut nicht näher auf die Reaktion des Gefangenen eingegangen war. Nach Beendigung der Therapiestunde erklärte mir der Psychologe die Gründe hierfür. Der ältere Mann verbüßte schon seit nahezu zwanzig Jahren eine lebenslange Freiheitsstrafe, weil er einen Sexualmord begangen hatte. Die Teilnahme an der Gruppe war eher eine Notlösung, da der Gefangene in einer Einzeltherapie gescheitert war. Ohne eine erfolgreiche Psychotherapie war zum damaligen Zeitpunkt bei dem Gefangenen eine Verlegung in den offenen Vollzug nicht verantwortbar. Er wurde erst in einem Alter entlassen, in dem er bereits so gebrechlich war, dass ein Rückfall nicht mehr zu befürchten war.

In der Therapiegruppe befand sich auch ein Gefangener, der mehrfach ein Medienereignis war. Seine kriminelle Karriere und die letzte von der Flucht vor der Polizei geprägte Phase vor der 1962 erfolgten Festnahme wurde im Rahmen der Reihe „Stahlnetz“ verfilmt. Anfang der 60er-Jahre hatte er – damals war er erst Anfang zwanzig – bei einem Bankraub als Anführer mehrerer Mittäter einen Angestellten erschossen. Bereits zuvor hatte er mehrere Banküberfälle, allerdings als Einzeltäter, begangen.

Die Tat, bei der er den Mord begangen hatte, hatte er als Anführer mehrerer Mittäter verübt. Da sich dies spektakulärer anhört, machte die Presse ihn deshalb schnell zu einem Bandenchef. Bei den Vernehmungen äußerte er: „Wenn einer erschossen wird, ist er selbst daran schuld, woll!“ Der Gefangene hängte sehr oft ein „woll“ an das Satzende. Er unternahm während der ersten Haftjahre einige Ausbruchsversuche, die nicht erfolgreich waren. Irgendwann gab er auf. Die Ausbruchsversuche, aber auch sich selbst.

Der Inhaftierte äußerte selten Bedürfnisse und stellte Anträge nur, wenn es unbedingt notwendig war. Sein Haftraum war ausgesprochen karg und leer. Nahezu steril. Der Gefangene achtete sehr auf Sauberkeit und Ordnung. Er besaß noch nicht einmal ein Fernsehgerät. Das Innenleben des Gefangenen lag weitestgehend im Dunkeln. Der wortkarge Mann arbeitete viele Jahre in der Anstaltskammer. Unter anderem wird dort die Gefangenenkleidung aufbewahrt und Wäsche ausgegeben. Der väterliche Leiter der Kammer nahm ihn unter seine Fittiche und wurde die wichtigste Bezugsperson für ihn, ohne dass sich jedoch eine menschliche Nähe entwickelte. Dem Gefangenen genügte offenbar das Wissen, dass ihn jemand so, wie er ist, akzeptierte. Als wortkargen und etwas mürrischen Sonderling. Er hatte zu keinem Zeitpunkt Kontakte zu anderen Gefangenen oder nach draußen.

Als ich während der Referendarzeit einige Stunden in der Kammer hospitierte, fiel mir auf, dass der introvertierte Mann einen graublauen Anstaltspullover trug, der sich von denen der dort arbeitenden Mitgefangenen unterschied. Sein Pullover besaß einen roten aufgenähten Streifen an beiden Ärmeln im Bereich der Unterarme. Ein Mitarbeiter erklärte mir, es handele sich um ein sehr altes Anstaltskleidungsstück, das eigentlich nicht mehr ausgegeben werde. Als es noch die Unterscheidung zwischen Zuchthaus- und Gefängnisstrafen gegeben hatte, hatten die Zuchthausgefangenen den Pullover mit dem roten Streifen am Unterarm tragen müssen.10 Der Gefangene wollte seinen alten Pullover behalten. Vielleicht hat er ihn für seine Identität und Wertigkeit innerhalb der Gefangenengemeinschaft, obwohl er sie mied, benötigt. Gleichsam ein Zeichen dafür, dass er etwas Besonderes ist, oder auch ein Symbol der Abgrenzung gegenüber anderen Menschen. Lasst mir meine Ruhe, wollte er möglicherweise damit sagen.

In einer der Therapiestunden sprach der Psychologe lächelnd den Gefangenen an und fragte ihn, ob er auch etwas zum Besprechungsthema sagen möchte. Der Therapeut rechnete wohl schon damit, dass der Gefangene sich nicht äußern würde. Der Psychologe beabsichtigte offenbar ausschließlich, dass der Inhaftierte erführe, dass er noch wahrgenommen wurde und zu der Gruppe gehörte. Der Gefangene murmelte hierauf mit einem scheuen Lächeln etwas Unverständliches, machte eine abwehrende Handbewegung und brachte so zum Ausdruck, dass er lieber in der Zuhörerrolle bleiben wollte.

Als ich dem Gefangenen 1989 begegnete, hatte der 1962 Festgenommene bereits 27 Jahre seiner lebenslangen Freiheitsstrafe verbüßt und sollte, da er nicht mehr als gefährlich galt, auf die Entlassung vorbereitet werden. Der nächste Schritt war kurze Zeit später die Verlegung in den offenen Vollzug. Von dort aus flüchtete er während seiner Tätigkeit in der Anstaltsgärtnerei, wo die Gefangenen, die als Freigänger erprobt werden, nur stichprobenweise kontrolliert werden. Er gelangte in die Gegend südlich von Koblenz, die er sehr gut kannte. Ein Bahnpolizist, der in seiner Freizeit mit seinem Hund unterwegs war, fand den Gefangenen in einem Schuppen. Der Flüchtige nannte ihm bereitwillig seinen Namen. Der passiv und ausgehungert wirkende Mann ließ sich widerstandslos festnehmen und folgte ihm. In der Anstalt hatte man den Eindruck, dass er froh war, wieder in seine gewohnte Umgebung zurückgekehrt zu sein. Warum er flüchtete, vermochte er nicht zu erklären. Möglicherweise eine Kurzschlusshandlung, weil er nach der langen Zeit hinter Mauern endlich in die Freiheit wollte.

Am 27. September 1993 wurde er nach 31 Haftjahren bedingt entlassen und zog in eine Betreuungseinrichtung für ehemalige Strafgefangene. Bereits am ersten Tag suchte er das Weite. Man hörte niemals wieder etwas von ihm. Sein ehemaliger Vollzugsabteilungsleiter, der ihn aus den Jahren im geschlossenen Vollzug sehr gut kannte, vertrat die Meinung, es sei ein Fehler gewesen, ihn in dieser Einrichtung in einem Doppelzimmer unterzubringen.11 Dies habe der Einzelgänger, der im Gefängnis stets allein in einer Zelle untergebracht gewesen sei, nicht aushalten können. Vielleicht versuche er irgendwo in einem abgelegenen Gebiet, eventuell im Wald, in einem Unterschlupf zu leben. Irgendwann werde man wohl seine Leiche finden, befürchtete der Mitarbeiter.

Die Situation der beiden beschriebenen Gefangenen machte mich sehr nachdenklich. Ich fragte mich, ob ich in einem Arbeitsfeld tätig sein wollte, in dem ich so häufig ein Scheitern erleben würde. Doch wich diese Befürchtung bald, nachdem ich in den kommenden Monaten der Ausbildungszeit erfahren durfte, dass sich viele Gefangene der Therapiegruppe positiv entwickelten. Sie wurden später im Freigängerhaus erprobt und nach dem erfolgreichen Verlauf der Testphase vom Gericht – der Diezer Strafvollstreckungskammer – bedingt entlassen.

So nahm ich bereits als Referendar einerseits die Situation einiger perspektivloser Gefangenen wahr, andererseits aber auch, dass ein erheblicher Teil der Gefangenen im Strafvollzug nachgereift war oder jedenfalls gelernt hatte, mit seinen Defiziten umzugehen und sich zu kontrollieren. Menschen können sich verändern. Manchmal gibt es erstaunliche, positive Entwicklungen.

Mein Eindruck war, dass sich Resozialisierungsbemühungen lohnen. Dafür stand auch der damalige Anstaltsleiter Dr. Dieter Bandell, der für eine rekordverdächtig lange Zeit, nämlich von 1970 bis 2001, der JVA Diez vorstand und bereits in jungen Jahren seine Laufbahn als Richter zugunsten des Justizvollzugs aufgegeben hatte. Während seines gesamten Berufslebens und sogar nach seinem Ruhestand wohnte er in einer Dienstwohnung in Reichweite der Anstalt und konnte während seiner Freizeit auf die wuchtigen Gebäude des Gefängnisses, dessen Mauern und Stacheldraht blicken. Dr. Bandell war ein eher kleinerer Mann mit schwarzen welligen Haaren. Sein Gesicht zierte viele Jahre ein kleiner sorgfältig geschnittener Oberlippenbart. Er sprach mit einer kraftvollen Stimme und verkörperte einen väterlichen selbstbewussten Vorgesetzten alter Schule. Zumeist im Anzug, einem hellen Hemd und Krawatte gewandet, thronte er in dem ausladenden Anstaltsleiterbüro auf einem Lederchefsessel, dessen Rückenlehne ihn ein wenig überragte. Die Krawatten zeichneten sich oft durch ein farbenfrohes, modernes Design aus. Hierfür stand seine Frau Sigrid, die eine künstlerische Vorbildung besaß und ihren Ehemann bei seiner Tätigkeit sehr unterstützte. Sie war jahrzehntelang in der Anstalt als ehrenamtliche Vollzugshelferin tätig und leitete mit einer weiteren Dame eine Gesprächsgruppe für Gefangene. Ich habe sie als kluge und sehr freundliche Frau in Erinnerung. Sie erklärte ihr Engagement für die Gefangenen einmal mit folgender Äußerung: „Die Gefangenen sind meine Nachbarn. Um seine Nachbarn muss man sich kümmern.“

Ich erlebte Dieter Bandell, der im Alter von nahezu 80 Jahren 2016 verstarb, als sehr gütigen Menschen mit einem großen Herzen für die Gefangenen. Dies galt auch für den Umgang mit seinen Mitarbeitern. Wenn es notwendig war, griff er zwar durch, konnte aber auch über Fehler und Versäumnisse hinwegsehen, da er stets den gesamten Menschen sah und nicht einen schlechten Tag zum Maßstab machte. Dieter Bandell war Mitbegründer der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter und jahrelang deren Vorsitzender. Auch in der Kommunalpolitik engagierte er sich. Ihm wurde das Bundesverdienstkreuz insbesondere für sein Engagement im Strafvollzug verliehen. Nachdem er sein Amt als Anstaltsleiter Anfang der 70er-Jahre angetreten hatte, krempelte er das Diezer Gefängnis mutig um. Innerhalb der Anstalt ermöglichte er den Inhaftierten mehr Freiheit und wirkte vor allem darauf hin, dass die Bediensteten den eher militärisch geprägten und distanzierten Umgangsstil der frühen Nachkriegszeit aufgaben und den Gefangenen als Ansprechpartner auf Augenhöhe und offener begegneten.

Dieter Bandell nahm sich während meiner Diezer Ausbildungsstation Zeit für Gespräche mit mir und hat mich auch motiviert, mich für eine Stelle im Strafvollzug zu bewerben. Viele Äußerungen dieser beeindruckenden Persönlichkeit sind mir in Erinnerung geblieben und werden in den folgenden Texten auch Erwähnung finden.

Dennoch zögerte ich noch, bevor ich meine Bewerbung abgab. Ich stellte mir die Frage, ob man sich als Mitarbeiter im Strafvollzug verändert? Wird man möglicherweise misstrauischer und pessimistischer? Davor hatte ich ein wenig Angst.

Ein älterer Kollege behauptete, wir würden den Gefangenen im Laufe der Zeit immer ähnlicher. Er meinte damit wohl, dass sich unsere Persönlichkeit im Laufe unseres Gefängnisberufslebens nachteilig verändern könne, da wir tagtäglich mit Tätern, deren Verbrechen und gescheiterten Leben zu tun hätten. „Wenn du zu lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“, sagte Nietzsche. Dagegen war ich überzeugt, dass eine solche Gefahr allenfalls droht, wenn man bei den Gefangenen ausschließlich die Abgründe wahrnimmt. Ich nahm mir vor, mich auf das Positive, das Erreichbare zu konzentrieren.

Alles in allem hatte ich während der Referendarzeit einen realistischen Eindruck von meinem späteren Arbeitsgebiet erhalten. Die Aufgaben des Justizvollzuges erschienen mir spannend, reizvoll und – so hoffte ich – erfüllend. Ein Lebenssinn gebender Beruf. Diese Erwartung hat sich in den mehr als drei Jahrzehnten hinter Mauern erfüllt.

Damit, dass der Strafvollzug in der öffentlichen Wahrnehmung nicht immer die gebotene Wertschätzung erfährt, muss man als Mitarbeiter leben. Ein ehemaliger Anstaltsleiter, den ich persönlich nicht mehr kennengelernt habe, soll des Öfteren gesagt haben: „Der Strafvollzug ist der Pickel am A… der Justiz.“ Sicherlich ist diese derbe Formulierung übertrieben, besitzt aber einen wahren Kern. Zu wenige Staatsanwälte und Richter interessieren sich für den Ort, an dem die von ihnen verurteilten Menschen verbleiben müssen, um eine Strafe zu verbüßen. Nur einmal habe ich es erlebt, dass Richter den Wunsch hatten, tiefer in die Niederungen der Justiz hinunterzusteigen. Mehrere Richter und eine Richterin des Oberlandesgerichts Koblenz verbrachten einen Tag in der Justizvollzugsanstalt und begleiteten einen Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes im Dienst. Die Vertreter der Gerichtsbarkeit waren für Strafvollzugs- und Strafvollstreckungsangelegenheiten in der zweiten Instanz beim Oberlandesgericht Koblenz zuständig, wozu unter anderem Entscheidungen über die bedingte Entlassung gehören. Die Richterin begegnete bei ihrem Besuch einem Sicherungsverwahrten, den sie selbst als Mitglied einer großen Strafkammer zu einer langjährigen Freiheitsstrafe und der Maßregel der Sicherungsverwahrung verurteilt hatte. Der Mann hatte sie im sogenannten E-Flügel angesprochen, dem erst 1974 erbauten vierten Hafthausabschnitt, wo die Gefangenen bereits auf das Freigängerhaus vorbereitet werden. Im E-Flügel, bei dem anders als in den drei älteren Gebäudeteilen die Stockwerke voneinander abgetrennt sind, leben Inhaftierte, von denen viele eine positive Entwicklung genommen haben. Die Haftraumtüren in den wohngruppenartigen Bereichen stehen dort, anders als in den drei älteren Gebäudetrakten des geschlossenen Vollzuges, tagsüber zumeist offen. Der Sicherungsverwahrte sprach die Richterin freundlich an, die ihn auch unmittelbar erkannte. Er teilte ihr mit, dass er lange Zeit mit der Verurteilung gehadert, aber im Laufe der Zeit eingesehen habe, dass es ohne die harte Reaktion nie zu einer Veränderung bei ihm gekommen wäre. Der Gefangene wurde einige Monate später in den offenen Vollzug verlegt und konnte nach einer intensiven Zeit der Vorbereitung auf die Freiheit bedingt entlassen werden.

Kapitel 3: Menschliche Nähe, Beziehungen hinter Mauern und unüberwachte Partnerbesuche

„Ich begrüße die Gefangenen immer mit Handschlag“, sagte mir ein Anstaltsseelsorger. Die Gefangenen erleben dies als Zeichen des Respekts. Wenn ich einem Menschen die Hand gebe, berühre ich ihn. Körperlich und, gerade wenn dies die einzige Form der Berührung ist, auch emotional.

Wenn ich ein Gespräch mit Gefangenen zum Beispiel in der Sprechstunde führte, habe ich ihnen auch sehr häufig die Hand zur Begrüßung gegeben. Allerdings habe ich dies von der Situation abhängig gemacht. Man spürt, wann es passt und wann nicht.

Es gibt Gefangenengruppen, bei denen es als ehrenrührig gilt, Bedienstete per Handschlag zu begrüßen, vor allem wenn Mitgefangene dies beobachten können. Bei den Russlanddeutschen, einer Gruppe, in der ein ausgeprägter subkultureller Anpassungsdruck besteht, habe ich dies erlebt. In der JVA Rohrbach findet in den Sommermonaten parallel zur Europa- oder Weltmeisterschaft ein bei den Gefangenen sehr beliebtes Fußballkleinfeldturnier statt. Zwei Mitarbeiter des allgemeinen Vollzugsdienstes, die Sportbeamten, wie sie gemeinhin genannt werden, organisieren mit viel Herzblut dieses Gefängnis-Highlight. Jede Station der Vollzugsabteilungen, die jeweils mit ca. 22 Gefangenen besetzt ist, stellt ein Team und repräsentiert eine der Nationen, die an der jeweiligen EM oder WM teilnehmen. Das kleine Außenfußballfeld ist von einem Ballfangzaun umgeben, an dem die Flaggen der Teilnehmerländer angebracht sind. Ein buntes schönes Bild. Nach dem Endspiel findet eine kleine Feier in der Sporthalle statt. Meine Aufgabe war es, den Teams die Pokale und Medaillen zu überreichen. Den Gefangenen habe ich per Handschlag gratuliert. Ich war zugegebenermaßen irritiert, als einer der Sportler mir den Handschlag verweigerte. Er befolgte die ungeschriebenen Regeln der inhaftierten Russlanddeutschen, zu denen er gehörte. Distanz gegenüber den Beamten ist eines der Gebote. Unter vier Augen sprach ich ihn am Ende der Abschlussfeier auf sein unhöfliches Verhalten an. Er antwortete kurz, er dürfe das nicht. Realität hinter Mauern, die ich so stehen lassen musste.

Körperlicher Kontakt zu Bezugspersonen wie vor allem Familienangehörigen ist in den großen Besucherräumen der rheinland-pfälzischen Justizvollzugseinrichtungen zumeist nur bei der Begrüßung und Verabschiedung erlaubt. Gefangene und Besucher sitzen sich in den großen Räumen getrennt voneinander gegenüber. In der Mitte der Tische befindet sich eine 30 Zentimeter hohe durchsichtige Scheibe.

Die despektierlich von manchen Medien als Liebeszellen bezeichneten Partnerbesuchsräume, in denen ein unüberwachter Besuch stattfindet, gibt es in Rheinland-Pfalz in der JVA Diez, wo langjährige Freiheitsstrafen vollzogen werden. Außenstehende verbinden diese Besuchsräume ausschließlich mit Sexualität. Hier geht bei manchem Bürger, Politiker und auch Medienvertreter die Fantasie durch. Die ablehnende Skepsis der Kritiker beruht offenbar auf deren Grundeinstellung zu den Aufgaben des Strafvollzuges, dem man nur sehr eingeschränkt zutraut, Menschen zu resozialisieren. Vielmehr wird der Strafzweck der Vergeltung und des Schuldausgleichs in den Mittelpunkt gestellt. Die vermeintlichen „Liebeszellen“ seien damit nicht vereinbar, sondern sichtbarer Ausdruck eines allzu laschen Kuschelvollzuges.

Es ist lebensfremd anzunehmen, dieser Besuch diene überwiegend dem sexuellen Kontakt. Die Gefangenen, die diese Besuchsform nutzen, wollen oftmals nur eine Zeit lang mit ihrer Partnerin allein zusammen sein, ohne dass ihnen jemand zuschaut oder zuhört. Welchen Anteil die Sexualität hat, die zu einer Partnerbeziehung gehört, mag offenbleiben. Nicht wenige Partnerinnen weigern sich zudem, die inhaftierten Männer im Ehepartnerbesuchsraum zu besuchen, da sie sich vorkommen wie Prostituierte, die einem Freier zugeführt werden.

Diese Besuchsform soll dazu beitragen, dass bereits vor der Inhaftierung bestehende tragfähige Beziehungen aufrechterhalten werden können. Bei diesen Kontakten können leicht Drogen eingebracht werden, die zuvor in den Körperöffnungen versteckt wurden. Zu den unüberwachten Besuchen werden daher ausschließlich Gefangene zugelassen, bei denen keine Sicherheitsbedenken wie beispielsweise eine Drogenabhängigkeit bestehen. Weitere Voraussetzungen sind, dass der Häftling eine stabile Persönlichkeit besitzt und keine Kontakte zur Gefangenensubkultur pflegt. Auch ist bei einem Gefangenen, der sich am unteren Ende der Knasthierarchie befindet, vorsichtig zu verfahren, da er eher unter Druck dazu veranlasst werden kann, Drogen für andere einzuschmuggeln, selbst wenn er selbst kein Konsument ist.

Nicht nur wie bislang bei den Inhaftierten mit langen Freiheitsstrafen, sondern auch bei Gefangenen mit kürzeren oder mittleren Freiheitsstrafen, sollten unüberwachte Partnerbesuche ermöglicht werden, sofern die Beziehung bereits vor der Inhaftierung bestand. Es sollten vermehrt Freiräume geschaffen werden, innerhalb derer eine Beziehung, zu der auch der sexuelle Kontakt gehört, gelebt werden kann. Eine normal gelebte Beziehung begünstigt die Resozialisierung der Gefangenen. Da die Mehrzahl der Gefangenen eine Freiheitsstrafe bis maximal ein Jahr verbüßt, überdauern vor der Haft bestehende Partnerbeziehungen noch die Monate der Abwesenheit. Diese Beziehungen verdienen es, Unterstützung zu erfahren.

Dagegen ist sehr zurückhaltend bei Partnerbeziehungen zu verfahren, die erst während der Haft entstehen. Insbesondere männliche Gefangene mit langen Freiheitsstrafen begründen Brieffreundschaften zu zumeist in Freiheit lebenden Frauen. Deren Motive sind vielschichtig und nicht selten kritisch zu sehen. Zum Teil liegt bei den Frauen ein Helfersyndrom vor, zum Teil sind es einsame Menschen, die einen Partner suchen. Der Gefangene ist dagegen ein Mann, der nicht weglaufen kann. Einzelne klammern sich an die Inhaftierten, die sie oft in der Anfangszeit des Kontaktes mit sensiblen Liebesbriefen zu beeindrucken verstehen, aber dabei von sich ein Bild vermitteln, das nicht der Realität entspricht. Manchmal hilft auch ein talentierter Mitgefangener beim Verfassen der Schreiben. Es schließen sich Besuchskontakte an und im Einzelfall wird sogar eine Ehe geschlossen. Eine Ehe, die naturgemäß weit entfernt vom Lebensalltag ist und sich von Hoffnungen und Wünschen nährt. Nicht selten werden manche der mitunter naiv erscheinenden Partnerinnen ausgenutzt und für den eigenen Vorteil missbraucht.

Ein Mitarbeiter des Ministeriums hatte noch eine weitere Erklärung für das Interesse an Beziehungen zu Gefangenen parat. Sinngemäß äußerte er mit leicht frustriertem Gesichtsausdruck Folgendes: „Die Knackis haben doch ein spannendes Leben im Vergleich zu unserem langweiligen Beamtendasein. Kein Wunder, dass dies manche Damen interessant finden. Um wie viel langweiliger ist mein Lebensrhythmus. Ich bin täglich etwa zehn Stunden außer Haus, esse zumeist dreimal täglich, abends bin ich an Arbeitstagen zumeist müde, schaue noch ein wenig Fernsehen, schlafe meistens beim Programm ein und gehe dann schlafen.“ Ich hätte antworten können: „Im Gefängnis kann ich nicht über Langeweile klagen.“ Eine solche Rückmeldung habe ich mir allerdings verkniffen, um keine Neidgefühle aufkommen zu lassen.

Manchmal scheinen in Justizvollzugsanstalten wie der JVA Rohrbach, wo Männer und Frauen untergebracht sind, Gefangene zueinandergefunden zu haben. Doch handelt es sich eher um eine von irrealen Hoffnungen genährte flüchtige Beziehung zwischen zwei Gestrauchelten, die hoffen, einander Halt zu geben. Dies ist kaum eine Basis für eine tragfähige Partnerschaft. Die Erwartungen an den anderen sind in der unwirklichen Umgebung einer vergitterten, abgeschiedenen Welt übermäßig hoch und an Äußerlichkeiten wie Aussehen oder einem witzigen Spruch bei einer zufälligen kurzen Begegnung auf dem Gefängnisflur geknüpft.

Für manche Insassen der JVA Diez waren die Vermögensverhältnisse der Damen, für die sie sich interessierten, nicht unwichtig, wie ich bereits während meiner Referendarzeit erfahren hatte. Ich erinnere mich noch an einen Gefangenen, der wegen unzähliger Vermögensdelikte zum wiederholten Mal hinter schwedische Gardinen kam. Mit einem gewissen Stolz berichtete er mir, er gelange nach der bald anstehenden Entlassung in sehr geordnete Verhältnisse. Er zeigte mir ein Foto seiner Brieffreundin, die ihn kürzlich besucht habe. Die Dame sei eine gut verdienende „höhere“ Beamtin, habe sich in ihn verliebt und wolle ihn heiraten. Auf dem Foto war eine gepflegt wirkende Endfünfzigerin mit einer etwas langweiligen Frisur und einem bemühtem Lächeln zu sehen.

In der Dienst- und Vollzugsordnung vom 1.12.1961 (Fassung vom 1.5.1971), der Vorläuferin des erst ab dem 1.1.1977 geltenden Strafvollzugsgesetzes, gab es mit Nr. 149 eine Vorschrift, die verhindern sollte, dass Gefangene bereits in einem frühen Haftstadium auf dem Heiratsmarkt aktiv werden:12

„Heiratsinserate

Unverheiratete erwachsene Gefangene dürfen innerhalb des letzten Jahres vor der voraussichtlichen Entlassung Heiratsinserate aufgeben und beantworten. Der Anstaltsleiter kann dies auch schon früher gestatten.“

Im Strafvollzug wird den Inhaftierten außerhalb der unüberwachten Besuche die partnerschaftliche Sexualität entzogen. Auch dies ist mit einer Freiheitsstrafe verbunden.

Während meiner Zeit als Rechtsreferendar in der JVA Diez 1989 bezeichnete ein Lebenslanger seine Sexualität derb als Einhandbetrieb. Sexualität in Form der Selbstbefriedigung, bei der es das Gegenüber ausschließlich in der Vorstellung gibt. Dies entspricht durchaus der Realität der Gefangenen in den Einrichtungen des geschlossenen Vollzuges.13

Einzelne, eigentlich heterosexuell orientierte Inhaftierte haben homosexuelle Kontakte als Ersatzbefriedigung während der Haftzeit. Homosexuelle männliche Gefangene verstecken ihre sexuelle Orientierung zumeist, um nicht von Mitgefangenen abgelehnt zu werden. Insbesondere von Gefangenen mit Migrationshintergrund werden sie verachtet. Gleichgeschlechtliche echte Freundschaften gibt es selten. Sexuelle Kontakte mit gleichgeschlechtlichen orientierten Mitgefangenen sind ausschließlich möglich, wenn die Inhaftierten Situationen nutzen können, in denen sie unbeobachtet sind. Inwieweit hierfür die Gelegenheit besteht, hängt von den baulichen und organisatorischen Bedingungen der einzelnen Anstalten ab. In Einrichtungen, wo sich die Gefangenen ausschließlich in Freizeiträumen treffen können, sind sexuelle Begegnungen weniger wahrscheinlich, sofern nicht irgendwelche Überwachungslücken ausgenutzt werden. Können sich die Gefangenen auch in den Hafträumen treffen, sieht dies anders aus.

Homosexuelle Frauen gehen im Vergleich zu männlichen Gefangenen zumeist offener mit ihrer Sexualität um. In der JVA Rohrbach gab es nicht selten Konflikte zwischen den Frauen, manchmal auch mehr oder weniger große Eifersuchtsdramen.

In der JVA Diez begegnete ich einem Gefangenen, der für Reinigungsarbeiten eingesetzt wurde. Ein unauffälliger Mann, den man leicht übersehen hat. Der Gefangene verbüßte eine längere Freiheitsstrafstrafe. In den 50er-Jahren hatte er eine erste Freiheitsstrafe von drei Monaten wegen einer sexuellen Beziehung zu einem erwachsenen Mann erhalten. § 175 StGB, der endgültig erst 1994 gestrichen wurde, ermöglichte bis 1969 noch Verurteilungen wegen sexueller Beziehungen zwischen erwachsenen Männern. Erst 2017 wurden die Verurteilten rehabilitiert und die Urteile aufgehoben. Möglicherweise hat das Urteil eines Nachkriegsrichters, der bereits wie die meisten Strafrechtler in der NS-Zeit eine traurige Stütze des Terrorregimes war, in dem homosexuelle Menschen wie Abschaum behandelt und viele in Konzentrationslagern ermordet wurden, den Gefangenen aus der Bahn geworfen. Der im Gefängnis alt gewordene Mann wurde schließlich aus der JVA Diez entlassen, doch hörte ich bereits wenige Monate danach wieder etwas von ihm. Er hatte eine Bank überfallen, indem er zu Fuß zu dem Geldinstitut ging und mit einer Spielzeugpistole bewaffnet die Herausgabe eines größeren Geldbetrages einforderte. Wenige Minuten nach der laienhaft durchgeführten Straftat wurde er festgenommen. Ich bin mir sicher, dass es ihm nicht um den Geldbetrag ging, sondern dass er in erster Linie wieder in den Strafvollzug zurückwollte, der seine Heimat geworden war.

Es ist eine traurige Realität, dass sexuelle Bedürfnisse im Strafvollzug auch unter Anwendung von Gewalt oder Erpressung befriedigt werden. Diese Delikte sind schwer aufklärbar. Nur selten gibt es Hinweise. Hier muss man von einer Dunkelziffer ausgehen. Mir sind wenige Fälle bekannt, wo Gefangene, die zu sexuellen Handlungen gezwungen worden waren, überführt und verurteilt werden konnten. Nachgewiesen werden konnte zum Beispiel ein Fall, in dem ein Inhaftierter unter Einsatz eines Besenstiels vergewaltigt wurde. Hier ging es überwiegend um die Bestrafung und Demütigung des Opfers.

Manche Bürger, die den Strafvollzug als nicht abschreckend genug betrachten, vertreten offenbar die Auffassung, dass zu einer Strafe auch der Entzug jeglicher Sexualität gehöre. So zeigte sich ein Kommunalpolitiker irritiert darüber, dass Gefangene einen Sender schauen durften, der sich tagsüber überwiegend mit Sport beschäftigte und in den späten Stunden – nicht pornographische – Sexfilmchen zeigte. Bevor dieses nächtliche Unterhaltungsprogramm den Gefangenen zur Verfügung stand, machte ein Mitarbeiter der JVA Koblenz die Erfahrung, wie findig Gefangenen sein können, wenn es darum ging, menschlichen Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Während des Nachtdienstes, einer Zeit, in der die Anstalt nur sehr knapp mit Personal besetzt ist, machte der Bedienstete einen Rundgang durch die JVA Koblenz und bemerkte etwa gegen 23.00 Uhr, dass die Geräuschkulisse im Hafthaus etwas anders war als sonst. Es war ungewöhnlich ruhig. Der aufmerksame Mitarbeiter, der tagsüber in der Sicherheitsabteilung tätig war, hatte angesichts der ungewöhnlichen Stille, die nahezu an klösterliche Verhältnisse erinnerte, eine plötzliche Eingebung. Er legte sein Ohr an eine Haftraumtür und vernahm Stöhngeräusche, die vom Lautsprecher des Fernsehgerätes abgesondert wurden. Daraufhin öffnete er, so leise es nur ging, die kleine sogenannte Kostklappe, die sich in den Haftraumtüren befindet. Er kippte sie vorsichtig ein Stück zu sich und hatte unmittelbar die Erklärung für die besondere Atmosphäre in dieser Nacht. Dafür hatte der Gefangene gesorgt, der für das Einspeisen von Videofilmen in die Fernsehanlage der Anstalt zuständig war. Der Inhaftierte hatte die Aufgabe, den Gefangenen neben den Fernsehprogrammen, die den Gefangenen über die kleinen Mietfernsehgeräte zugänglich waren, den ein oder anderen Film oder auch dokumentarischen Beitrag zukommen zu lassen. Für die Aufnahmen nutzte er damals gebrauchte Videokassetten, die der Anstalt zumeist als Spenden zugewendet worden waren. Es sollen auch Kassetten dabei gewesen ein, die von Polizeibehörden beschlagnahmt worden waren und nicht mehr als Beweismittel gebraucht wurden. Üblicherweise handelte es sich um gelöschte Videokassetten, es gab aber offensichtlich aus Versehen Ausnahmen. Unser Filmvorführer entdeckte einen noch nicht gelöschten Pornofilm, der glücklicherweise keine strafrechtliche Relevanz besaß. Er informierte einige Mitgefangenen im Hafthaus, die die Nachricht in Windeseile verbreiteten, so dass die meisten Häftlinge mit großem Interesse und Konzentration den seichten Streifen mit den mehr oder weniger stöhnenden Hauptdarstellern anschauten.

Kapitel 4: Die Anstaltsleitersprechstunde, Beschwerdeschreiber, krumme Füße und eine untergeschobene Feile

Ein Strafgefangener, der eine lebenslange Freiheitsstrafe vor sich hatte, verfasste unzählige Beschwerdeschreiben und Rechtsbehelfe an das Justizministerium, den Bürgerbeauftragten und das Gericht. Er beschwerte sich zum Beispiel häufig über das Anstaltsessen. Eine Formulierung ist mir noch gut in Erinnerung. Es gab an einem Tag das recht beliebte Gericht Schinkennudeln. Der Gefangene behauptete, es habe sich um „übel verbratenen Speck“ gehandelt. Außerdem gab er an, er sei nicht in der Lage, einer Arbeit in der Anstalt nachzugehen, da man ihm orthopädisches Schuhwerk verweigere, das er unbedingt benötige.

Der Häftling wurde von den Bediensteten als notorischer Beschwerdeschreiber betrachtet, mit dem man nicht reden könne. Einer, der seine Wut auf sich selbst und sein gescheitertes Leben auf seine Umwelt ablade. Ich wollte mir selbst einen Eindruck von dem Mann verschaffen und bat den Gefangenen zu einem persönlichen Gespräch. Die Fronten zwischen ihm und der Anstalt waren offenbar verhärtet. In der Hoffnung, den Gefangenen bei einem persönlichen Kontakt erreichen zu können, erkundigte ich mich zuvor bei dem Sanitätsdienstleiter, ob an der Behauptung, dass der Beschwerdeführer geeignete Arbeitsschuhe benötige, etwas dran sei. Der Mitarbeiter verneinte dies. Der Gefangene sei wegen dieses Themas bereits beim Anstaltsarzt gewesen. Ich hatte das Gefühl, bei dem Gespräch mit dem Gefangenen auf das Thema Arbeit und Arbeitsschuhe näher eingehen zu müssen. Erfahrungsgemäß reduziert sich die Frequenz der Eingaben erheblich, wenn der Autor ausgelastet ist. Eine regelmäßige tägliche Beschäftigung in den Anstaltsbetrieben tut das Ihre hierzu. Bei dem Gefangenen handelte es sich um einen sehr großen und stämmigen Mann im Alter von ungefähr 40 Jahren, der wegen eines Raubmordes verurteilt worden war. Er zeigte sich recht wortkarg und besaß stets eine ernste angespannte Miene. Sein Gesicht war von einem dichten Bart verhüllt.

Ich fragte den Häftling, der mich erwartungsvoll und zugleich skeptisch anschaute, ob er an einer Arbeit bzw. Beschäftigung interessiert sei. Meistens möchten die Gefangenen arbeiten, damit sie aus der Zelle herauskommen, Kontakt zu anderen Gefangenen und eine sinnvolle Tagesstruktur haben. Zudem können sie sich ein regelmäßiges, wenn auch überschaubares Einkommen erarbeiten. Ein eher kleinerer Teil – etwa ein Viertel – der Gefangenen möchte nicht arbeiten. Manche sind aus psychischen oder körperlichen Gründen auch nicht dazu in der Lage.

Meine Frage nach der Arbeitsmotivation bejahte der Gefangene, sodass sich zwangsläufig meine nächste Frage anschloss, was denn bislang die Hinderungsgründe gewesen seien. Der Häftling erklärte, er benötige orthopädische Schuhe. Daraufhin fragte ich ihn, welches medizinische Problem er denn habe. Der Gefangene antwortete, seine Zehen seien verkrümmt. Ich bat den vor mir sitzenden Gefangenen, er möge mir doch einmal seine Füße zeigen. Er schaute sehr überrascht auf, um sich dann etwas zögerlich seiner Schuhe und Strümpfe zu entledigen. Mein laienhafter Blick auf die Füße des Mannes erbrachte keine neuen Erkenntnisse. Der Gefangene nahm dies offenbar wahr und führte ergänzend aus, dass man die Fehlbildung nicht sehen könne, solange er sitze. Ich bat ihn sodann, er möge sich stellen. Stehend veränderte sich automatisch die Haltung einiger Fußzehen, die sich krallenartig nach oben krümmten. Man nennt diese Fehlstellung passend Krallenzehe. Diese Vorführung überzeugte mich. Ich sagte dem Gefangenen zu, er erhalte alsbald orthopädisches Schuhwerk. Der Mann wurde dem Anstaltswirtschaftsbetrieb zugeteilt, der unter anderem für die Reinigung und Pflege des Gefängnisgeländes sowie die Abfallentsorgung zuständig war. Er verfasste seit dem ersten Arbeitstag keinerlei Beschwerden und Eingaben mehr.

Ein Anstaltsleiter aus Nordrhein-Westfalen äußerte einmal zur Kommunikation mit Gefangenen: „Wer schreibt, der will auch reden.“ Bei dem Lebenslangen mit den schiefen Fußzehen traf es jedenfalls zu.

Die meisten Inhaftierten lernte ich im Lauf der Zeit bei verschiedenen Anlässen persönlich kennen. Einen ersten Kontakt mit allen Gefangenen hatte ich in Diez im sogenannten Zugangsgespräch, das ich mit jedem neu in die Anstalt gekommenen Gefangenen führte. Damit wollte ich mir einen groben ersten Eindruck über den Menschen verschaffen, der nun über viele Jahre hier verbleiben musste. Außerdem wollte ich dem Gefangenen signalisieren, dass ich für seine Anliegen auch persönlich ansprechbar war. Da wöchentlich drei bis maximal fünf Gefangene in der JVA Diez aufgenommen wurden, war es mir anders als in den Einrichtungen für kürzere Freiheitsstrafen zeitlich möglich, die Zugangsgespräche zu führen, die eine wichtige Informationsquelle für mich waren. So kannte ich viele Diezer Gefangene.

Weitere Begegnungen mit Gefangenen hatte ich in der Anstaltsleitersprechstunde, die ich den Gefangenen vor allem regelmäßig in meiner Diezer Zeit angeboten hatte. Mein verdienter Vorgänger Dieter Bandell hatte mir empfohlen, die Anstaltsleitersprechstunde persönlich durchzuführen und möglichst nicht zu delegieren. Er sagte zu mir, er halte diese Sprechstunde für ungemein wichtig, da man hierdurch ein Gespür für die in der JVA herrschende Atmosphäre erhalte und bisweilen auch Schwachstellen wahrnehme, die man vom Schreibtisch unmittelbar nicht erkennen könne.

Zwischen Behördenleiter und Gefangenen gibt es in der Hierarchie der Einrichtung viele Zwischenstufen, wo manches hängen bleibt, was besser frühzeitig zum Anstaltsleiter gelangen sollte. Leitet man ein Gefängnis vom grünen Tisch aus, schafft man einen Nährboden für Betriebsblindheit. Ein Gefängnisdirektor muss seinen Laden kennen. Auch dem dient die Anstaltsleitersprechstunde. Im skandinavischen Raum machte eine Untersuchungskommission nach mehreren Geiselnahmen die Beobachtung, dass in Einrichtungen, wo die Gefangenen keinen persönlichen Zugang zum Anstaltsleiter hatten, häufiger solche Vorfälle vorkamen.14

§ 101 Absatz 1 des rheinland-pfälzischen Landesstrafvollzugsgesetzes sieht sogar ein Recht des Gefangenen vor, sich in eigenen Angelegenheiten an den Anstaltsleiter zu wenden. In der Gesetzesbegründung hierzu wird argumentiert, es handele sich um eine rechtlich garantierte Möglichkeit der Gefangenen, im Gespräch mit dem Anstaltsleiter oder der Anstaltsleiterin Problem- und Konfliktlösungen zu erreichen. Der Gefangene könne im Gespräch auch Wünsche äußern oder Schwierigkeiten mitteilen.15 Der Leiter ist zwar befugt, das Gespräch zu delegieren. Von dieser Möglichkeit habe ich aber erst in meinen letzten Berufsjahren in der JVA Rohrbach Gebrauch gemacht. In der JVA Diez hätte ich dies bei dem besonders schwierigen Gefangenenklientel nicht getan. Trotz des hohen zeitlichen Aufwandes von wöchentlich ca. einem Arbeitstag bei durchschnittlich 6 bis 8 Gesprächen einschließlich Vor- und Nachbereitung habe ich hierauf nicht verzichtet. Insbesondere in einer Einrichtung, in der langjährige Freiheitsstrafen vollzogen werden, sollten die Inhaftierten das Gefühl haben, dass es bei Problemen eine persönlich erreichbare oberste Instanz gibt, die Angelegenheiten abschließend entscheiden bzw. regeln und bei individuellen Notlagen helfen kann. Für manche Gefangenen nimmt man sogar eine Vaterrolle ein. Oft ist Zuhören das Wichtigste. Zuhören bedeutet Ernstnehmen und Respekt. Das Wissen, dass es mit dem Anstaltsleiter eine Instanz gibt, die die Hand über alles hält, hat für viele Gefangene etwas Beruhigendes.

Ein Anstaltsleiter darf jedoch seine Mitarbeiter nicht entmündigen, indem er alles besser weiß und deren Entscheidungen korrigiert. Doch kann er eine Vermittlerrolle einnehmen oder einen Anstoß geben.

Von wenigen Ausnahmefällen abgesehen führte ich die Gespräche zumeist alleine. Dies hatte den Vorteil, dass die Gefangenen sich eher trauten, offen zu sprechen, sofern sie im Gespräch mit mir den Eindruck hatten, dies habe keine Nachwirkungen. Ich nutzte in der Diezer Anstalt für die Sprechstunde zumeist ein kleines karges Räumchen in der Nähe des eigentlichen Hafthauses. Gelegentlich kam es vor, dass ein Inhaftierter nach der Sprechstunde gegenüber Mitgefangenen oder Bediensteten tönte, er habe mir jetzt aber einmal die Meinung gesagt. Mit dieser Angeberei konnte ich leben. Bisweilen behaupteten Gefangene auch, ich hätte irgendwelche Zusagen über Vollzugslockerungen gemacht. Wenn nötig, holte ich den Gefangenen für ein weiteres Gespräch, um für Klarstellung zu sorgen.

Eine kleine Anzahl der Gefangenen zeigte jedoch wenig Interesse an Gesprächen mit der Anstaltsleitung und zog schriftliche Aktivitäten vor. Hierbei ragten Gefangene mit Aggressionsdelikten wie Totschlag oder Mord heraus. Kam bei einzelnen Inhaftierten noch eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung mit einer querulatorischen Neigung hinzu, wuchs das Beschwerdeaufkommen zeitweise in astronomische Höhen.

Das Schreiben war offenbar teilweise auch ein Abreagieren, indem die Verwaltung der JVA, externe Stellen wie das Justizministerium und der Bürgerbeauftragten mit Beschwerden und Eingaben beschäftigt werden sollten. In der JVA Diez richteten Inhaftierte darüber hinaus auch sehr häufig Anträge auf gerichtliche Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer. Dies brachte zwar für die Gefangenen ein Kostenrisiko mit sich. Die engagiertesten Autoren hielt dies dennoch nicht von Rechtsbehelfen ab. Gerne wurde bei Zurückweisung des Antrages auch noch die nächste Instanz in Form des Oberlandesgerichts Koblenz zum Arbeiten gebracht.

Ich erinnere mich noch an einen Gefangenen, der keine Arbeitsstelle hatte und monatlich einen Taschengeldantrag stellte. Sein Anliegen wurde regelmäßig zurückgewiesen, weil bekannt war, dass der Inhaftierte über ein externes Konto verfügte, jedoch nicht bereit war, Auskunft hierüber zu geben. Ein Gefangener, der mangels einer Beschäftigung der Anstalt kein Einkommen hat, kann Taschengeld erhalten, sofern er bedürftig ist. Die Strafvollstreckungskammer Diez, an die sich der Gefangenen mit der ihm eigenen Penetranz Monat für Monat gewandt hatte, lehnte die Anträge stets als unbegründet ab. Dennoch legte der Gefangene den Rechtsbehelf der sofortigen Beschwerde an das Oberlandesgericht Koblenz als nächster Instanz ein, das sich sodann mit dem Anliegen befassen musste. Nach einiger Zeit wurden die Anträge von beiden Gerichten als unzulässig abgelehnt, weil offensichtlich war, dass es sich um reine Schikaneanträge handelte. Ein Gesprächsversuch blieb fruchtlos, da der Gefangene stets die Auffassung vertrat, er sei im Recht.

Auch wenn viele der in der JVA Diez untergebrachten Gefangenen schwerste Straftaten verübt und Opfern viel Leid zugefügt haben, handelt es sich um Menschen, die oftmals ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden besitzen und wie jeder das Bedürfnis haben, ernst genommen zu werden. Die Einteilung der Menschen in Gut und Böse funktioniert auch im Gefängnis nicht. Zwischen schwarz und weiß gibt es viele Zwischentöne. Deshalb sollte man sich davor hüten, allzu schnell jemand in Schubladen einzusortieren. Als Anstaltsleiter muss man insoweit Vorbild sein. Im Bewusstsein der Gefangenen, aber auch der Bediensteten sollte er die entscheidende Instanz sein, die für Gerechtigkeit innerhalb der Mauern steht und das Steuer in der Hand hat. Dies macht es notwendig, Beschwerden von Gefangenen ernst zu nehmen, auch wenn man auf den ersten Blick den Eindruck hat, dass sie unbegründet sind. Werden gegenüber den Gefangenen Fehlentscheidungen getroffen, kann dies fatale Auswirkungen haben.

Ein Gefangener der JVA Diez hatte eine sehr lange Freiheitsstrafe zu verbüßen. Mit Unterbrechungen verfasste er sehr viele Eingaben und Beschwerden, die – wie es mir schien – allesamt unbegründet waren. Der Gefangene pflegte stets einen guten Kontakt zu den Beamten, war überaus freundlich und besaß auch einen gewissen Humor. Im persönlichen Kontakt grinste er ununterbrochen, so auch in meiner Anstaltsleitersprechstunde, deren regelmäßiger Gast er war. Immer wieder ging ich auf den Gefangenen zu, wenn er wieder einmal eine seiner längeren Phasen hatte, in denen er unzählige Eingaben und Beschwerden verfasste. Es ging ihm nach meinem Eindruck ausschließlich darum, die Justiz zu beschäftigen, in der Hoffnung, man wolle ihn, irgendwann mürbe geworden, loswerden. Manchmal gelang es mir, ihn dazu zu bewegen, eine gewisse Ruhepause einzulegen und seine Schreibmaschine zur Seite zu stellen.

In einer für ihn schwierigen Situation konnte ich ihm helfen. Um es vorwegzunehmen: Seine Dankbarkeit war nicht von Dauer.

Bei einer Haftraumkontrolle wurde hinter der an der Wand angebrachten Lampe eine Feile gefunden. Daher mussten wir davon ausgehen, dass der Gefangenen im Begriff war, einen Ausbruch vorzubereiten. Es folgten massive besondere Sicherungsmaßnahmen wie – jedenfalls in der Anfangsphase – Einzelhaft. Auch wurde der persönliche Besitz im Haftraum drastisch reduziert, um häufige Haftraumkontrollen zu erleichtern und Versteckmöglichkeiten zu reduzieren.

Dies war für den Gefangenen ein Anlass, zu meiner Sprechstunde zu kommen. Er behauptete, er habe nichts von der Feile gewusst. Er sei erst seit drei Monaten in dieser Zelle untergebracht. Der Haftraum sei, seitdem er dort untergebracht sei, noch nie mit einem neuen Anstrich versehen worden. Man möge doch die Feile genau untersuchen. Vielleicht gebe es Hinweise dafür, dass sie bereits vor der Renovierung in der Zelle gewesen sei. Ich machte mir daraufhin persönlich ein Bild von der Angelegenheit. Glücklicherweise gab es Listen des hauswirtschaftlichen Dienstes, der die Zellen regelmäßig renoviert, auf denen festgehalten wird, wann die einzelnen Haftraumwände gestrichen wurden. Ebenso wird regelmäßig registriert, welcher Gefangene in welchem Zeitraum in einem bestimmten Haftraum untergebracht wurde. Ich schaute mir außerdem die Feile genau an. Das im Strafvollzug früher beliebte Ausbruchswerkzeug besaß Farbanhaftungen, die mit der Farbe der Haftraumwände völlig identisch waren.16 Der Haftraum war nach den gesichteten Unterlagen bereits vor dem Einzug des Lebenslangen gestrichen worden. Daher stand fest, dass die Feile bereits in der Zelle war, bevor der Gefangene dorthin verlegt worden war. Dass der Inhaftierte von der Feile wusste, war zwar nicht ausschließbar, aber nach meiner Einschätzung weniger wahrscheinlich. Angesichts der damals noch mit Türmen gesicherten Anstaltsmauer, auf denen Bedienstete mit einer Langwaffe wachten, war ein Fluchtversuch mit Hilfe einer Feile und angesichts des Lebensalters des nur mäßig sportlichen Gefangenen von ca. 45 Jahren zudem wenig wahrscheinlich.

Die Art und Weise, wie man hier als Anstaltsleiter bei der Behandlung von Beschwerden vorgeht, ist eine Gratwanderung. Manche Mitarbeiter erleben es bereits als Vorverurteilung, wenn man eine Beschwerde, die sich gegen sie richtet, aufgreift und um eine Stellungnahme zu einer Beschwerde bittet. Ich habe den Bediensteten regelmäßig signalisiert, dass ich ihnen als Mitarbeiter grundsätzlich Glauben schenke. Auch wenn es einige wenige Fälle gab, bei denen mir dies nicht leichtgefallen war.

Gerade Mitarbeiter, die einen konsequenten und geradlinigen Führungsstil gegenüber den Gefangenen haben, alle gleich behandeln, aber auch erwarten, dass Gefangene die Regeln strikt einhalten, werden nicht selten zum Gegenstand von Anfeindungen einzelner Inhaftierter. Die Gefangenen verfolgen oftmals das Ziel, den Mitarbeiter mit Hilfe von Beschwerden zu verunsichern und mürbe zu machen. Sie haben die Erwartung, dass der Bedienstete künftig eher einmal Fünfe grade sein lässt. Ein Vorgesetzter darf sich nicht aufs Glatteis führen lassen und sollte ein Gespür dafür haben, was Dichtung und Wahrheit ist. In den langen Jahren als Anstaltsleiter habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Anzahl ernsthafter und begründeter Beschwerden über das Personal gering ist. Die Bediensteten gehen von wenigen Ausnahmen abgesehen freundlich und respektvoll mit den Gefangenen um und spielen ihre zweifelsohne vorhandene Machtposition nicht aus.

Gelegentlich schickten Mitarbeiter Gefangene, nachdem diese von ihm vor Ort mit einem Anliegen „genervt“ worden waren, zum Gefängnisdirektor, um selbst ihre Ruhe zu haben. Wohl geht man davon aus, dass derjenige, der überwiegend in einem vergleichsweise großen Büro stundenlang vor dem Schreibtisch sitzt, ein größeres Zeitfenster zur Verfügung hat. Dies wurde mir kurz vor dem eigenen Ruhestand nochmals überdeutlich, als eine Mitarbeiterin der JVA Rohrbach äußerte: „Ich weiß ja nicht, was Sie so genau machen.“ Ein wenig überrascht war ich durchaus über diese Bemerkung. Angesichts meines überschaubaren Zeitfensters erwiderte ich grinsend: „Ich bin eigentlich ganz gut beschäftigt!“ Ich vermied es, dies zu konkretisieren. Doch lag es mir auf der Zunge, Beschäftigungen wie Sudokus oder Ähnliches zu erwähnen. In meiner Heimat Rheinhessen sagt man bei einem Menschen, der den Müßiggang ins Zentrum seines Lebens stellt: „Der bleesd joo nur Fedderscher in die Luft!“ (Übersetzung: Der bläst ja nur Federchen in die Luft.) Ich zog es vor, lächelnd zu schweigen. Die Gefahr, dass man einen spaßhaft gedachten Spruch als ernsthafte Äußerung begriffen hätte, war mir doch zu groß.

Kapitel 5: Von Geldstrafen, die andere bezahlen, sowie vom Sinn und Unsinn kurzer Freiheitsstrafen und Ersatzfreiheitsstrafen

In der JVA Koblenz, wo ich von 1999 bis 2001 Anstaltsleiter war, begegnete ich bei einem Rundgang durch die Hafträume einem Gefangenen, der kränklich und sehr angegriffen wirkte. Ich sehe ihn heute noch vor mir. Ein großer, sehr dünner Mann um die 50, mit hochrotem Gesicht und einer von vielen hervortretenden Äderchen durchzogenen knolligen Nase. Offenbar war er vom jahrzehntelangen Alkoholmissbrauch gezeichnet. Ein alkoholkranker Mensch, dem – so war mein Eindruck – jeglicher Lebensmut fehlte.

Ich erfuhr, dass er eine kurze Ersatzfreiheitsstrafe von zwei Monaten aufgrund einer vom Strafrichter verhängten Geldstrafe, die er nicht bezahlen konnte, verbüßen musste. Sie war wegen Diebstahls von zwei Flaschen Barcadi und mehreren Päckchen Zigaretten verhängt worden. Möglicherweise hatte der Richter den Gedanken, den Menschen zwangsweise für kurze Zeit vom Alkohol wegzubringen. Wenigstens eine Entgiftung, die ihm eine kurze Pause vor weiteren Abstürzen ermöglichen sollte. Die kurze Haftzeit konnten der Sozialdienst und letztlich auch der Gefangene nicht annähernd nutzen. Der alkoholkranke Mann benötigte bereits eine gewisse Zeit für den körperlichen Entzug mithilfe von Medikamenten. Der körperlich bereits sehr angeschlagene Gefangene hatte schon lange aufgegeben. Auch das Angebot des Sozialdienstes, eine Therapie zur Behandlung seiner Alkoholsucht vorzubereiten, lehnte er ab.

Ein erheblicher Teil der kurzen Strafen sind Ersatzfreiheitsstrafen. Sie treten an die Stelle von Geldstrafen, wenn der Verurteilte nicht zahlt. Geldstrafen werden bei Delikten mit geringerer Schwere verhängt. Bei einer Geldstrafe setzt das Gericht eine bestimmte Anzahl von Tagesätzen je nach der Schwere der Straftat fest. Die Höhe des einzelnen Tagessatzes ist dagegen vom Einkommen abhängig. Ist ein Angeklagter zum Beispiel zu 60 Tagessätzen in Höhe von je 20 Euro verurteilt, musste er bislang, sofern er nicht zahlte, 60 Tage als Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen. Am 22. Juni 2023 hat der Bundestag einem Gesetzentwurf zugestimmt, wonach der Umrechnungsmaßstab einer Geld- in eine Ersatzfreiheitsstrafe halbiert werden soll. Um bei dem Beispiel zu bleiben, blieben dann nur noch 30 Tage Ersatzfreiheitstsrafe übrig. Das Gesetz mit dem neuen Umrechnungsmaßstab tritt am 1. Februar 2024 in Kraft.

Wenn die Betroffenen die Summe nicht zahlen können, bietet die Staatsanwaltschaft Ratenzahlung oder, sofern dies dem Verurteilten nicht möglich ist, die gemeinnützige Arbeit als Möglichkeit an, die Geldstrafe ersatzweise zu begleichen. Das sind der Allgemeinheit dienende Tätigkeiten, die salopp als „Schwitzen statt Sitzen“ bezeichnet werden. Oft scheitert dies mangels geeigneter Angebote, nicht selten auch an der fehlenden Motivation der Verurteilten. Manche versäumen die Zahlung aber auch schlichtweg aus Nachlässigkeit oder verdrängen die strafrichterliche Sanktion. Die Verurteilten erhalten schließlich eine Ladung zum Strafantritt von der Staatsanwaltschaft. Einige werden dann endlich aktiv und bemühen sich um eine Zahlung. Andere, die nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, kommen eigenständig in der Anstalt, um die Ersatzfreiheitsstrafe hinter sich zu bringen. Wer in keiner Weise reagiert, wird irgendwann von der Polizei festgenommen und der Anstalt zugeführt.

Nicht selten besinnt sich ein Gefangener, nachdem er eine solche Ersatzfreiheitsstrafe angetreten hat, eines großzügigen Sponsors aus dem familiären Bereich oder Freundeskreis. Gelegentlich springt auch ein Arbeitgeber ein. Nicht selten wird die Geldstrafe bereits am ersten Hafttag bezahlt. Dies führt dazu, dass der Gefangene sehr zügig die Gefängnismauern wieder hinter sich lässt und es bei einer Stippvisite bleibt.

Eine stichprobenweise Datenerhebung ergab für die JVA Rohrbach ein Ergebnis, das am Sinn von Geldstrafen zweifeln lässt. Von April bis Oktober 2011 wurden dort insgesamt 221 Gefangene nach vollständiger oder teilweiser Verbüßung der Ersatzfreiheitsstrafe entlassen. Bei 76 Gefangenen, daher 34,4 %, wurde die Geldstrafe von externen Kontakt- beziehungsweise Bezugspersonen entrichtet. Von den Einzahlenden waren nach Angabe der Inhaftierten 43 Angehörige, 9 Bekannte, 21 Freunde und 3 Arbeitgeber. In nur 36 von den insgesamt 76 Fällen erklärten die befragten Gefangenen, sie müssten den Einzahlungsbetrag möglicherweise zurückzahlen, für mehr als die Hälfte galt dies daher nicht. Auch ein erheblicher Anteil derjenigen, die die Geldstrafe rechtzeitig zahlen, um eine Festnahme zur Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe zu vermeiden, wird nicht auf eigene Mittel zurückgegriffen haben.

Bei dem alkoholkranken Gefangenen gab es einen solchen großzügigen Sponsor nicht.

In der Sendung Landesschau Rheinland-Pfalz vom 4.11.2022 wurde anschaulich gezeigt, wie unterschiedlich die Situation bei den einzelnen Menschen ist, die zu einer Geldstrafe verurteilt wurden und sie nicht bezahlt haben. Zwei Koblenzer Polizisten suchten die Wohnung eines Mannes auf; eigentlich um einen Haftbefehl zu vollstrecken. Der Verurteilte wäre dann in die JVA Koblenz gebracht worden. Die Beamten, die einen zugewandten und sympathischen Eindruck machten, suchten gemeinsam mit den Verurteilten nach einem Weg, um die Vollstreckung des Haftbefehls abzuwenden. Der Verurteilte gab glaubhaft an, er sei Krebspatient, worauf auch seine gänzlich fehlenden Haare hindeuteten. Er bat darum, die Geldstrafe in Höhe von 600 Euro in zwei Raten bezahlen zu dürfen. Ein Beamter machte sich die Mühe, bei der zuständigen Rechtspflegerin anzurufen, die damit allerdings nicht einverstanden war. Der Verurteilte habe schon zweimal Ratenzahlung bewilligt bekommen, aber nicht reagiert. Einer der Beamten fragte ihn daraufhin, ob er eine Möglichkeit sehe, das Geld aufzutreiben. Ein Anruf bei einer Kontaktperson verlief jedoch erfolglos.

Die Polizisten machten einen weiteren Versuch, um dem Mann zu helfen, und fragten, ob er jemand kenne, der die Strafe bezahlen könne. Er überlegte kurz und erinnerte sich an seine hilfsbereiten Nachbarn, die in der Wohnung über ihm wohnten. Der Polizist ging mit dem Verurteilten zu den Nachbarn, einem Ehepaar, das unmittelbar erklärte, sie seien in der Lage und willens zu helfen. Der Nachbar war offenbar selbst schwer erkrankt – er nutzte ein mobiles Sauerstoffgerät. Die Vermögensverhältnisse des Ehepaares erschienen nicht übermäßig gut. Der kranke Helfer in der Not erklärte, das Geld werde er von seiner Zusatzrente nehmen. Er habe 40 Jahre auf dem Bau gearbeitet. Ein beeindruckender Fall von nachbarlicher Hilfsbereitschaft und zugleich ein Beispiel, wie sozial kompetente Polizeibeamte den ein wenig abgedroschenen Slogan „Die Polizei dein Freund und Helfer“ mit Leben erfüllt haben. Die EC-Karte der Nachbarn wurde in das Kartenlesegerät eingeführt, das die Polizisten mit sich führten. Einer der Beamten sagte noch zu dem im wahrsten Sinne des Wortes befreit wirkenden Verurteilten, er solle eine Regelung finden, wie er den geliehenen Betrag „vernünftig“ zurückzahle, damit es keinen Ärger untereinander gebe. Die Polizisten waren sich einig, dass sie den Verurteilten nur ungern zum Gefängnis gefahren hätten.17

Ansätze für eine Behandlungsarbeit im Sinne einer Crashkursresozialisierung sind aufgrund der Kürze der Haftzeit bei Ersatzfreiheitsstrafen nicht gegeben. Die Aufgabe des Sozialdienstes der JVA erschöpft sich zumeist in der Hilfestellung bei der Suche nach Personen, die die Geldstrafe übernehmen. Bei Obdachlosen besteht die Hilfestellung darin, dass dem Gefangenen die Anschriften von Einrichtungen benannt werden, bei denen er wenigstens tageweise unterkommen kann. Zumeist kennt er sie schon. Manche meiden auch diese Einrichtungen.

Findet der Verurteilte wie hier eine Person, die die Geldstrafe bezahlt oder wenigstens den Betrag leiht, geht auch der ohnehin fragliche Abschreckungseffekt von Geldstrafen bzw. des Druckmittels der Ersatzfreiheitsstrafe ins Leere.

Sofern die Gefangenen wie bei Ersatzfreiheitsstrafen die Erwartung haben, alsbald entlassen zu werden, befinden sie sich nicht mehr mit dem Kopf hinter der Mauer, sondern eher bereits draußen. Ansätze für eine aus zeitlichen Gründen ohnehin nur sehr eingeschränkt mögliche Behandlungsarbeit sind dann kaum gegeben. Anders ist dies zu beurteilen, wenn aus der Sicht des Gefangenen kein externer Retter zur Verfügung steht. Besitzt der Inhaftierte Klarheit über die Haftdauer, wird er eher empfänglich für Maßnahmen sein, die seiner Resozialisierung dienen.

Für Ersatzfreiheitsstrafen entsteht zudem ein unverhältnismäßig großer personeller und organisatorischer Aufwand für die Anstalt. Hinzu kommen die finanziellen Ausgaben für die Justiz. Ein Hafttag kostet ca. 180 Euro.18 30 Tage beziehungsweise ein Monat Ersatzfreiheitsstrafe verursachen somit Kosten von 5400 Euro. Von dem Geldbetrag könnte man für den gleichen Zeitraum zum Beispiel das Gehalt eines Sozialarbeiters finanzieren, dessen Hauptaufgabe es wäre, haftvermeidende Hilfen und Unterstützung für Menschen, die zu einer Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt wurden, zu leisten. Es wird geschätzt, dass Ersatzfreiheitsstrafen den Staat 200 Millionen Euro jährlich kosten. Viel Geld, das Justitia in die vermeintliche Gerechtigkeit zu Lasten der ganz kleinen Fische investiert. Die Augenbinde, die die oft dargestellte Göttin trägt, erhält hier einen ganz eigenen Sinn. Eine Brille für Kurzsichtige wäre passender.

Längere Zeit wurde im rechtspolitischen Bereich über die Sinnhaftigkeit von Ersatzfreiheitsstrafen gestritten, die jederzeit mit Begleichung der Geldstrafe beendet werden können und zudem die ohnehin oft überbelegten Anstalten sehr belasten. Nachdem sich der Gesetzgeber nunmehr dazu aufraffen konnte, die Dauer der Ersatzfreiheitsstrafen zu halbieren, werden die oft überbelegten Justizvollzugsanstalten ab Februar 2024 erheblich entlastet. Zudem reduzieren sich deutlich die Kosten für den Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafen. Dagegen konnte man sich bislang noch nicht entschließen, klassische Armutsdelikte wie das Schwarzfahren von einem Straftatbestand auf eine Ordnungswidrigkeit herabzustufen oder sogar Ersatzfreiheitsstrafen für diese Verstöße gänzlich abzuschaffen.

In den letzten Jahren gab es immer häufiger aus sozialpolitischen Gründen Kritik an dieser Sanktion. Vielfach sind Menschen betroffen, die ihr Leben nicht in den Griff bekommen oder sogar verelendet sind. Insofern ist auch die weitere Gesetzesänderung zu begrüßen, wonach die Weiterleitung von Daten über Menschen, die eine Geldstrafe nicht bezahlt haben, an Träger der freien Straffälligenhilfe erleichtert wird. Diese Einrichtungen können sich dann rechtzeitig bemühen, gemeinnützige Arbeitsmöglichkeiten als Ersatz für die Geldstrafe zu vermitteln oder auch selbst anzubieten.

Nicht selten gelangen Menschen mit hochgradigen Persönlichkeitsstörungen aufgrund einer Ersatzfreiheitsstrafe ins Gefängnis. Sie sind in einer solchen Einrichtung fehl am Platz und belasten zudem die Mitarbeiter unverhältnismäßig. Ein Gefangener, der während meiner Zeit in der JVA Rohrbach sehr ausgeprägte Verhaltensauffälligkeiten zeigte, wahrscheinlich sogar eine psychiatrische Erkrankung hatte, provozierte ständig und verunreinigte den Haftraum in ekelerregender Weise. Der Inhaftierte hatte eine sehr kurze Ersatzfreiheitsstrafe erhalten, der ein geringer Geldstrafenbetrag – nach meiner Erinnerung etwa 80 Euro – zugrunde lag. Zwei Mitarbeiter erbarmten sich, wohl in erster Linie zugunsten der Kollegen, zugleich aber auch im Interesse des Gefangenen, und zahlten den Geldbetrag in der Anstaltszahlstelle ein. Da ich dies erst im Nachhinein erfahren hatte, gefiel mir einerseits das eigenmächtige Handeln nicht. Eigentlich dürfen Mitarbeiter des Justizvollzuges nicht auf diesem Weg faktisch einen Gnadenakt erlassen, da dies allein den Staatsanwaltschaften vorbehalten bleibt. Andererseits war das menschliche Handeln der Kollegen für mich nachvollziehbar.

Wie bei Ersatzfreiheitsstrafen fragt es sich, welchen Sinn kurze Freiheitsstrafen haben, die nur wenige Monate bis ein Jahr dauern.

In vielen Fällen ist die Aufarbeitung der bisherigen Lebensführung mit ihren negativen Konsequenzen innerhalb weniger Haftmonate nicht leistbar. Eine Wiedereingliederung von Menschen, die draußen gescheitert sind, insbesondere wenn sie weder über einen Arbeitsplatz, soziale Bindungen noch über eine Wohnung verfügen und womöglich eine Suchtproblematik hinzukommt, ist bei kurzen Freiheitsstrafen kaum erreichbar. Fällt die Wiedereingliederung aus, erinnert dies an eine abgesagte Theatervorstellung, bei der die Zuschauer und Künstler trotzdem vor Ort sind und nutzlos mehrere Stunden bis zum fiktiven Ende der Ausführung ausharren. Dann bleibt bei diesen überschaubaren Haftzeiten allein der Abschreckungseffekt als spärlicher Rest des Strafvollzuges übrig, dessen Reichweite fraglich erscheint.

In der JVA Koblenz bin ich mehrfach Gefangenen begegnet, bei dem der Strafvollzug an Grenzen stieß. Einer dieser Menschen kam wenige Tage vor seiner Entlassung in meine Sprechstunde.

Der unscheinbare Mann musste wegen eines Vermögensdeliktes in der JVA Koblenz eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten verbüßen. Irgendwann einmal in seinem Leben hatte er eine Ausbildung als Buchhalter absolviert. Nach der Scheidung, dem Verlust der Wohnung und des Arbeitsplatzes war der alkoholabhängige Mann auf der Straße gelandet. Er hielt sich häufig in Nähe des Koblenzer Hauptbahnhofes auf. Der kleingewachsene Gefangene, Mitte fünfzig, volles seitlich wie mit dem Lineal gescheiteltes braunes Haar, wirkte auf den ersten Blick körperlich wenig angeschlagen. Der Gefangene hatte sich wenige Tage vor seiner Entlassung bei mir zur Anstaltsleitersprechstunde vorgemeldet. Hilflos, scheu und zurückhaltend fragte er mich, ob nicht eine Stelle in der Verwaltung des Gefängnisses frei sei. Ein wenig peinlich berührt versuchte ich ihm zu vorsichtig zu vermitteln, dass ich in unserer Einrichtung keine Möglichkeiten sähe. Ich wollte ihn nicht mit Ablehnungsgründen wie Sicherheit oder einer fraglichen persönlichen Eignung bewerfen, um ihn nicht zu verletzen. Er tat mir einfach leid. Ich konnte nichts für ihn tun, außer beim Sozialdienst nachzufragen, wie es denn um Maßnahmen zur Vorbereitung der Entlassung stehe. Die Rückmeldung stimmte mich nicht optimistisch. Der Sozialdienst äußerte eine gewisse Hilflosigkeit. Wenige Wochen danach – ich benutzte damals regelmäßig die Bahn für die Fahrt von Koblenz zu meinem Wohnort Mainz – bemerkte ich ihn im Bahnhofsbereich, wo er ziellos hin und her lief. Ein Tag, an dem mir einmal mehr meine beruflichen Grenzen bewusst wurden.

Der geschilderte Fall hatte für mich etwas Trostloses. Welchen Sinn haben diese kurzen Haftzeiten denn, wenn die Gefangenen das Gefängnis durch eine Drehtür verlassen sollen, die sie immer wieder zurückschleudert?, fragte ich mich.

Es ist ein größerer politischer Mut notwendig, für die Außenseiter der Gesellschaft mehr Geld in die Hand zu nehmen. Vor allem sollte die sozialarbeiterische Begleitung der Inhaftierten in der Haftzeit insbesondere in der letzten Phase vor der Entlassung, in der Zeit des Übergangs in die Freiheit und der Zeit danach intensiviert werden. Ohne eine qualitativ gute und engmaschige Begleitung in der Übergangsphase vergrößert sich die Rückfallgefahr deutlich. Resozialisierung bedeutet Opferschutz. Gerade auch deshalb lohnen sich Investitionen in die Wiedereingliederung straffällig gewordener Menschen.

Einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung ist man in den meisten Bundesländern wie auch in Rheinland-Pfalz gegangen, indem man das Übergangsmanagement eingeführt hat, das insbesondere eine enge Verzahnung zwischen dem Sozialdienst, der Bewährungshilfe sowie anderer für die Entlassungsvorbereitung wichtiger Institutionen wie dem Jobcenter vorsieht.

Das gute Konzept, das hierzu entwickelt wurde, sollte noch weiter verbessert werden, um den Übergang der Gefangenen in die Freiheit reibungsloser zu gestalten. Zwischenzeitlich hat man in den Justizvollzugsanstalten zwar mehr Fachpersonal für die Aufgabe des Übergangsmanagements eingesetzt, nachdem zunächst oftmals gerade einmal eine Teilzeitkraft zur Verfügung stand. Es fehlen allerdings immer noch angemessene personelle Kapazitäten.

Bei kurzen Freiheitsstrafen entsteht zudem mit der Entlassung eine Betreuungslücke. Die Bewährungshilfe wird zumeist nämlich nicht zuständig, wenn – wie überwiegend bei überschaubaren Haftzeiten – keine bedingte Entlassung erfolgt.19 Diese Lücke könnte dadurch geschlossen werden, dass anstelle eines Bewährungshelfers der Sozialdienst der JVA zuständig wird, der dann auch die Nachbetreuung nach der Entlassung des Gefangenen übernimmt. Das Übergangsmanagement bliebe dann vollständig in der Hand eines Sozialarbeiters, der den Gefangenen vor und nach der Entlassung begleiten würde. Dies hätte den Vorteil, dass eine einheitliche und danach effizientere Zuständigkeit eines einzigen Mitarbeiters gegeben wäre.

Die Zuständigkeit einer Person vor und nach der Entlassung könnte unabhängig von der Straflänge auch generell ein Modell für das Übergangsmanagement sein. Die Zusammenarbeit zwischen den Sozialarbeitern des Justizvollzuges und der Bewährungshilfe gestaltet sich in der Praxis oft schwierig. Der zusätzliche und damit unnötige Zeitaufwand für Absprachen und gegenseitige Information beider Sozialdienstbereiche entfiele dann.

Trotz der begrenzten Möglichkeiten, mit den Mitteln des Strafvollzugs einen erheblichen Beitrag zur Resozialisierung von Gefangenen mit Ersatzfreiheitsstrafen oder kurzen Freiheitsstrafen zu leisten, sollte man dennoch nicht aufgeben. Vielmehr sollte jede Chance genutzt werden, um die Weichen für ein straffreies Leben zu stellen. Einer der Anstaltspsychologen der JVA Rohrbach hielt ein überzeugendes Plädoyer hierfür:

„Die Haft überrascht die Gefangenen in der Weise, dass sie als Stopp im Leben erlebt wird. Gut ist es, wenn diese abrupte Unterbrechung sogar positiv gewertet wird, indem sie zum Nachdenken darüber zwingt, ob man sein Leben so weiterführen möchte. Voraussetzung dafür, dass ein Gefangener Bereitschaft zeigt, sein Leben zu ändern und seinen bisherigen Weg zu hinterfragen, ist, ob er einen Zusammenhang zwischen der Haft und seiner bisherigen Lebensführung erkennt.

Bei kurzen Strafen fehlt das Zermürbende einer langen Haftzeit. Man hat eher noch das Gefühl, die Zügel in der Hand zu haben, verfügt vielleicht noch über die Wohnung und die Arbeitsstelle zum Entlassungszeitpunkt. Private Bindungen wie zur Familie oder Partnerin werden nicht einer allzu langen Belastungsprobe ausgesetzt, wenn das Haftende in Sicht ist.

Bisweilen werden von den Gefangenen überraschende Entscheidungen getroffen, sofern eine grundsätzliche Bereitschaft besteht, Dinge zu ändern, die als schädlich im Leben empfunden wurden. So wird zum Beispiel eine belastende Beziehung beendet. Ein anderer Gefangener, dessen Verhältnis zu den Eltern zwiespältig war, schreibt zum Beispiel einen sehr offenen ehrlichen Brief an die Eltern. Dann stellt sich die Frage, wie geht der Gefangenen mit der Antwort um. Konsequenz kann sein, dass er entscheidet, einen großen Abstand zur Familie zu halten. Wichtig ist auch, dass der Gefangene Menschen aufsucht, die ihm bei der Reflexion helfen, indem er zum Psychologen geht, einen Anstaltsseelsorger aufsucht, einen Ansprechpartner aus dem allgemeinen Vollzugsdienst findet oder einen Mitgefangenen zur Seite hat.

Kapitel 6: Die Alten und die Kranken

„Ihr wollt ihn jetzt rausschmeißen!“, sagte ein Gefangener der JVA Diez zu mir. Die Bemerkung war anerkennend gemeint. Es ging um einen 74-jährigen Mann, der den überwiegenden Teil seines Lebens hinter Gittern verbracht hatte. Ein hagerer kleiner Mann mit strähnigen zurückgekämmten Haaren. Sein Aussehen erinnerte ein wenig an den amerikanischen Tänzer, Sänger und Schauspieler Fred Astaire in späten Jahren. Der hinter Gittern alt gewordene Gefangene war ein mehrfach rückfälliger Einbrecher. Seine kriminelle Aktivität wurde von langen Freiheitsstrafen unterbrochen. Körperlich verletzt hatte er während seiner traurigen kriminellen Karriere keinen Menschen. Darauf war er sogar ein wenig stolz. Dass ein Einbruch in Wohnhäuser bei den Opfern oft lebenslang tiefgehende Ängste hinterlässt, verdrängte er. Mit der letzten Freiheitsstrafe, wegen der er in die Diezer Anstalt kam, wurde zusätzlich noch die Sicherungsverwahrung verhängt.

Vor einigen Jahren hatte sich der gealterte Mann ungefragt eine Auszeit vom Diezer Knast genommen. Damals wurde er in der Schmerzklinik in Mainz wegen eines Rückenleidens behandelt. Damit, dass der damals schweren Schrittes gehende Häftling mit dem vermeintlichen schweren Rückenleiden das Weite suchen würde, hatte man nicht gerechnet. Offenbar waren die Schmerzen des gegenüber dem Personal stets freundlichen Gefangenen doch nicht allzu gravierend. Nachdem er sein Mittagessen erhalten hatte, war er von einem Moment auf den anderen plötzlich spurlos verschwunden. Andere Patienten wollen beobachtet haben, dass der Kranke recht behände vom Flur durch das Treppenhaus hinunterging, das Gebäude verließ und in ein Taxi einstieg, um sich an seinen Zielort, den er uns bedauerlicherweise nicht verraten hatte, bringen zu lassen.

Bis zu seiner Festnahme war der Gefangene mehr als ein Jahr untergetaucht und lebte vermutlich bei einem Bekannten in einer kleinen Stadt am Mittelrhein.

Geflüchtete haben, gerade wenn der Strafrest noch sehr hoch ist oder wie bei dem damals 74-Jährigen zusätzlich noch die Sicherungsverwahrung verhängt ist, nach der Wiederergreifung für lange Zeit keine Aussicht, in den offenen Vollzug verlegt, geschweige denn entlassen zu werden. Eine Flucht oder ein Ausbruch zieht zwar keine strafrechtliche Verurteilung nach sich, sofern dies nicht mit weiteren Straftaten verbunden ist. Taucht ein Gefangener unter, spricht dies jedoch dafür, dass er sein weiteres Leben in der Illegalität einrichten möchte. Eine positive Kriminalprognose als Voraussetzung einer bedingten Entlassung lässt sich dann kaum begründen. Auch Vollzugslockerungen kommen regelmäßig für geraume Zeit nicht mehr in Betracht. Doch da die Gesundheit des Knastseniors bereits sehr angegriffen war, wurde er nach einer einjährigen Pause schließlich erneut ins Freigängerhaus verlegt. Unser Plan war, seine Entlassung in ein Altersheim zu betreiben.

Der Inhaftierte erhielt regelmäßig Urlaub zu einem Freund. Im Herbst 2006 gelangte er allerdings nicht bei ihm an. Vom Hauptbahnhof der Diezer Nachbarstadt Limburg aus sollte er eigentlich nachmittags den Zug zur Urlaubsadresse nehmen. Während der Wartezeit trank er in einer Gaststätte ein Glas Rotwein.

Einige Stunden später gegen 23 Uhr war der Einbruchsmelder einer Limburger Firma ausgelöst worden und hatte einen Großeinsatz der Polizei ausgelöst. Mögliche Fluchtwege wurden gesichert und der Gebäudetrakt mit einem Diensthund durchsucht. Die Polizisten zeigten sich sehr überrascht, als sie den schwächlich erscheinenden Mann entdeckten. Er hatte sich hinter einem Aktenschrank eines Büros versteckt. Zuvor hatte er mehrere Büros durchsucht, um Bargeld zu finden. Der Erfolg war gering. Es gelang ihm lediglich knapp 20 Euro in kleinen Geldstücken zu finden. Dazu musste er sogar auch noch ein Sparschwein zerbrechen.

Was war nur in ihn gefahren?, fragten sich die Mitarbeiter unserer Anstalt. Vielleicht hatte der Sicherungsverwahrte Angst vor der Freiheit. Vielleicht drückte ihn auch die Aussicht nieder, den Rest seines Lebens nach den vielen Haftjahren wieder in einer Einrichtung verbringen und wohl auch dort beschließen zu müssen. Vielleicht hatten sich bei ihm auf dem Weg zum Bahnhof eine gewisse Gleichgültigkeit und Schwermut breit gemacht, so dass er diese unsinnige Straftat beging.

Trotz dieses überraschenden Rückfalls war mein Ziel nach wie vor, den alten Mann zeitnah in die Freiheit zu bringen. Ich betrachtete den gescheiterten Einbruch als letzten Ausrutscher. Im geschlossenen Vollzug angekommen veränderte sich das Aussehen des gesundheitlich angeschlagenen Mannes nach und nach erheblich. Man hatte den Eindruck, dass er aufgegeben hatte. Während er zuvor stets ein gepflegtes Erscheinungsbild hatte, ließ er sich einen wilden Bart wachsen, der mich an das Aussehen eines älteren Obdachlosen, der mir früher häufig in der Fußgängerzone meines Wohnortes Mainz begegnet war, erinnerte. Als ob er sich hinter dem Bart verstecken wollte. Bei einem Gespräch mit dem Häftling, der in einer Wohngruppe des geschlossenen Vollzuges untergebracht war, teilte ich ihm mit, dass ich seine Entlassung betreiben möchte. Er schaute mich überrascht an und lächelte unsicher. Seiner Miene war auch eine gewisse Skepsis zu entnehmen. Doch hatte er wohl genug von der Haft und wollte einfach raus. Nochmals wurde er in das Diezer Freigängerhaus verlegt. Dort pflegte er die Blumenrabatte vor dem Eingangsbereich. Einmal traf ich ihn bei dieser Tätigkeit an. Der betagte Mann lächelte mich wie immer freundlich an, als ich ihn ansprach und fragte, wie es ihm gehe. Ich gewann den Eindruck, dass er sich mit seinem gescheiterten Leben arrangiert hatte und nach den vielen Jahren hinter den Diezer Gefängnismauern bereit war, den letzten Lebensabschnitt in Ruhe und behütet in einer Senioreneinrichtung zu verbringen. Behütet. Dies war ihm unter anderen Vorzeichen vertraut und nicht neu. Vielleicht ging er davon aus, dass der Unterschied zwischen dem Freigängerhaus und dem Altersheim gar nicht so groß sei.

Nachdem auch die Strafvollstreckungskammer ein Einsehen hatte und auf der Basis eines Sachverständigengutachtens die bedingte Entlassung des betagten Mannes beschlossen hatte, durfte er in ein Seniorenheim umziehen. Rückfälle gab es wie erwartet nicht mehr. Ich habe nichts mehr von dem Entlassenen gehört und hoffe, dass er noch einige gute Jahre in der Senioreneinrichtung verbrachte.

Ältere Gefangene haben in einer Einrichtung für Inhaftierte mit langjährigen Freiheitsstrafen einen besonderen Status. Manchmal werden sie von den Mitgefangenen wie der eigene Großvater behandelt. Sie begegnen ihnen freundlich und zuvorkommend. Die Straftaten, die sie oftmals vor Jahrzehnten begangen haben, spielen nur noch eine geringe Rolle in den Augen der anderen Männer. Oft ist den anderen das Delikt gar nicht bekannt. Im Gefängnis gibt es mehr als vor den Mauern Respekt vor dem Alter. Dies hängt in Anstalten, in denen Gefangene mit langjährigen Freiheitsstrafen leben, auch mit der Angst zusammen, man würde selbst in einer Justizvollzugsanstalt alt werden und dort einen Großteil des Lebens verbringen müssen. Der Umgang mit den Alten wird zugleich von einem gewissen Mitleid geprägt.

1987 besuchte ich zu Beginn meiner Ausbildung als Rechtsreferendar die JVA Diez, in der ich später über so viele Jahre tätig war. Die nur eintägige und daher wenig ergiebige Besichtigung zur Einführung in den Strafvollzug wurde in die strafrechtliche Ausbildungsstation des Rechtsreferendariats integriert. Ziel dieses Besuches war, den späteren Staatsanwälten, Richtern und Rechtsanwälten wenigstens einen kurzen, groben Eindruck von dem zu vermitteln, was hinter den Mauern geschieht. Dazu gehörte auch ein längerer Rundgang in einer Langstrafenanstalt wie Diez. Die 30-köpfige Besuchergruppe, zu denen überwiegend junge Referendarinnen gehörten, betrat auch die Werkhallen des Gefängnisses. Viele der dort arbeitenden Gefangenen freuten sich darüber, die jungen Frauen zu sehen. Damals gab es in den Anstalten, in denen wie in Diez ausschließlich Männer inhaftiert waren, nur wenige Mitarbeiterinnen; neben einigen Kräften in der Verwaltung und im Besuchsbereich eine Psychologin und eine Sozialarbeiterin. Seit den 90er-Jahren gehören weibliche Mitarbeiterinnen erfreulicherweise zur Normalität im Justizvollzug. Sie haben das Betriebsklima in dieser früher reinen Männerwelt deutlich verbessert.

Manche Gefangene gafften die jungen Damen recht ungehemmt an. Andere drehten jedoch den Besucherinnen und Besuchern den Rücken zu oder schauten weg, um nicht angestarrt zu werden. Sie mögen sich wie Tiere im Zoo vorgekommen sein. Bei der Führung durch die Werkhallen rief ein Gefangener einem Besucher ärgerlich zu: „Hast du ne Banane dabei?“

Solche Besichtigungen führte man in späteren Jahren nicht mehr in Bereichen wie den Arbeitshallen durch, wo sich viele Gefangene aufhalten. Um einen unmittelbaren Kontakt zu Inhaftierten herzustellen, wurde stattdessen ein Gespräch mit einer kleinen Gruppe interessierter Gefangener, zumeist der gewählten Interessenvertretung der Inhaftierten, ermöglicht.20

Bei dem damaligen Rundgang fiel mir in einem der Betriebe ein sehr betagter Gefangener auf; ein kleiner dünner Mann, der nur noch wenige Haare am Kopf trug und auf einen Krückstock gestützt zwar in einem der Betriebe umherging, aber offensichtlich dort keine Arbeiten mehr verrichtete. Nachdem wir die Werkhallen verlassen hatten, wurde uns Referendaren erklärt, dass es sich um einen Gefangenen handele, der in recht hohem Alter zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden sei. Der betagte Mann war nahezu 80 Jahre alt und seit etwa 10 Jahren in Haft. Damit er sich einen großen Teil des Tages außerhalb seiner Zelle aufhalten konnte und mehr Kontakt zu anderen Menschen hatte, durfte er täglich in die Arbeitshallen. Der Senior trug freiwillig die blaue zweiteilige Arbeitskleidung, die auch die arbeitenden Mitgefangenen benutzten. Ein Zeichen, dass er noch dazugehören wollte.

JVA Diez besitzt derzeit wie alle anderen rheinland-pfälzischen Einrichtungen keine Seniorenabteilung oder Einrichtung für ältere Gefangener. In Singen am Bodensee gibt es ein Gefängnis für Senioren. Diese wohnlich ausgestattete Einrichtung besitzt einen schönen Garten und hat einen geringeren, aber genügenden Sicherheitsstandard.

Im Diezer Gefängnis gibt es im geschlossenen Vollzug ein Hafthaus, den sogenannten E-Flügel, der freizügigere Strukturen besitzt und am ehesten für ältere Gefangene geeignet ist. Die Hafträume in den Wohnbereichen sind tagsüber zumeist offen. Dort sind neben Inhaftierten, die auf den offenen Vollzug vorbereitet werden, auch einige eher ältere Gefangene mit lebenslangen Freiheitsstrafen untergebracht. Nicht alle besitzen eine realistische Entlassungsperspektive. Der Anteil an älteren Gefangenen, die man im Strafvollzug bereits bei einem Alter von ca. 55 Jahren ansetzt, war in meinen ersten Berufsjahren noch überschaubar, hat aber im Lauf der Jahre zugenommen. Das Durchschnittsalter der Gefangenen liegt bei knapp unter 40 Jahren. Kriminalität ist generell eher den jüngeren männlichen Jahrgängen zuzuordnen. Je älter ein Mensch ist, desto weniger neigt er regelmäßig zu kriminellem Verhalten.

Bei der kleinen Gruppe der älteren Inhaftierten der JVA Diez handelt es sich zumeist um Gefangene, die zu einer langen Freiheitsstrafe bis lebenslang verurteilt oder immer wieder erheblich rückfällig wurden und bereits mehrfach Freiheitsstrafen verbüßen mussten. Hinzu kommen die Sicherungsverwahrten, deren Perspektive ohnehin vergleichsweise ungünstiger ist. Bei Sicherungsverwahrten ist der Altersdurchschnitt im Vergleich zu Strafgefangenen deutlich höher. Die Sicherungsverwahrung wird bei besonders gefährlichen Gefangenen als sogenannte Maßregel der Besserung und Sicherung zusätzlich zu einer zumeist längeren Freiheitsstrafe verhängt. Vor einer Gesetzesänderung vor vielen Jahren war sie auf maximal zehn Jahre begrenzt. Heute ist sie dagegen unbefristet und kann auch lebenslang andauern. Ob die weitere Vollstreckung weiterhin notwendig ist, muss das Gericht jährlich, nach zehn Jahren sogar im Abstand von neun Monaten prüfen.

Wesentliche Voraussetzung für die Anordnung der Sicherungsverwahrung ist, dass der Täter „infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist“. Unter den Sicherungsverwahrten stellen die Sexualstraftäter die größte Gruppe. Rechtlich gesehen handelt es sich bei der Sicherungsverwahrung um keine Strafe, sondern um eine präventive Maßnahme. Dennoch ähneln die Unterbringungsbedingungen denen einer Freiheitsstrafe, wenngleich sie sich erheblich verbessert haben. Ursächlich hierfür ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2011. Danach muss sich die Art und Weise des Vollzuges der Sicherungsverwahrung erheblich von dem der Strafhaft unterscheiden. Die Richter haben dies als Abstandsgebot bezeichnet. In der JVA Diez wurde 2013 aufgrund dieser Gerichtsentscheidung ein eigenes, deutlich besser ausgestattetes Gebäude mit einem Gartenbereich erstellt. Die Unterbringung erfolgt in größeren Räumen und im Regelfall im Wohngruppenvollzug.

Dass es mehr ältere Gefangene gibt, hat einen weiteren Grund. So sind die Sachverständigen, die von den Gerichten für eine Entscheidung über eine bedingte Entlassung herangezogen werden, gerade bei Gewalt- und Sexualstraftätern deutlich vorsichtiger geworden. Seit geraumer Zeit werden konsequent die aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zugrunde gelegt. Insbesondere werden neuere Testverfahren angewandt. Dies war zuvor nach meiner Einschätzung nicht bei allen Gerichtsgutachten der Fall. So gab es in Rheinland-Pfalz früher einige wenige „Haus- und Hofgutachter“, die von den Gerichten bei Entscheidungen über Gefangene mit lebenslangen Freiheitsstrafen regelmäßig mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt wurden. Ich kann mich an ein Gutachten über einen Lebenslangen erinnern, das sehr knapp gehalten war und sich neben dem Aktenstudium überwiegend auf wenige Explorationsgespräche mit dem Gefangenen stützte. Ein Sachverständiger geht heute nachvollziehbarer Weise kein Risiko mehr ein. Er muss de lege artis arbeiten und die üblichen Standards und Testverfahren anwenden. Irrt er sich und scheitert eine Entlassung, indem der von ihm mit einem positiven Ergebnis Begutachtete rückfällig wird, kann er verklagt werden. Nebenbei verliert er an Renommee und möglicherweise eine wichtige Einnahmequelle, da die Gerichte ihm nicht mehr vertrauen.

Die „handwerklich guten“ Sachverständigengutachten sind nach meiner Erfahrung allerdings nicht unbedingt treffsicherer als manches der bisweilen oberflächlich erscheinenden früheren Werke, an die ich mich erinnere. Die Ergebnisse dieser Gutachten „älterer Machart“, mit denen die bedingte Entlassung eines Langstrafigen befürwortet oder abgelehnt wurde, konnte ich zumeist nachvollziehen. Sie beruhten nach meinem Eindruck in erster Linie auf der langjährigen Berufserfahrung eines Sachverständigen und dem persönlichen Eindruck, den er bei den Explorationsgesprächen mit den Gefangenen gewonnen hatte. Ein solches zumindest auch von Intuition geprägtes Vorgehen ist seit vielen Jahren nicht mehr denkbar. Die flapsige Bemerkung eines Sachverständigen, der während einer Tagung im Pausengespräch zu einem Diezer Psychologen sagte: „Ich mache mir doch wegen eines Dissozialen nicht meine Karriere kaputt!“, spricht Bände.

Die meisten älteren Gefangenen würden lieber in einem Bereich untergebracht werden, der mehr Freiheiten ermöglicht. Das Leben gemeinsam mit den jüngeren und oft auch weniger angepassten Gefangenen wird zudem als stressig und zu unruhig empfunden. Auch besteht die Gefahr, dass ältere Inhaftierte von Mitgefangenen ausgenutzt und vielleicht sogar ausgebeutet werden, da sie manchmal leichter zu Opfern gemacht werden können.

Doch einige Senioren ziehen es vor, Kontakt zu jüngeren Gefangenen zu haben, und lehnen ein Leben in einer auf ihre Altersgruppe zugeschnittene Abteilung ab. Bei diesen Männern ist die Situation vergleichbar mit der von in Freiheit lebenden Menschen, die es möglichst zu vermeiden suchen, ihre Wohnung zugunsten der Senioreneinrichtung aufzugeben. Alteneinrichtungen werden emotional mit der letzten und überschaubaren Lebensphase verknüpft, was einen Menschen ängstigen und deprimieren kann. Die bedrückende Konfrontation mit dem immer näher rückenden Tod und dem Sterben ist weniger präsent, wenn man mit jüngeren Menschen zusammen ist. Ist man ausschließlich von Senioren umgeben, nimmt man dagegen wahr, dass die Einschläge immer dichter werden.

In der Gruppe der älteren Gefangenen befinden sich auch vermehrt Inhaftierte mit Behinderungen. Aber auch jüngere Häftlinge mit schweren Handicaps gehören hierzu. Zweifelsohne muss man behinderten Menschen in unserer Gesellschaft deutlich bessere Lebensbedingungen schaffen. Hier gibt es große Defizite. Dies gilt gerade auch für die Gefängnisse, zudem eine Freiheitsstrafe einen Menschen mit Handicap deutlich mehr als einen gesunden Gefangenen belastet.

Die Gefängnisse sind bei der Unterbringung behinderter Menschen oftmals überfordert, weil die baulichen und organisatorischen Bedingungen häufig unzureichend sind. Darum wissen die betroffenen Gefangenen. Manche versuchen die missliche Situation auszunutzen, um Vorteile zu erhalten wie eine frühzeitige Verlegung in den offenen Vollzug oder eine bedingte Entlassung. Sie ziehen hierfür alle Register, die ihnen zur Verfügung stehen. Andere versuchen, aus der Haftsituation das Beste zu machen, und zeigen sich kooperativ.

Zu den Letzteren gehörte ein älterer Gefangener, der gemeinsam mit seinem Sohn zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Sie stammten aus einem südeuropäischen Staat. Beide Männer töteten gemeinsam ein Familienmitglied, von dem sie sich gekränkt gefühlt hatten.

Der ältere der beiden Gefangenen, ein kleiner unauffällig erscheinender, etwas übergewichtiger Mann mit Stirnglatze, hatte einen Schlaganfall erlitten. Er war zu einem Pflegefall geworden und nur noch sehr eingeschränkt mobil. Pflege und Betreuung wurden zunächst bereitwillig von dem Sohn wahrgenommen, der auch den Haftraum mit dem Vater teilte. Dies war eine für den Vater wie auch die Anstalt gute Lösung. Letztlich war es jedoch auf Dauer Zumutung für den Sohn und Mittäter. Nach einigen Jahren wurde er mit seiner Zustimmung in sein zur EU gehörendes Heimatland zur weiteren Verbüßung seiner lebenslangen Freiheitsstrafe überstellt.

Ein blinder Gefangener war zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe wegen Drogenhandels verurteilt worden. Zunächst wussten wir nicht, wie wir die Betreuung des behinderten Menschen gewährleisten sollten. Eigentlich wäre eine Begleitung des Inhaftierten durch einen Bediensteten bei jedem Aufenthalt außerhalb der Zelle sinnvoll gewesen. Angesichts des stets knappen Personalbestandes fand sich glücklicherweise ein geeigneter und zuverlässiger Gefangener, der mit personeller Unterstützung diese Aufgabe übernahm.

Ein Beispiel für einen Gefangenen, der seinen Behindertenstatus ausnutzte, war ein kaum noch bewegungsfähiger Mann. Sein Handicap hatte ihn nicht daran gehindert, Straftaten zu begehen. Da der Mann überwiegend im Bett liegen musste, musste er von einem externen Pflegedienst versorgt werden. Die Pflegerinnen hatten den Eindruck, dass der behinderte Mann selbständiger war, als er vorgab. Dies war allerdings nicht nachweisbar.

Die Schwierigkeiten der Justiz, adäquate Bedingungen für behinderte Gefangene zu schaffen, machten sich immer wieder Inhaftierte zu Nutze, indem sie ein Handicap nur vortäuschten. So waren während meiner Dienstzeit zwei Gefangene inhaftiert, die auf den Rollstuhl angewiesen waren. So dachten wir jedenfalls, wenngleich gewisse Zweifel vorhanden waren.

Einer verbüßte eine Freiheitsstrafe wegen Betruges. Er bewegte sich für die Dauer von ca. zwei Jahren ausschließlich mit dem Rollstuhl in der Anstalt. Für ihn lagen uneindeutige ärztliche Befunde vor. Der Gefangene hatte keine Querschnittslähmung, besaß aber eine stark geschädigte Wirbelsäule, so dass er nicht selbstständig laufen konnte. Davon ging der Anstaltsarzt jedenfalls aus. Schließlich gelangte er in den offenen Vollzug. Von dort aus durfte der Häftling regelmäßig ein öffentliches Krankenhaus aufsuchen, wo er physiotherapeutische Maßnahmen erhielt. Eines schönen Tages erhielt ich von einem Kollegen im Freigängerhaus einen Anruf. Der Kollege sagte bei dem Telefonat zu mir einleitend: „Es ist ein Wunder geschehen! Der Gefangene kann wieder laufen!“ Bevor ich nachfragen konnte, sagte er: „Der Physio-Bereich im Krankenhaus sollte eine Wallfahrtsstätte werden!“ Der Kollege erklärte mir weiter, der Gefangene habe ihm berichtet, er sei auf den feuchten Fliesen ausgerutscht und mit der Halswirbelsäule auf eine Kante gefallen. Dieser Unfall habe offensichtlich etwas eingerenkt. Ich sagte so etwas in der Art wie: „Prima!“ Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Offensichtlich war dem Gefangenen weniger eine Wunderheilung zuteilgeworden, vielmehr war ihm wohl das Leben im Rollstuhl zu anstrengend geworden. Damit hatte er allerdings zugleich seine Chancen auf eine bedingte Entlassung verschlechtert, zudem er einige Vorstrafen wegen Betruges hatte. Seine Persönlichkeit hatte sich offenbar wenig geändert. Wahrhaftigkeit war eben nicht eine der Tugenden, die in seinem Leben im Vordergrund standen. Im Übrigen kann man ohnehin trefflich über die Resozialisierungsfähigkeit von notorischen Betrügern streiten, zu denen er gehörte. Oft fehlen jegliches Unrechtsbewusstsein und Empathie für die betrogenen Opfer.

Einen ähnlichen Verlauf nahm die Haftzeit eines stets souverän auftretenden Gefangenen. Im ersten Haftjahr nutzte er einen Rollstuhl. Der Anstaltsarzt war hinsichtlich seines Gesundheitszustandes zwar skeptisch. Es lagen jedoch Befunde vor, die auf ein neurologisches Rückenleiden hinwiesen. Nachdem der Inhaftierte sich entschlossen hatte, einer Arbeit nachzugehen, um ein regelmäßiges Einkommen zu erhalten, trat eine Spontanheilung ein. Da er wieder die erforderliche körperliche Fitness besaß, war es möglich, ihn in der Anstaltsküche einzusetzen, ein recht beliebter Arbeitsplatz, wie man sich vorstellen kann. Als er mir einige Wochen später zufälligerweise begegnete, war er gerade leichten Fußes auf dem Weg zu seinem Haftraum.

Bei vielen Gefangenen und gerade älteren Inhaftierten liegen zum Teil schwere Krankheitsbilder vor. Viele haben auch vor der Inhaftierung wenig auf ihre körperliche Verfassung geachtet. Bei mehr als der Hälfte der Inhaftierten liegt ein langjähriger Drogen- und Alkoholkonsum vor. Bei den meisten handelte es sich um starke Raucher. Nicht wenige Inhaftierte mit langjährigen Freiheitsstrafen versterben während der Haft. Einige mir bekannte Gefangene überlebten schwere Krebserkrankungen nicht. Auch Herz-/Kreislauferkrankungen wurden bei vielen Männern diagnostiziert, die das 50. Lebensjahr überschritten hatten. Ich erinnere mich an einen Gefangenen der JVA Diez, der unablässig rauchte und nach und nach beide Beine verlor.

Kapitel 7: Wenn die Gefangenen über einen Kamm geschoren werden

Manchen Wünschen von Gefangenen begegnet der Justizvollzug mit Zurückhaltung. Dies hängt damit zusammen, dass bei Entscheidungen über Anträge stets geprüft wird, ob die Sicherheit tangiert ist. Zumeist ist weniger die Persönlichkeit des Antragstellers Maßstab als die Verhältnisse der gesamten Gefangenenpopulation einer Einrichtung. Unbewusst wabert der Grundsatz vor sich hin, dass eine Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Die Gefangenen des geschlossenen Vollzugs sind zumeist buntgemischt gemeinsam untergebracht; die Inhaftierten, die sich an Regeln halten, und die Gefangenen, die dies weniger oder gar nicht tun. Das unter Sicherheitsgesichtspunkten schwächste Glied ist der problematische Gefangene, nicht der „pflegeleichte“, der sich gut führt und an seiner Wiedereingliederung mitarbeitet. Dies treibt bisweilen seltsame Blüten.

In einer Anstalt stieß ich in meinen ersten Berufsjahren auf ältere Unterlagen, in denen eine damals bereits schon überholte Praxis aus den 80er-Jahren dokumentiert war. In einem Fall wurde ein Antrag auf Kauf einer Thermoskanne abgelehnt. Neben dem Kontrollaufwand wegen der Hohlräume des Behältnisses wurde argumentiert, die Kannen besäßen zumeist quecksilberhaltige Beschichtungen. Diese könne man abkratzen und damit Beamte vergiften. Die Gründe waren letztlich an den Haaren herbeigezogen. Später wurden die Thermoskannen allgemein zugelassen.

In der JVA Diez begegnete ich einem Zauberer, der offenbar manchen Mitarbeitern Kopfzerbrechen bereitete. Ein Gefangener, der seine Brötchen in Freiheit als Illusionist und Zauberer in Touristenhochburgen verdient hatte, musste viereinhalb Jahre Strafhaft hinter sich bringen, weil er mit Hilfe von Betrügereien ein einträgliches Nebengeschäft betrieben hatte. Als mir die Gefangenenpersonalakte in der JVA Diez irgendwann einmal in die Hände fiel, belustigte mich die Anmerkung eines Bediensteten der Untersuchungsanstalt, in der der Zauberer zunächst inhaftiert war: „Vorsicht! Entfesselungskünstler!“ Der Vermerk war nicht mit den Namen des Mitarbeiters versehen. Vielleicht war der Hinweis auch nicht ernst gemeint. Der Gefangene stellte später einen Antrag, sich ein Zauberlehrbuch bei einem Verlag bestellen und sich zusenden lassen zu dürfen. Er wolle das Buch nutzen, um sich die Fähigkeiten zu erhalten, nach der Haft wieder gewerblich als Bühnenillusionist beziehungsweise Zauberer arbeiten zu können.

Doch der Antrag wurde aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Man befürchtete, der Gefangene werde neue Zaubertricks erlernen, die es ihm ermöglichen würden, Drogen besser zu verstecken. Mit Hilfe von Zaubertricks „unsichtbar“ gemacht, würde man die Drogen bei Haftraum- oder Personenkontrollen nicht mehr entdecken können. Gegenüber dem Gefangenen, der das Buch erwerben wollte, bestanden solche Bedenken zwar nicht. Man ging aber davon aus, der verhinderte Zauberer könne das Buch an andere weitergeben, die beim Lesen des Werkes gewonnene Erkenntnisse zu einer Erleichterung des Drogenhandels in der Anstalt verwerten würden.

Weil man die Sicherheitsbedenken wohl für nicht überzeugend genug hielt, argumentierte man außerdem damit, der Beruf des Zauberers diene nicht der Eingliederung, denn er sei weder ein anerkannter Ausbildungs- oder Weiterbildungsberuf noch ein Studium, sondern falle bei der Bundesagentur für Arbeit unter die Gruppe der „Tätigkeiten mit unterschiedlichen Zugängen“.

Daraufhin wandte sich der Gefangenen an das Gericht, in der Hoffnung, dieses treffe eine freundlichere Entscheidung. Das Gericht befasste sich nicht mit den Sicherheitsfragen, die die Anstalt ja ausgeklammert hatte, sondern ausschließlich damit, ob ein Zauberbuch der Eingliederung des Gefangenen dient. Es kam zu folgendem Ergebnis: „Nach ausführlicher Recherche im Internet kommt die Kammer zu dem Schluss, dass der Beruf des Zauberers eine anerkannte, respektierte und erfolgversprechende gewerbliche Beschäftigungsmöglichkeit darstellt und insofern unter § 70 Strafvollzugsgesetz subsumiert werden kann.“ Die eher halbherzig vorgetragenen Sicherheitsbedenken teilte das Gericht ebenfalls nicht.

Indem man sich bei Entscheidungen, wie dem nicht alltäglichen Fall, zu wenig an den für den einzelnen Gefangenen geltenden Umständen orientiert, wird man den unterschiedlichen Persönlichkeiten der Inhaftierten nicht gerecht.

Individuellere an dem einzelnen Gefangenen und nicht der Gesamtheit der Inhaftierten ausgerichtete Entscheidungen setzen voraus, dass man die unterschiedlichen Gefangenengruppen mehr voneinander trennt. Die problematischen Inhaftierten, die einer ausgeprägteren Überwachung bedürfen, bringt man sinnvollerweise getrennt von den kooperativen und mitarbeitswilligen Inhaftierten in unterschiedlichen Wohnbereichen unter.

Da eine Trennung und Differenzierung im geschlossenen Vollzug nur in sehr begrenztem Umfang erfolgt, gelten die organisatorischen und baulichen Sicherheitsvorkehrungen für alle Inhaftierten. Die Vorkehrungen gegen Flucht, kriminelle Handlungen innerhalb der Anstalt, Unterdrückung von Gefangenen durch Mitgefangene, Gewalt, Drogenhandel und -konsum erfassen die meisten Gefangenen des geschlossenen Vollzuges trotz deren Unterschiedlichkeit. So sind die Haftbedingungen für die meisten gleich und somit, ohne dass dies erforderlich ist, in gleichem Umfang unnötig restriktiv.

Im Strafvollzug gibt es Ersttäter ohne kriminelle Vergangenheit, vorbestrafte Gefangene, die endlich ihr Leben in den Griff bekommen wollen, Gefangene, deren Kriminalität verfestigt erscheint, Gefangene, die sich in kriminelle Subkulturen innerhalb der Anstalt eingliedern oder eingliedern lassen und problematische Machtpositionen einnehmen, psychisch kranke Inhaftierte, Gefangene mit Suchtproblematik, mit Aggressionsproblematik, Sexualstraftäter, Gefangene mit traumatischen Erfahrungen aus Kriegsgebieten, Inhaftierte mit und ohne Migrationshintergrund, Menschen aus den untersten sozialen Schichten. Man findet Gefangene mit und ohne tragfähige soziale Beziehungen wie zu Ehe- oder Lebenspartnerinnen und -partnern, Kindern, Eltern oder Geschwistern, Gefangene, zu denen die meisten gehören, die nicht über einen schulischen und beruflichen Abschluss verfügen. Man trifft auf Inhaftierte mit hohen Schulden, Inhaftierte, die vor der Inhaftierung obdachlos waren, junge und ältere Menschen, kranke und leidlich gesunde Inhaftierte, Häftlinge, die dem nachteiligen Einfluss von Mitgefangenen unterliegen oder die sich erpressen lassen, Inhaftierte, die Behandlungsangebote wie therapeutische Gruppen, Einzeltherapie und Selbsthilfegruppen wie die der Anonymen Alkoholiker motiviert in Anspruch nehmen, andere, die dies strikt verweigern. In Justizvollzugsanstalten wird man weniger auf Menschen aus der Mittelschicht stoßen, noch seltener der oberen Mittel- oder der Oberschicht.

Trotz dieser Unterschiedlichkeit leben nahezu alle Gefangenen des geschlossenen Vollzuges hinter hohen Mauern mit Stacheldraht, aufwendiger Sicherheitstechnik und in Hafträumen mit karger Ausstattung. Alle haben eine geringe Bewegungsfreiheit in den Hafthäusern und müssen zum Beispiel Besucherräume nutzen, die fast ausschließlich unter Sicherheitsgesichtspunkten konzipiert sind.

Die mit Sicherheitserwägungen begründeten restriktiven Haftbedingungen sind jedoch nur für die Minderheit der Gefangenen notwendig. Für die meisten Gefangenen sind deutlich geringere organisatorische, bauliche und technische Sicherheitsvorkehrungen erforderlich. Auch innerhalb des geschlossenen Vollzuges könnte einem Großteil der Inhaftierten deutlich mehr Freiheiten eingeräumt werden, die sich denen des offenen Vollzuges annähern. Freiheiten, die Lernfelder für die Gefangenen eröffnen, wie zum Beispiel tagsüber weitestgehend offene Hafträume statt verschlossener Türen. Ob ein Gefangener soziale Kompetenz besitzt oder sich an Regeln halten kann, bleibt im Dunkeln, wenn er überwiegend eingesperrt ist. Ob er in der Lage ist, sich selbst zu versorgen und mit seinen Einkünften zu wirtschaften, wird man nur erfahren können, wenn man Selbstversorgung, Einkaufen und Kochen – wenngleich hinter den Mauern – ermöglicht. Dies setzt eine ausreichende Bewegungsfreiheit innerhalb der Gefangenenwohnbereiche voraus.

Viele Beschränkungen hängen mit Sicherheitsmaßnahmen zusammen, die die Gefahr reduzieren sollen, dass Drogen in die Anstalten eingebracht werden. Die Vielzahl der Gefangenen mit einer Drogenproblematik beeinflusst den Umfang der Restriktionen. Es ist daher insbesondere überfällig, mehr zwischen Gefangenen mit und ohne Drogenproblematik zu differenzieren, bei den Gefangenen mit Suchtproblematik zudem nach dem Umfang der Gefährdung.

Die allzu dürftig ausgeprägte Differenzierung zwischen den Gefangenengruppen des geschlossenen Vollzuges hat zur Folge, dass das gesetzliche Vollzugsziel der Resozialisierung der Gefangenen weniger konsequent verfolgt werden kann.

Neben einer guten Organisationsstruktur ist die Sicherheit der Anstalt zwar Voraussetzung für deren Funktionsfähigkeit. Eine Einrichtung, in der alles drüber und drunter geht und die kriminelle Elite der Gefangenen wie in vielen Gefängnissen in Süd- und Mittelamerika das Sagen haben, wäre sicherlich ein Graus. Dennoch ist nicht die Sicherheit das Vollzugsziel, sondern nach dem Landesjustizvollzugsgesetz die Resozialisierung das zentrale Anliegen. Die Sicherheit ist zwar eine der wichtigsten Grundlagen, um überhaupt resozialisierungsorientiert arbeiten zu können, aber kein Selbstzweck. Sie besitzt eine wichtige, aber eben doch nur dienende Funktion.

Trotzdem greift ein hohes Sicherheitsniveau für die meisten Gefangenen des geschlossenen Vollzuges und nicht ausschließlich für die problematischen Inhaftierten. Würden unterschiedliche Maßstäbe gelten, könnten sich die Bediensteten deutlich mehr Zeit für die Einzelbetreuung und vor allem die Kommunikation mit den Gefangenen nehmen. Beispielsweise könnte man die zeitlichen Intervalle für die regelmäßigen aufwändigen Durchsuchungen der Hafträume im geschlossenen Vollzug bei Gefangenen, die unter Sicherheitsaspekten unproblematisch sind, deutlich vergrößern, würde man sie in getrennten Haftbereichen oder Justizvollzugsanstalten unterbringen.

Eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass Sicherheitslücken und aktuelle Gefährdungen von den Mitarbeitern wahrgenommen werden können, ist eine gute und intensive Kommunikation mit den Gefangenen. Mancher Hinweis stammt von Inhaftierten. Ist eine gute Beziehung vorhanden, wird man Ratschläge von Inhaftierten erhalten; Tipps zu Gefangenen, die andere erpressen oder zu Drogenkonsum verleiten, Hinweise auf Gefangenen, die sich in einer psychischen Krise befinden. So wies mich ein Gefangener im Gespräch auf eine bauliche Schwachstelle in der JVA Diez hin, die damals für einen Ausbruch hätte genutzt werden können. Über ein Tor in der Nähe der Werkhallen hätte man leicht auf das Dach eines Gebäudes klettern und sich von dort weiter Richtung Außenmauer fortbewegen können. Ein selbst durchgeführter Kletterversuch überzeugte mich von dieser baulichen Sicherheitslücke.

Der Arbeitsalltag des allgemeinen Vollzugsdienstes darf nicht übermäßig auf Sicherheits- und Ordnungsaufgaben reduziert werden. Der Beruf ist, wie während der Ausbildungszeit in der Justizvollzugschule in Wittlich vermittelt wird, zu einem erheblichen Teil ein pädagogischer und sozialer Beruf. Auch mein Vorgänger als Anstaltsleiter der JVA Diez Dr. Bandell vertrat offensiv diese Auffassung. Das Selbstverständnis dieser Mitarbeiter entwickelt sich aber in eine andere Richtung, wenn der Arbeitsalltag überwiegend von Sicherheits- und Ordnungsaufgaben bestimmt wird.

Die „Justizvollzugsgeschichte“ rund um den Besitz von Fernsehgeräten in den Hafträumen zeigt, wie sich ein Maßstab ändern kann. Das Strafvollzugsgesetz – damals ein bundesdeutsches Gesetz – sah früher nur im Ausnahmefall den Besitz von Fernsehgeräten im Haftraum vor. Grundsätzlich wurden die Gefangenen auf die Nutzung der Geräte in den Gemeinschaftsfreizeiträumen verwiesen. Dort mussten sich die Gefangenen auf einen der damals wenigen Sender einigen. Wer die kräftigsten Oberarme hatte, bestimmte die Programmauswahl. Dieter Bandell ging Anfang 1990 davon aus, dass bald eine Änderung des Strafvollzugsgesetzes zum Fernsehempfang ins Haus bzw. Gefängnis stehen würde. Einzelgeräte sollten künftig im Haftraum zugelassen werden. Im Vorgriff auf die neue gesetzliche Regelung wies der Anstaltsleiter die Vollzugsabteilungsleiter an, sie mögen doch Fernsehgeräte großzügig genehmigen. Mitarbeiter gaben den Gefangenen Tipps, wie sie am besten die Anträge begründen sollten. So wurde argumentiert, man habe schreckliche Schweißfüße und wolle sich bei einem Aufenthalt im Freizeitraum zum Fernsehen nicht den Aggressionen der Mitgefangenen aussetzen. Dieses sehr einleuchtende Argument, das zugleich dafürsprach, dass die so argumentierenden emphatischen Inhaftierten auf dem Pfad der Tugend schon weit fortgeschritten waren, führte stets zu wohlwollenden Entscheidungen.

Eine Differenzierung zwischen den Gefangenen und Gefangenengruppen auch in Zeiten voll belegter Gefängnisse ist zumindest in kleinen Schritten umsetzbar, um deutlich mehr Gefangenen als bislang individuellere und damit humanere Haftbedingungen zu gewährleisten. In der JVA Rohrbach, die kleinteilige bauliche Untergliederungen mit Stationen, die mit 20 bis 25 Gefangenen belegt sind, besitzt, sind in einigen dieser Wohneinheiten große Zeitfenster vorgesehen, innerhalb derer sich die Gefangenen in den Stationen frei bewegen können. So können die Gefangenen Kontakt zueinander aufnehmen und sich treffen. Neben dem Sportangebot, das maximal zweimal wöchentlich in Anspruch genommen werden kann, der täglichen Stunde Aufenthalt im Hof und der Arbeit oder Ausbildung, zu der viele Inhaftierte jedoch mangels eines ausreichenden Angebots oder aus anderen Gründen keinen Zugang haben, bieten die Zeiten mit offenen Hafträumen zudem die Möglichkeit, der Einsamkeit der Zelle zu entfliehen.

Die offene Freizeit hat sich bewährt. Sie hat für Entspannung im Hafthaus gesorgt, denn „Zellenvollzug“, der überwiegend die Gefangenen wegsperrt, ist schädlich und letztlich gefährlich. Dauerhaftes Einschließen erzeugt einen enormen psychischen Druck bei den Inhaftierten. Auch steht den Bediensteten mit der offenen Freizeit ein Beobachtungsfeld zur Verfügung, indem wahrgenommen werden kann, ob ein Gefangener soziale Fertigkeiten besitzt, kommunikationsfähig ist und sich an Regeln halten kann.

Eine sinnvolle Differenzierung der Gefangenen begegnet jedoch einigen Hindernissen. In den meisten rheinland-pfälzischen Einrichtungen findet man als Differenzierungsmöglichkeit in den Gefängnissen zumeist nur das Freigängerhaus und allenfalls die ein oder andere Vollzugsabteilung des geschlossenen Vollzuges, wo die Gefangenen über größere Bewegungsfreiheiten verfügen. Einer weitergehenderen Untergliederung der Einrichtungen steht zumindest entgegen, dass die Justizvollzugsanstalten zumindest voll, oftmals sogar überbelegt sind. Dann besteht wenig Spielraum für eine größere räumliche Aufteilung der Anstaltsbereiche nach Behandlungs- und Sicherheitskriterien, weil jeder Haftplatz ausgenutzt werden muss. Sobald ein Haftraum frei wird, muss er unmittelbar neu belegt werden, ohne dass stets darauf geachtet werden kann, ob der neu in die JVA gekommene Gefangene in den jeweiligen Haftbereich passt. Es müssten daher mehr Haftplätze geschaffen werden, damit Belegungsspitzen besser aufgefangen werden können.

Auch die Zuständigkeit der rheinland-pfälzischen Justizvollzugsanstalten unterscheidet kaum nach den für die einzelnen Gefangenen geltenden Sicherheits- und Behandlungsanforderungen. Abgesehen von der JVA Zweibrücken, wo ein Teil der dort untergebrachten Gefangenen eine Berufsausbildung absolvieren kann, der sozialtherapeutischen Anstalt in Ludwigshafen, die nur über 66 Haftplätze verfügt und einer kleinen sozialtherapeutischen Abteilung der JVA Diez, wird die Zuständigkeit der Justizvollzugsanstalten ausschließlich von der Höhe der zu verbüßenden Freiheitsstrafen und davon, wo ein Gefangener seinen letzten Wohnort hatte, bestimmt. Die Haftdauer korreliert jedoch nicht ohne Weiteres mit den für die einzelnen Gefangenen geltenden unterschiedlichen Sicherheitsanforderungen. Eine höhere Freiheitsstrafe muss nicht zwingend mit einem größeren Sicherheitsrisiko verbunden sein. Auch unter den Gefangenen mit längeren Freiheitsstrafen gibt es zum Beispiel Inhaftierte ohne Drogenprobleme und Gefangene, bei denen die Straftat nur ein Einzelereignis im Lebenslauf ist. Daher gibt es unabhängig von der Strafhöhe einen größeren Differenzierungsbedarf bei der Zuständigkeit der Anstalten, die individueller nach den Sicherheits- und Behandlungsanforderungen ausgerichtet werden sollten.

Es mag überraschen, dass der Gedanke der Differenzierung in der Geschichte des Strafvollzuges schon einige Jahre auf dem Buckel hat. So gab es in der „Vorläufigen Vollzugsordnung“ für Rheinland-Pfalz vom 24.01.1951, die später von anderen Regelungen und erst 1976 von einem Bundesgesetz abgelöst wurde, eine Vorschrift, die diesen Gedanken enthielt. In den Nummern 156 bis 161 war für Gefangene, die erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßten, der sogenannte Erstvollzug geregelt. Er sah für diese Inhaftiertengruppe eine im Vergleich zu den anderen Gefangenen nach damaligen Maßstäben deutlichere Resozialisierungsorientierung und erleichterte Haftbedingungen mit mehr Behandlungsangeboten und auch Vergünstigungen vor. Nummer 157 beschrieb dessen Aufgabe:

„Der Erstvollzug soll erwachsene Verurteilte, deren Tat ein Straucheln und nicht der Ausdruck einer verbrecherischen Persönlichkeit ist, davor bewahren, ins Verbrechertum abzugleiten. Diese Sonderaufgabe fordert verstärkt Aufmerksamkeit darauf, dass das Ehrgefühl des Gefangenen, seine Widerstandskraft gegenüber Versuchungen, das Bewusstsein seiner Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft und sein Selbstvertrauen gestärkt, und das ihm am Aufbau eines neuen Lebens geholfen wird.“

Wenngleich der Text der Vorschrift nach heutigen Maßstäben kritisch zu sehen ist, imponiert der Gedanke einer Separierung von Ersttätern. Allerdings wäre der Gesichtspunkt der Erstinhaftierung zu eng. Für einen mehr behandlungs- und weniger sicherheitsorientierten Strafvollzug eignen sich letztlich alle zu einer Mitarbeit am Vollzugsziel der Resozialisierung motivierten und unter Sicherheitsgesichtspunkten geeigneten Inhaftierten.

Autor

Norbert Henke, 1957 in Mainz-Hechtsheim geboren, Sozialpädagoge in der Heimerziehung im Landesjugendheim Ingelheim, dann Jura-Studium. Nach den beiden Staatsexamen Tätigkeiten in den Justizvollzugsanstalten Frankenthal, Koblenz, Diez und Wöllstein (JVA Rohrbach), zuletzt auch als Anstaltsleiter bis 2020.
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Titel: 31 Jahre hinter Gittern