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Dropout

Roman

©2023 404 Seiten

Zusammenfassung

Ingmar war mal wer in der Provinz. Er hatte Geld, Familie, eine eigene Firma. Heute mit fast Mitte 50, hier in Berlin, hat er nichts mehr. Nicht mal eine Wohnung oder Lust aufs Leben. Doch sein Hippie-Freund Tobi träufelt ihm nach und nach Kraft und Zuversicht ein. Oder auch mal MDMA. Ein mysteriöser Anruf schickt die beiden mit Tobis französischem Wagenburg-Buddy Pierre auf einen absurden Roadtrip quer durch Europa – Tobis seit Jahren verschollener Vater, ein kauziger Wissenschaftler, steckt in der Klemme. Für Ingmar scheint eine andere Zeit anzubrechen. Er stellt sich sogar seiner egomanen Vergangenheit, die sein eigenes Schicksal und das vieler anderer gegen die Wand fuhr. Aber seine Schmerzen im Bauch werden immer heftiger, Blut husten kann auf Dauer einfach nicht gesund sein...
In Dropout lässt Fabian Giese die Vater-Sohn-Beziehungen der drei Protagonisten aufeinanderprallen. Aber auch gegenwartspolitische Themen wie toxische Männlichkeit, Rassismus und Turbokapitalismus verwebt er mit dichter und direkter Sprache zu einer turbulenten Erzählung, die immer wieder die Grenzen zwischen Realität, Traum und Trip verschwimmen lässt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Alle Viere von sich gestreckt lag er da. Wie ein Schneeengel, der aufgegeben hat, weiter mit den Flügeln zu schlagen. Leerer Blick.

„Wenn es doch Schnee wäre“, dachte er sich, „dann könnte ich einfach meine Augen zumachen. Einschlafen.“

Aber es war einfach nur Dreck, der von unten an ihn ransuppte. Dreck und Staub des Hochsommermolochs, dessen parasitärer Bewohner er war. Dreck und Staub, den der kurze, aber heftige Gewitterschauer in graue, miefende Matsche verwandelt hatte.

„Von wegen Sommerregen duftet immer so frisch“, grummelte er vor sich hin.

Der modrige, leicht beißende Gestank zog sogar ihm merklich in die Nase. Und das, obwohl er mittlerweile mehr als abgehärtet war, was unangenehme Gerüche betraf. In der U-Bahn wechselten wegen ihm die Menschen angeekelt das Abteil, ihre Blicke beschämt zu Boden oder aus dem Fenster raus gerichtet. Verübeln konnte er es ihnen nicht. Hätte er früher nicht anders gemacht. Aber dieser Fakt änderte nichts daran, dass es einfach wehtat – auch wenn er sich das nicht eingestehen wollte. Seine Klamotten umschlackten ihn, sonst immer völlig verkrustet und seit Wochen nicht gewaschen, jetzt komplett durchnässt. Sie zogen ihn nochmal mehr zu Boden. So wie das von ihm runtertriefende Wasser einer brackigen Brühe entsprach und dabei eine ungewollte Teilreinigung vollzogen wurde, hatte er das Gefühl, dass seine gesamte Rückseite die doppelte Menge an zivilisatorischer Ursuppe gierig einsog. Er war ein dreckiger unbedeutender Tropfen im ursprünglichsten aller Kreisläufe – von Staub zu Scheiße zu Staub zu Scheiße zu Staub und immer so weiter.

Der Dreck war über die Monate zum Panzer geworden. Versuche, ihn abzulegen, waren zwecklos. Das Gewicht drückte erbarmungslos auf die Schultern. Bucklig kam er mittlerweile daher. Und dabei war er vor drei Wochen gerade erst 52 geworden. Dem Klischee nach für Männer eigentlich das beste Alter. Etabliert, abgesichert, erfolgreich, faltiger als in den Zwanzigern, aber immer noch attraktiv genug, um bei Weihnachtsfeiern Werkstudentinnen und bei Messebesuchen Hostessen abzugreifen.

Er war am Ende. Sein Leben ein sinnloses Dahinsiechen. Früher hatte er sich in seinem Hochmut Unsterblichkeit gewünscht. Heute wäre er froh, sterblicher zu sein. Seine Welt: ein emotionaler Kühlschrank.

„Kann bitte jemand die Tür zumachen, damit endlich das Licht ausgeht?“

Er blinzelte hektisch. Ein Tick, der vor geraumer Zeit über Nacht gekommen war. Abrupte und unkoordinierte Verschlusszeiten für abertausende triste Bilder, die sich Tag für Tag auf seiner Netzhaut einbrannten. Er selbst hatte keine Lust, in diesem Museum der Retrospektive umherzuwandeln. Was so viele in dieser Stadt auf ihrem yuppieesken Selbstfindungstrip verzweifelt versuchten, gelang ihm tatsächlich problemlos: im Augenblick zu leben. Also, nicht wirklich leben. Eher dahinvegetieren. Aber das, was hinter ihm lag, und noch viel mehr das, was folgen sollte, spielte für ihn keine Rolle mehr. Gedanken an die Vergangenheit verursachten Schmerz (die Phase der Selbstkasteiung hatte er hinter sich), also hatte er sich selbst so konditioniert, Erinnerungen an die gute alte Zeit innerhalb von Sekundenbruchteilen verpuffen zu lassen. Nun war er schon an dem Punkt des Vergessens angelangt. Blasse Nebelschwaden hingen irgendwo da hinten in den Wirrungen seines nur noch an vereinzelten Stellen behaarten Kopfes, traurige Büschel verfilzter Haare hingen herab wie Trauerweiden. Aber auch diese wattigen Episoden seines alten Ichs würden bald restlos verschwunden sein. Und wie gesagt, noch extremer war er mit allem Zukünftigen. Wenn er nur an das Wort Zukunft dachte, musste er verbittert auflachen, was meist in röchelnd-rasseligem Husten resultierte.

„Wie dumm sind die Leute da draußen eigentlich alle? Denken, dass alles, dem sie Zukunft voranstellen, höher, schneller, geiler bedeutet? Zukunftsvision, Zukunftsforscher, zukunftsweisend … immer nur Fortschritt, anhäufen, mehr, mehr, mehr. Keiner bleibt auf der Strecke. Und wenn doch, hat er’s nicht anders verdient. Schwach oder dumm oder faul oder einfach nur Pech oder alles davon.“

Diese ethisch-philosophisch angehauchten Abhandlungen konnten ihn ewig beschäftigen. Ab und an wuchsen sie zu Streitgesprächen aus, er duellierte sich mit sich selbst, brabbelte und plapperte unentwegt vor sich hin, schob die Ärmel seines Sweatshirts mit den ausgeleierten Bündchen hektisch über die Ellenbogen. Nach zwei Sekunden das gleiche Spiel, weil sie wieder runtergerutscht waren. Rote Striemen auf den Unterarmen – immer dieses Kratzen mit seinen ungeschnittenen, schorfig-rauen Fingernägeln. Dabei hüpfte er eine nur ihm bekannte Choreographie, die mit zunehmender Diskussionsintensität immer wilder wurde. Jedes Mal, wenn es zu solchen Ausbrüchen an sehr belebten Ecken, wie dem Alexanderplatz oder dem Hermannplatz, kam, bildete sich um ihn herum eine ovale Freifläche, unsichtbar abgekordelt zu den dutzenden Passanten, die um seinen Dunstkreis herumflossen, die Köpfe schüttelnd, die Augen verdrehend. Das war kein Kunstprojekt, das aufrütteln sollte. Das war ein Theaterstück in unzähligen Akten, das das Leben geschrieben hatte – mit Blut, Schweiß, Tränen, Speichel, Sperma. Das Publikum war ihm eigentlich egal. Es störte ihn aber, dass niemand außer ihm Position bezog, sich auf eine Seite schlug, mit einstieg in den verbalen Schlagabtausch. Hier ging es um was! Hier wurden gerade die tatsächlichen Grundfesten unseres Daseins auseinandergenommen! Wie konnte das allen so scheißegal sein?! Alles dumme Lämmer, die allem und jedem hinterhertrotten, was nur im Ansatz Status, Anerkennung, Befriedigung, Ablenkung versprach. So, so lange war er einer von ihnen gewesen, aber das lag jetzt hinter ihm. Diese Ignoranz brachte ihn auf die Palme, trieb den Puls in die Höhe. Die Adern an seiner Schläfe traten pochend hervor, Schweißperlen rannen die Stirn herunter, brannten in den eh schon stark geröteten, trockenen Augen.

Für das Ende dieser brachialen Performances gab es eigentlich nur zwei Szenarien: Entweder sank er irgendwann komplett erschöpft in sich zusammen und schlief komatös ein. Oder die netten Herrschaften in Blau kamen vorbei, verwiesen ihn des Platzes, redeten auf ihn ein, packten ihn letztendlich unwirsch, sodass die Knochen knackten, und warfen ihn ohne Umschweife in eine karge Zelle, in der es nicht mehr gab als eine dünne Plastikmatte und kaltes Licht. Ein Loch im Boden fürs Nötigste. Blutige Knöchel waren nach jedem dieser Aufenthalte normal. Der Schorf hatte gar keine Chance, zu aschfahler Haut heranzureifen. Ein ums andere Mal landete er krachend auf den weißen Kacheln. So schnell, wie die wässrig roten, kryptischen Krakeleien an der Wand nach seiner Freilassung abgewischt wurden, so schnell geriet er jedes Mal in Vergessenheit bei den Beamten vor Ort. Nach ihm wurde der nächste Verrückte abgeliefert, die Zellentür hätte gut eine Drehtür sein können. Empathie: Fehlanzeige. Bürokratische Wahrung der öffentlichen Ordnung. Da war kein Platz für Einzelschicksale, die solche Verhaltensweisen eventuell hätten erklären können. Nach Stechuhr und Regel 35b Absatz schieß-mich-tot wurde verfahren. Völlig egal, ob es sinnvoll war. Hauptsache Kollege Bürstenschnitt konnte einen Haken dahinter machen, die x-te Beschwerde, das x-te Vergehen in seiner Akte vermerken, um dann beruhigten Gewissens zum Abendbrot mit Bierwurst und Spreewaldgürkchen zu fahren.

Der Regen und die Wolkenwand, die kurzzeitig apokalyptisch anmutete, hatten sich verzogen. Das unschuldig strahlende Blau bot ihm eine Leinwand, auf der seine verdreckten Finger Endlosschleifen zogen. Aber nichts blieb hängen. Er malte weiter, abwesend, dennoch irgendwie fasziniert von der Weite in seinem Blickfeld. Plötzlich tauchte eine ausgestreckte Hand vor seinen Augen auf. An der Hand hing ein Typ, den er kannte. Dieses schlitzohrige Grinsen war einzigartiger als sein Fingerabdruck: Tobi – ein, wenn man Ingmar fragte, auf Pilztrip hängengebliebener Mittvierziger, der durch die Parks Berlins schwebend göttliche Liebe „spreadete“ und Anglizismen jenseits von Gut und Böse verwendete, weil er sich vor zehn Jahren mal für ein paar Wochen in einer hawaiianischen Kommune verlustiert hatte und ihn die Vibes seitdem nicht mehr losließen. An und für sich war er aber ein dufter Typ.

„Ey, Ingo! Was machst du für weirden Stuff hier? Das nenn’ ich mal ’nen Schlamm-assel“, hechelte Tobi ihm entgegen, krakelig lachend.

Tobi hatte ein Faible für Wortspiele, für die sich 99 Prozent seiner Mitmenschen schämen würden. Außerdem konnte Tobi es sich einfach nicht in seine in esoterischen Sphären verlustierende Birne packen, dass er Ingmar hieß. Nicht Ingo. Aber was bedeutete das schon, eigentlich war’s völlig egal. Ingmar oder Ingo. Beides Kacknamen. Zu Anfang hatte er noch versucht, ihm Eselsbrücken zu schaffen:

„Na: Ingmar. So wie Ingmar Bergman.“

„Ah, war das nicht der, der schon sieben Mal aufm Mount Everest war und – so funny! – Bergmann heißt?“

„Nein, das ist ein ziemlich berühmter … ach, ist doch auch latte. Vergiss es!“

Trotzdem hatte er Tobi irgendwie ins Herz geschlossen. Oder eben in das, was die letzten Jahre des Selbsthasses übriggelassen hatten. Tobi war ein aufrechter Kerl. Vielleicht nicht mehr der Hellste. Aber grundehrlich. Er log tatsächlich nie. Dem hatte er abgeschworen. Einfach so. Damals, als er zum zweiten Mal nackt auf LSD durch den Grunewald tanzte und alteingesessene Seniorinnen in Allwetterjacken bei ihrem samstäglichen Nordic-Walking-Stammtisch die Schamesröte in die gebotoxten Gesichter trieb. Zum einen, weil er schrecklich schief Schlager aus den späten Fünfzigern trällerte. Zum anderen, weil sein Gemächt tatsächlich eben jenen Namen verdient hatte und selbst Poolboy Pedro aus Guadalajara, der im vergangenen Sommer bei Claudia und ihren Mädels reihum gegangen war, nicht hätte mithalten können. Das Gemächt baumelte, während Tobi taumelte. Und in den kindischen Untiefen seines innersten Ichs blickte er in einen Spiegel, in dem ein mit pinker Dauerwelle aufgehübschtes Krokodil zu ihm meinte, dass lügen ja sowas von bourgeois sei und er deshalb doch bitte zukünftig davon abrücken solle. Tobi und das Krokodil gaben sich ein High Five und damit war ‚der Deal done‘. So hatte ihm Tobi eines nasskalten Novemberabends davon vorgeschwärmt. Für Ingmar war es die einzige Konstante, die in seinem Leben übriggeblieben war: Tobi, der immer die Wahrheit sagte. Ein letzter kleiner Strohhalm auf dem sonst restlos niedergemähten Feld, auf dem einst die prächtigsten Illusionen blühten. Und genau deshalb konnte Ingmar diesem bärtigem Waldschrat (so bezeichnete er ihn still und heimlich für sich) nicht im Geringsten böse sein, als er ihn eben aus der fahrigen Himmelspinselei ge-eyt hatte.

Tobi zuttelte eine schon ziemlich vergilbte Einkaufsplastiktüte aus der Seitentasche seines Sommerparkas, faltete sie säuberlich auf, als wäre es ein edler Flokati, und platzierte dann seinen Hintern darauf, um nicht wie Ingmar die Schlacke des unbegrasten Parkgrunds in die Kimme gepresst zu bekommen. Natürlich im Schneidersitz. Ingmar richtete sich schwer ächzend auf. Seine Sitzhaltung glich einem Sack Mehl, den man achtlos in die Ecke gepfeffert hatte. Und bei jeder Bewegung des Oberkörpers dieser dumpfe Schmerz im Brustkorb, weit ausstrahlend, ohne dass er das genaue Zentrum ausmachen konnte. Tobi streckte ihm ein erstaunlich kühles Sterni hin.

„Seine verdammt hässliche Jutetasche hat also auch positive Seiten“, dachte sich Ingmar. „Hoffentlich verstecken sich da noch mehr von der Sorte …“

Sie prosteten sich zu, ein erster tiefer Schluck, es prickelte nicht im Bauchnabel, aber die Kehle runter. Da erst merkte Ingmar, wie lange er wohl nichts mehr getrunken hatte. Der Wunsch nach Flüssigkeit lag gleichauf mit dem Wunsch nach Alkohol. Er musste sich zusammenreißen, die Flasche nicht mit wenigen großen Schlucken zu leeren. Auch Tobi waren Ingmars gierige Augen nicht entgangen.

„Sachte, sachte, Dude. Ohne bewussten Genuss sind wir doch nix anderes als asselige Kellerasseln, right?“

Zur Veranschaulichung ließ er einen Käfer mit schimmerndem Panzer vom Boden auf seine Finger krabbeln und betrachtete ihn anschließend aus nächster Nähe.

„Findest du nicht auch, dass allein schon diese Gedanken Fluch und Segen zugleich sind? Also dass wir Menschen die einfach so haben, gar nicht ohne können, unser Hirn ständig rotiert und alles mit einem Sinn versehen will? … Ingo? Ingo! Listen to me!“

Wenn ihm jemand nicht zuhörte, konnte Tobi echt schnell salzig werden. Dann schnaubte er affektiert, was seiner Echauffiertheit eher komödiantischen Charakter verlieh, als dass es beim Gegenüber für erhöhte Aufmerksamkeit sorgte. So war es auch der Hauch eines süffisanten Grinsens, den Tobi auf Ingmars Gesicht erhaschte.

„Ey, du bist echt ‘n ass! Bier einheimsen, aber keine Manieren hier mit deinem Buddy. Du bist mir einer …“, raunzte Tobi.

„Ja ja ja, komm mal runter“, brummte ihm Ingmar entgegen. „Ist nicht so mein Tag. Hab’ scheiße geschlafen. Und kacken war ich seit zwei Tagen nicht mehr. Backsteine im Bauch.“

Er zog seinen Pulli hoch, um wohl zu zeigen, dass dem auch so war. Tobi sah nichts außer einen ausgemergelten Rumpf mit Schmerbauchansatz.

„Äh, ok, sorry. Wenn ich das gewusst hätte. Will dich ja nicht nerven. Dachte nur, dass du vielleicht ein bisschen …“

„Komm, lass gut sein, passt schon“, fiel Ingmar ihm ins Wort.

Er wusste, wenn sich hier einer entschuldigen musste, dann er. Einen Freund wie Tobi hatte er eigentlich gar nicht verdient. War er tatsächlich so was wie ein Freund? Konnte nicht sein. Mit ihm würde sich doch keiner ernsthaft abgeben wollen. Er war ein Stück Abfall, nicht mehr, nicht weniger. Ausgekotzt vom Erfolgsroulette, den ganzen Einsatz auf die falsche Zahl gesetzt. Und schon fuhr Ingmar eine weitere Runde in der Selbstmitleidsachterbahn, hoch und runter, immer schneller, Looping nach Looping, im Magen rumorte es kräftig, Säure stieg ihm in die Speiseröhre. Er spülte die Übelkeit zackig mit Bier runter. Der letzte Schluck schmeckte fahl. Das Prickeln war weg, welch’ Analogie auf sein Leben, sinnierte er in sich rein. Seine dürren Knochen schlotterten.

„Du, ich würde jetzt mal wieder lossteppen. Irgendwelche plans hab’ ich für heute Abend noch keine gemacht. Willste dich mit mir treiben lassen?“

Dabei machte er wellenartige Bewegungen mit seinen zu den Seiten ausgestreckten Armen, wiegte den Kopf hin und her und setzte einen Hundeblick sondergleichen auf – aber eher à la dahergelaufener Mischling im letzten Lebensabschnitt und nicht als kindchenschematisch für Entzückung sorgender Vorzeigewelpe.

„Ich würde auch erst mal in mein Crib gehen, um mir was hinter die Kauleiste zu heften. Hab’ zu viel gekocht, und bevor ich’s rausschmeißen muss. Komm schon, gib dir einen Ruck“, Tobi versetzte ihm einen fast liebevollen Schulterschubser.

„Oooh maaan, okeee … bevor du noch ewig rumnervst!“

Es war ihr kleines, nur ihnen bekanntes Ritual, und obwohl es so offensichtlich war, spielten sie beide ihre Rollen nach all diesen Monaten weiterhin sehr überzeugend. Ingmar, der sich nur nach ewiger Bettelei überreden ließ, mitzukommen, und sich dabei nichts sehnlicher wünschte, um nicht allein zu sein. Tobi, der ein feines Gespür hatte, sich über Ingmars Verhalten maßlos hätte aufregen können, es aber unterließ, da ihm bewusst war, welche Ankerfunktion er für Ingmar hatte. Im echten Leben, also in dem Leben, in dem bei Ingmar alles nach Plan gelaufen war und er dabei schön geschmeidig in der Spur lief, hätten sie sich never ever kennengelernt. Da war sich Tobi sicher. Ihre Bubbles hätten sich voneinander abgestoßen, für einen kurzen Augenblick wären die Hüllen vielleicht aneinander gerieben worden, ohne dabei den anderen überhaupt wahrzunehmen. Und dann dachte das Schicksal sich: So, den Ingmar schnapp’ ich mir mal, zeig dem, was ’ne Harke ist. Große Nadel, schützende Bubble ade. In Stein gemeißelte Gewissheiten und kristallklare Träume, die zerbröckelten und zerplatzten.

Tobi schnappte sich Ingmars Hand, zog ihn hoch, klopfte auf dessen T-Shirt rum, was aber nicht wirklich half. Nass und dreckig war es nach wie vor. Den alten Bundeswehrrucksack über die Schulter geworfen, schlurfte Ingmar, nur nach außen hin missmutig dreinblickend, aber innerlich himmelhoch jauchzend, diesem liebenswerten Hippie-Klischee hinterher. Die nassen Socken in den zerschlissenen Adidas-Tretern waren kein Vergnügen. Das Resultat nach einem guten Kilometer: Blasen auf den Blasen, die auf den Narben der vorangegangenen Blasen munter vor sich hin schmerzten. Früher genoss er im Freundeskreis einen Ruf als passionierter Wanderer. Wenn jemand auf der Suche nach herausfordernden und unbekannten Trekking-Touren in den Dolomiten oder im gerölligen Gebirge Teneriffas war, dann rief man Ingmar an, der ausführlichst Auskunft gab und gerne auf seinen Blog verwies. Laeuftbeimir.de. Die Besucherzahlen hatten sich in Grenzen gehalten. Wahrscheinlich lag es am Umlaut, der bei der Eingabe der URL insbesondere legasthenische Wanderer völlig überforderte. Oder der zu große kompetitive Charakter seiner Auffassung von Wandern. Es ging nämlich vor allem darum, immer schneller zu sein als die anderen, die Tour noch länger und kraftraubender zu machen, als Sieger aus dem Ganzen hervorzugehen – die Schönheit der Natur spielte zum Beispiel nur noch eine untergeordnete Rolle. Das war was für Frauen.

Seit sein Leben eine 180-Grad-Wende absolviert und ihm dabei den ausgestreckten Mittelfinger in die Harnröhre gerammt hatte, hasste er es zu laufen, vom Wandern ganz zu schweigen. Das war halt echt so ein Ding für Reiche. Wandern. Sinnbefreites Rumlatschen, weil man es sich leisten konnte. Schon mal einen Goldminenarbeiter aus Mali dabei erwischt, der sich an seinem freien Tag des Monats die Walkingstöcke schnappte und mit einer flotten Melodie auf den Lippen losstiefelte? Wohl kaum. Mit all diesem Groll im Kopf, mit diesem zunehmend klaren Blick auf die Verhältnisse in seinem Kiez, dieser Stadt, dem Land, den drumherum befindlichen Ländern, den anderen Kontinenten verbitterte Ingmar immer weiter. Wir sind alle gefickt – und wir werden andauernd weiter gefickt. Und niemand scheint ein Problem damit zu haben. Alles eine große Maskerade. Er schnaubte und trottete und schnaubte.

„Wie lang denn noch, Tobi?“

„Wir haben es gleich, wirklich!“

„Aber das letzte Mal sind wir doch da vorne links rum und mussten dann noch 20 Minuten auf den geklauten Bikes radeln?!“

„Jahaaa. Aber ich musste da weg, die haben Ärger gemacht. Ich sag’ dir, find mal ’nen neuen Stellplatz zurzeit. Und da jammern alle, der Wohnungsmarkt sei so terrible. Mimimi! Da bleibt mir die Spucke im Hals stecken beim Lachen, eh eh eh …“

Tobi besaß, seit er aus Hawaii zurückgekommen war, einen uralten Schaustellerwagen, den er sich beim Genuss hunderter Joints Schritt für Schritt zum feuchten Traum aller Aussteiger um- und ausgebaut hatte. Wagenburgen in ganz Europa hatte er im vergangenen Jahrzehnt sein Zuhause genannt. Und doch zog es ihn immer wieder nach Berlin zurück.

„Ingo, da ist der Spirit ein anderer. Ich kann’s nicht erklären. Selbst wenn sie mir die Reifen zerstechen oder die Gasflasche mopsen, nehm’ ich das als Zeichen der appreciation. Was sich liebt, das neckt sich, was! Pahaha!“

Ingmar schüttelte bei Tobis Ausführungen seiner Liebe zu Berlin immer nur ungläubig den Kopf. Er würde sich wünschen, aus diesem Drecksloch endlich verschwinden zu können. Für immer. Wahrscheinlich war Tobi heimlich Masochist, davon war Ingmar nach nicht allzu langer Zeit überzeugt. Dabei fußte Tobis Verhalten und Einstellung zum Miteinander auf einer ganz anderen Prämisse: Kill them with kindness. Wie viele Drogen musste man sich reinfahren, um dieser Welt, in der nur galt ‚fressen oder gefressen werden’, immer noch mit Optimismus entgegentreten zu können? Das war Ingmar ein Rätsel. Als er mal wieder stockbesoffen in einer U-Bahn Station rumgelegen war, hatte er sich sogar gedacht: Ist Tobi vielleicht der wiederauferstandene Jesus? Von den Erzählungen her könnte es passen, Frisur ist die gleiche, und da im Himmel hat er wahrscheinlich noch ’nen Dreier mit Martin Luther King und Mutter Theresa gehabt, Ghandi hat zugeschaut, wie die beiden die Olle richtig durchgebumst haben und hat sich dabei einen runtergeholt, perverses Schwein!

So kam es, dass er an jenem Abend irgendwann wild randalierend „Tobi, du sexgeiler Jesusfreak!“ in Dauerschleife brüllte. Auch dieser Abend endete in Sicherungsverwahrung.

„Ich hab’ aber mal wieder Glück gehabt. Mein Kumpel hier, der Pierre, hat mir noch ’nen Platz klar gemacht.“

Tobi zog einen Bauzaun zur Seite, gab Ingmar mit einer zackigen Kopfbewegung zu verstehen, durch die kleine Öffnung zu steigen. Mit dem Gesicht streifte Ingmar erstmal volle Breitseite einen Dornenbusch. Das Gestrüpp war so dicht, dass er bei der aufkommenden Dämmerung nicht ausmachen konnte, wo es hier langgehen sollte. Er ließ Tobi wieder den Vortritt. Nach wenigen Minuten und diversen Wurzelstolperern waren sie endlich da. Inmitten des urwaldartigen Großstadtgrüns tat sich ein kleiner Platz auf, nicht größer als zehn mal zehn Meter, schätzte Ingmar. Die Lichterketten an Tobis Wagen funkelten, ließen die Szenerie unwirklich erscheinen.

„Wie zur Hölle hat er denn diesen Koloss hierhin bekommen?! Eigentlich auch egal, solange er diese göttliche Couch noch hat“, dachte sich Ingmar.

Rechterhand an Tobis Heimstatt anschließend, leicht schräg, stand ein mit psychedelischem Graffito verzierter Wohnwagen. Das musste wohl der von diesem Pierre sein.

„Ach ja, da wohnt Pierre. Also, welcome again, Ingo! Meine Bude ist deine Bude, weißte ja.“

Ingmar ließ sich erschöpft auf einen der ausgeblichenen Liegestühle fallen, pellte die Schuhe von den aufgeweichten Füßen. Während er so ins Nichts glotzte, den Mund halb offen, sprang Tobi von A nach B, verschwand hinter C, um nach kleinem Umweg über D – und ah, was vergessen bei B! – in Windeseile ein Lagerfeuer zu entfachen. Es britzelte und bratzelte, die Füße fast ein wenig zu nah an den Flammen, nahm die Verkrampfung in Ingmars Gliedern langsam ab. Er taute auf, fühlte sich schlecht, heute bislang so mundfaul gewesen zu sein.

„Sag mal, Tobi, hast du vorhin nicht irgendwas von Essen gesagt? Tobi?“

Er drehte den Kopf nach hinten, Tobi war schon wieder weggesprungen. Da knarzte das Fenster, hinter dem sich die Einbauküche im Wagen verbarg, auf. Ein Bart lugte hervor:

„Ich hab‘ hier so ein leckeres Curry. Mmmh! Geile Linsen gefunden letztens. Ordentlich Ingwer drin. Und nochmal aufgewärmt, entwickelt das erst so richtig sein volles Potential!“

Ingmar musste lachen. In den wenigen unbeschwerten Momente, die er ab und an noch hatte, war Tobi anwesend. Tobi hielt all die Versprechen ein, die Alkohol nie einlösen konnte. Und trotzdem soufflierte ihm jeder einzelne Schluck, das ultimative Heilmittel für jedes seiner Probleme zu sein. Der einzige Haken daran: Jedem Schluck musste ein weiterer folgen, der den vorhergegangenen vergessen machte und den nächsten mit Engelschören ankündigte.

„Ist da Zitronengras drin? Ich hasse Zitronengras! Schmeckt wie Spülmittel!“

„Ne, Mann! Das gibt’s beim Vietnamesen und Thai. Aber die Inder haben damit nix am Hut.“

Endlich wieder was Warmes, endlich wieder was, das nicht nach Pappe schmeckte. Es schmeckte, sogar richtig gut. Seine Geschmacksknospen wussten nicht, wie ihnen geschah. Sein Magen krümmte sich. Er aß viel zu schnell, schaufelte, vergaß fast das Atmen zwischen den Bissen, wollte sich in der Schüssel suhlen. Auch wenn er mal ein Verständnis dafür besessen hatte, was zu Tisch angemessen war und was nicht – jetzt leckte er die Schüssel aus. Das wohlige Grunzen nahm Tobi als Kompliment. Sie hingen in den ausgeleierten Liegestühlen, die Hände auf den Bäuchen, die Blicke gen Nachthimmel. Mitten in der Stadt war natürlich, dank kolossaler Lichtverschmutzung, nichts mit endlosem Sternenhimmel. So etwas wie Zufriedenheit hing dennoch in der Luft. Sie schwiegen sich an und sagten damit alles, was es in dem Moment zu sagen gab. Selbst der talentierteste und einfühlsamste Dichter hätte nicht ausdrücken können, was sich hier gerade abspielte. Zwei Gestalten – unterschiedlich bis in die letzte Zelle und dennoch so eng verbunden. Unter Millionen von Individuen waren sie ineinandergelaufen. Jeder von ihnen eine der Gestalten, die vom Gros der Menschen entweder nicht gesehen wurden oder denen man in weitem Bogen aus dem Weg ging. Traurige Wurmfortsätze der Gesellschaft, die nicht wirklich eine ‚Funktion‘ im kapitalistischen Sinne hatten, aber auch nicht eben mal auf die Schnelle entfernt werden konnten. Abstumpfung durch wiederholte Konfrontation führte dazu, dass die meisten Großstädter gut damit leben konnten. Gehörte halt dazu wie der Afterwork-Drink auf der Dachterrasse vom Soho House. Der eine gewinnt, der andere verliert. Nächstenliebe, Fürsorge, Solidarität waren nur angesagt, wenn man sie reichweitenfördernd auf Instagram oder LinkedIn verwursten konnte. Soziale Medien.

Tobi ruhte gerade seine Augen aus, da sprach Ingmar heute zum ersten Mal, ohne davor etwas gefragt worden zu sein:

„Danke, Mann. Auch wenn das Fleisch gefehlt hat. Ich hab’ schon Schlechteres gegessen.“

Aus Ingmars Mund war das ein Kompliment par excellence. Weil es einfach keine positiven Ereignisse mehr in seinem Leben gab, hatte er verlernt, etwas Schönes wertzuschätzen und es gegenüber einem Mitmenschen auch entsprechend zu äußern. Er war zum harten Knochen mutiert, ständig am Knurren, aber zu kraftlos, um tatsächlich zuzubeißen.

„Das war mein pleasure, echt ey“, retournierte Tobi unaufgeregt, so unfassbar nonchalant, dass damit im Handumdrehen der Schlusspunkt hinter das Dankesprozedere gesetzt war.

Tobi wusste ganz genau, wie viel Überwindung es Ingmar gekostet hatte, sich für seine Verhältnisse so weit aus dem Fenster zu lehnen. Er hatte es sich bewusst zur Aufgabe gemacht, diesen verschrobenen Klotz Schritt für Schritt wieder dazu zu bekommen, die Dinge beim Namen zu nennen und Gefühle zuzulassen. Tobi bezeichnete solche Regungen als Seelenatmer, ohne die man irgendwann zu ersticken drohte. Auch wenn Ingmars Herz, rein biologisch betrachtet, nach wie vor schlug – Leben konnte man das nicht nennen. Ingmar war Menschenhülle, leere Taschen, leerer Blick. Das Curry hatte ihn ein Stückchen zum Licht gezogen. Auf so vielen Ebenen hatte es seinen dauerhaft betäubten Appetit angeregt.

„Und dieser Pierre … was macht der so?“

So etwas wie Eifersucht schwang in Ingmars Frage mit. Tobi überhörte die Färbung. Emotionen, die mit Besitzansprüchen – insbesondere auf Mitmenschen – verknüpft waren, hatte er wie das Lügen aus seinem Habitus gestrichen. Das kostete nur unendlich Kraft, die er viel lieber für seine kosmischen Ausflüge nutzte. Ganz hoch fliegen, ohne den Ausstoß von Kohlendioxid. Das konnte Tobi ziemlich gut.

„Yo, der Pierre ist ein Guter. Tänzer isser, so mit ganz viel Ausdruck! Wie der sich verbiegen kann, das musst du mal sehen! Schon irgendwie Ballett, aber noch viel abgedrehter. Ich war da mal bei einer seiner Performances. Das war in ‘ner alten Schlachterei. Der Geruch von Kadavern hing da noch in der Luft. Die ganze Truppe hatte Schuluniform an, mit so Schrubbern bewaffnet haben die die Fliesen da bearbeitet. Mit Blut beschmierte Tiermasken hatten die auf ihren Köpfen, so weird. Na ja, schwer zu erklären, hätteste dabei sein müssen. Meins war’s nicht, aber vielleicht war ich auch zu druff, um es zu verstehen.“

„Druff sein“, dachte sich Ingmar. „Das wär’s jetzt …“

In dem Moment fing Tobi an, einen Joint zu rollen. Vielleicht gab es ja doch so was wie einen Gott. Trotzdem war er die meiste Zeit ein elendiger Wichser. Immer mal wieder so kleine Brotkrumen von Glückseligkeit hinwerfen und einen dann aber sofort im Anschluss wieder mit dem Gesicht ins Urinal drücken. Ingmar kannte diese Aufs und Abs nur zu gut.

„Aus Cannes kommt der Pierre. Reiche Family, Parfüm-Produzenten. Aber er stand neben Frauen auch auf Männer, wollte in den Ballettunterricht, als er vier war, hatte keinen Bock, das Imperium zu noch mehr Kohle zu führen. Mit Anfang 20 machte er die Fliege. Packte zwei Koffer, hatte es eh nie so mit materialistischem Krimskrams, und düste in seinem alten Citroën gen Norden. Letzte Amtshandlung in seinem Elternhaus: Er kackte seinem Vater auf den Schreibtisch, in den Haufen steckte er noch ‘ne Karte, auf der geschrieben stand: ‚Merci pour rien!‘“

„Haha, scheint ein witziger Kerl zu sein, dieser Pierre!“

Ingmar hechelte mehr, als dass er lachte. Endlich reichte ihm Tobi die glühende Lunte rüber, dieser süßlich-würzige Duft … mmmh! Er wollte sich wirklich zügeln, aber er zog und zog. Seine Lunge füllte sich, er hielt für ein paar Sekunden die Luft an, um die Wirkung zu verstärken. Dann ließ er den dichten Rauch nach und nach entweichen. Und noch ein Zug. Früher hatte er nichts als Verachtung für Kiffer übrig. Nutzloses Abhängen, faul, nix gebacken bekommen. Wenn er sein Kind dabei erwischt hätte, dann aber Gnade ihm Gott. Natürlich soll man seine Kinder nicht schlagen. Aber irgendwo ist dann auch mal eine Grenze erreicht. Mittlerweile war das Kiffen mit Abstand das Harmloseste, was er drogentechnisch seinem Körper zuführte. Raubbau an Leib und Seele.

Plötzlich rumpelte es ganz fürchterlich in Pierres Wohnwagen. Es bollerte, es ratschte, Keramik zersprang. Ein tosender Wirbelsturm auf kleinstem Raum. Hatte der Wohnwagen gerade einen kleinen Satz gemacht?! So schnell es ihre sanfte Benebelung zuließ, schreckten Ingmar und Tobi auf, sahen sich an, drehten sich um.

„Hä, Tobi, du hast doch gemeint, Pierre ist die Tage gar nicht in Berlin? Was zur Hölle?!“

„Äh, ja, keine Ahnung! Boah, ich krieg’ die creeps! Das ist bestimmt so ein evil spirit. Der Geist von seinem Dad, der ihn jetzt gefunden hat und heimsucht!“

„Sag mal, hackt’s bei dir? Bist du auf Harry Potter hängengeblieben?“, blökte Ingmar zurück.

Dann ertönte ein tiefes Grunzen, ganz und gar unmenschlich, immer wieder unterbrochen durch schmatzendes, stakkatoartiges Atmen, und dann noch diese spitzen Schreie, die ihnen durch Mark und Bein fuhren. In dem Augenblick erkannte Tobi auch in Ingmars Augen pures Entsetzen, das ihm mitteilen sollte: ‚Ich nehm’ alles zurück. Du hast Recht. Das ist ein Geist oder Monster oder was auch immer!‘ Über die Lippen brachte Ingmar keinen Ton mehr, das Kreischen steckte in der Magengrube fest, seine Muskeln erstarrten, an wegrennen war nicht zu denken. Der Lärm türmte sich auf, multiplizierte sich, jeden Moment musste es doch die Tür und die Fenster aus den Angeln fetzen! Da sprang Tobi auf, pfefferte den Joint-Stummel ins Feuer, die linke Hand zur Faust geballt, die Sehnen im Unterarm zuckten nervös.

„Ich geh’ da jetzt rein, I don’t care!“

Ingmar starrte Tobi ungläubig mit weit aufgerissenen Augen an.

„Hast du sie noch alle?“

„Is‘ mir egal! Wenn ich sterbe, dann bei so was Abgefahrenem wie ‘nem Kampf mit einem Untoten!“

Fast schon heroisch blickte Tobi auf den Wohnwagen. Für das perfekte Filmplakat fehlte nur noch die Windmaschine, die seiner Haares- und Bartpracht die passende Dynamik verliehen hätte. Er griff einen der Holzscheite, der nur an einer Seite angekokelt war, und stapfte entschlossen los. Ingmars Augen folgten ihm, alles andere von Ingmar blieb im Liegestuhl zurück. Breitbeinig vor der Tür stehend, atmete Tobi nochmal tief durch, im Wagen tobte es unermüdlich weiter. Dann öffnete er mit einem Ruck zackig die Tür, sprang gebückt ins Dunkel. Die Tür fiel wieder ins Schloss. Von einem Augenblick zum anderen war es mucksmäuschenstill. In der Ferne wummerten Bässe. Ingmar beobachtete, wie die Büsche sich andächtig von einer zur anderen Seite wiegten. Es hatte fast schon hypnotisierende Wirkung. Da zerstachen spitze Schreie die Nachtluft. Aber zu denen des Monstrums waren ganz eindeutig die von Tobi dazugekommen. Zwei Augenblinzler später knallte die Tür auf, Tobi flog rücklings aus dem Wagen, landete auf dem Hosenboden und robbte ein paar Meter weiter zurück, den Blick nicht ablassend von dem schwarzen Nichts, das aus dem Innern quoll. Ingmar hatte sich mittlerweile hinter seinem Liegestuhl verschanzt, lugte bibbernd über den Rand. Aber es war kein zähnefletschender Dämon, der ins Licht trat, sondern eine zierliche Frau, lange braune Haare, die wild in alle Richtungen abstanden, blutunterlaufene, verheulte Augen. Ihre Schultern hingen kraftlos runter. Unendliche Wut und Verzweiflung drang aus jeder ihrer Poren. Das konnte selbst der sonst so abgestumpfte Ingmar sofort erkennen.

„Rebecca?!“, entfuhr es Tobi. „Ich mein’ … was soll der shit?“

Tobi kannte diese Furie im XS-Format? Die Fragezeichen über Ingmars Kopf nahmen exponentiell zu. Rebecca zuckte beiläufig mit den Schultern, als wäre ihr gerade aus Unachtsamkeit die Milch übergekocht – dabei hatte sie Pierres Hab und Gut zerstört. Alles kurz und klein geschlagen. Sie brach in hysterisches Lachen aus, dabei fingen die Tränen wieder zu kullern an.

„Welchen Film fährt die denn?“, brachte Ingmar leicht stotternd in Richtung Tobi raus.

Sein Mund war ganz trocken und pelzig. Tobi nahm nicht wahr, dass Ingmar eben etwas gesagt hatte. Gebannt starrte er Rebecca an, die auf die Knie fiel, sich vornüber warf, den Kopf in den Dreck drückte. Ihre Arme griffen nach Tobis ausgestreckten Beinen.

„Ich will doch nur dich! Du bist mein Ein und Alles! Mein Leben! Wann glaubst du mir endlich?“

Sie flehte verzweifelt vor sich hin, ihr Oberkörper bebte. Sie war kurz davor, sich an ihrer eigenen Spucke zu verschlucken. Der Rotz lief ihr aus den Nasenlöchern. Wenn Ingmar sonst unter Menschen war – sprich mindestens eine weitere Person in seiner direkten Nähe –, gewann er ausnahmslos den Preis für die bemitleidenswerteste Figur. Hier war es tatsächlich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, Rebecca lag aktuell sogar um Haaresbreite vorne. Tobi rührte sich weiterhin nicht, schüttelte aber unaufhörlich den Kopf. So hatte Ingmar ihn noch nie erlebt: Sprachlos. Eigentlich hatte er doch immer eine Antwort parat, selbst in den aus-weglosesten Situationen.

„Sag was! Ich hab’ das alles nur für dich getan! Kannst du das nicht sehen? Du darfst mich niemals verlassen … niemals! Hörst du das? Schwör es mir! ... Komm, mach schon.“ Rebecca keifte und kreischte.

Tobi spürte, wie sich ihre Fingernägel in seine Schienbeine krallten. Der Schmerz sorgte dafür, dass er aus seiner Schockstarre erwachte. Er schüttelte sich und packte beherzt ihre Handgelenke. Ganz nah zog er sie zu sich heran, ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.

„Jetzt hör mal gut zu“, Tobi sprach bedacht, die Stimme so ruhig es ging, obwohl in ihm ein Vulkan brodelte, „ich bin durch mit dir. Was denkst du denn, wer du bist? Du hast mich bis an den Abgrund getrieben, gnadenlos. Und als ich nicht mehr konnte, es langweilig für dich wurde, hast du dir Pierre gekrallt. Eine so zarte Seele, ein Pflänzchen! Einzeln hast du ihm die Wurzeln ausgerissen! Und jetzt, wo er das Weite gesucht hat, kommst du wieder angekrochen?“

Ingmar fiel auf, dass Tobi bei dieser wirklich substanziellen Ansage völlig vergaß, seine Anglizismen einzustreuen.

„Du bist echt ein Blutegel, der jedem die Lebensenergie aussaugt. Verdammt hübsch, aber so verdammt rücksichtslos. Komm endlich damit klar: Es ist vorbei!“

Innerhalb weniger Sekunden hatte er sich in Rage geredet, sein Kopf puterrot angelaufen. So sehr er sich vorgenommen hatte, Ruhe zu bewahren, Gelassenheit und Coolness auszustrahlen, nicht auf die psychologischen Kriegsspielchen reinzufallen – es klappte einfach nicht. Zu tief war Rebecca vorgedrungen mit ihren messerscharfen Attacken. Die Wunden waren nie wirklich verheilt, das spürte Tobi jetzt deutlich. Eine dünne Kruste hatte sich zwar gebildet, die Besserung verhieß. Aber jetzt, wo Re- becca einmal kurz drübergeratscht war, klaffte jede dieser Wunden wieder auf. Es triefte und tropfte, Tobi war wieder mittendrin in diesem emotionalen Martyrium, es schnürte ihm die Kehle zu. Er wusste aus ihrer gemeinsamen Zeit, dass Anbrüllen genauso wenig half wie beschwichtigendes, verständnisvolles Auf-sie-Einreden. Wenn er sagte: „Ich liebe dich nicht mehr!”, kam bei ihr an: „Ich liebe dich!” Jedes Wort, das ihre so mühsam aufgebaute heile Welt ins Wanken hätte bringen können, wurde konsequent ausgeblendet, zensiert, gestrichen, fand den Weg nicht von ihrem Ohr ins Hirn. Auch das hatte er auf die harte Tour lernen müssen. Zu Beginn war er dermaßen naiv gewesen: Er dachte tatsächlich, er könne mit dem richtigen Mischungsverhältnis von Liebe, Vernunft und Verständnis (all das, was sie nie hatte!) für die Kehrtwende in ihrem Leben sorgen. Be-feuert durch sein esoterisches Grundverständnis des Seins und des Miteinanders, begab er sich damit blauäugig in die Höhle der ausgehungerten Löwin. Und wurde letztendlich zerfleischt, wie er sich nach monatelangem Kampf eingestehen musste. Ihrer alten Maschen hatte sie sich wohl noch immer nicht entledigt, denn jetzt sah sie ihn mit ihren großen braunen Augen an, den Blick leicht unterwürfig von unten nach oben gerichtet, als ob kein Wässerchen sie trüben könnte. Die Unschuld vom Lande. Ja, vom Lande kam sie ursprünglich, aber unschuldig?!

Durchtriebenes Stück, bollerte es Tobi durch den Kopf.

Mit der linken Hand versuchte Rebecca Tobis Wange zu streicheln. Sie wusste zu gut: Durch körperliche Nähe standen ihre Chancen besser, zu ihm durchzudringen. Sie schniefte, stille Tränen rannen ihr Gesicht herunter, Haarsträhnen blieben auf ihrer Wange kleben. Tobi konnte es nicht mehr ernst nehmen, er glaubte keine Sekunde dieser Show. Es tat ihm fast schon leid, dass er so dachte und fühlte. Aber ihre Beziehung, die ihn Kraft, Lebenslust und Vertrauen gekostet hatte, war in Retrospektive vor allem eines: ein Gär-Topf für ernüchterte Kaltherzigkeit. Er hatte keine Gefühle mehr für sie. Da war nur diese blanke Wut auf sie und das, was sie ihm angetan hatte. Und auf sich selbst, dass er es mit sich hatte anstellen lassen.

„Aber du weißt doch, das mit Pierre, das war nix Ernstes! Das war niemals so wie das, was uns verbunden hat! Wir waren besonders, einmalig … wir sind es immer noch.“ Rebecca setzte ab, atmete tief und bedeutungsschwanger ein. „Und das hab’ ich jetzt endlich begriffen. Ich war so dumm, hätte dich nie verlassen dürfen. Aber das passiert kein zweites Mal!“

Was für sie ein romantischer Liebesschwur war, klang in seinen Ohren nach einer offen ausgesprochenen Drohung. Ihm klappte die Kinnlade runter, weil ihm einfach nichts mehr einfiel, was er da noch hätte erwidern können oder sollen. Es glich ein wenig einer Diskussion mit alu-behüteten Klimawandel-Leugnern: Unlängst bewiesene Fakten wurden abgetan, somit entzog man dem ganzen Austausch die gemeinsame, verbindende Grundlage, zudem wurde verkürzt, über-emotionalisiert, verdreht und ununterbrochen persönlich verletzend angegriffen. Wenn Tobi und Rebecca beide dasselbe Lagerfeuer betrachteten, hätte Tobi gesagt: „Das ist aber ein schönes Lagerfeuer“, worauf Rebecca entgegnet hätte: „Was faselst du da? Das ist unser Brunnen, ein Quell eisigen Wassers! Trottel!“

Aus Ingmars Sicht fehlte eigentlich nur das Popcorn, es war wie Kino. Großes Kino. Herzschmerz, Verrat, Betrug, vielleicht aber doch noch das große Happy End? Alles hier direkt vor seinen Augen, nur wenige Meter zwischen ihm und den Protagonisten, fast konnte er die Hitze ihrer bebenden Körper spüren. Ingmar erinnerte sich dunkel daran, dass Tobi ihm mal von einer Rebecca erzählt hatte. Bipolar, scheiß Kindheit, keine wirkliche Familie – ein paar Fetzen waren hängengeblieben. Das große Ganze, die Zusammenhänge und die Chronologie ihrer Beziehung konnte er aber nicht mehr abrufen. Der Alkohol war schon ein gründlicher Löscher. Und nicht Durstlöscher. Ingmar starrte auf die Szenerie wie früher auf seinen 75-Zoll-Plasma-TV, den er schreinartig in seiner Männerhöhle (so hieß sein Hobbyraum!) gegenüber der schwarzen Ledercouch platziert hatte. Endlich fielen Ingmar Tobis kurze, zu ihm rüberschielende Blicke auf, gleichzeitig zog er die Mundwinkel zurück. Zum Glück hatte Ingmar gerade einen hellen Moment. Er verstand und wusste die Zeichen zu lesen: ‚Hilf mir! Ich komm’ hier alleine nicht raus. Mach was! Irgendwas!‘ Von sich selbst überrascht, fasste er sich ohne langes Hadern ein Herz und sprang kraftvoll hervor aus der Deckung seines Liegestuhls. Tatsächlich blieb es beim Wunsch: Aus dem kraftvollen Sprung wurde nichts, er fiel wie ein nasser Sack nach vorne auf seine Knie, mit den Handgelenken konnte er gerade noch gegensteuern und unterbinden, dass sein Gesicht den Boden küsste. Elegant und Respekt einflößend war anders. Und gerade jetzt wäre es doch wichtig gewesen, als Instanz, als zu fürchtende Autorität rüberzukommen. Wie sollte er es sonst schaffen, Tobi aus den Fängen dieser durchgeknallten Hexe zu befreien?

Damals, als er noch Chef gewesen war … eigenes Unternehmen, zwölf Angestellte, persönliche Sekretärin, alles Drum und Dran. Wenn er da nur die Augenbrauen nach oben zog, sind sie alle gesprungen. ‚Was ist, Chef? Kann ich was tun, Chef? Hab’ ich was verbockt, Chef?‘ Ja, damals, das war echt eine andere Nummer. Blickte er jetzt in den Spiegel, sah er nur den buckligen Zwillingsbruder seines alten Ichs, den man von klein an in den Keller gesperrt hatte, weil er so hässlich war. Abstoßend.

„Reiß dich zusammen! Du schaffst das! Du kannst Tobi nicht hängen lassen“, Ingmar hielt sich selbst einen kleinen Pep-Talk, der Wirkung zeigte. Angetrieben vom Adrenalin, das sein Körper nun endlich stark zeitverzögert ausstieß, raffte er sich auf und räusperte sich drohgebärdig.

Rebecca, die seinen Kniefall in ihrer Hysterie und To-bi-Fixiertheit gar nicht bemerkt hatte, drehte den Kopf zur Seite und schien erst jetzt wahrzunehmen, dass da noch jemand anderes war. In ihren Augen eine Mischung von Verwirrung und Scham. Ingmar sah es genau.

„Das ist meine Chance“, dachte sich Ingmar.

Er trat auf die beiden zu, nahm aber ausschließlich Rebecca mit grimmiger Mimik ins Visier, stemmte dabei die Hände in die speckigen Hüften.

„Jetzt ist hier aber mal Schluss! Du hast doch den Schuss nicht gehört! Alles kurz und klein schlagen und dann Tobi meucheln wollen? Wir sind hier nicht bei GZSZ!“

Ha! GZSZ – das war sein großes guilty pleasure. Jeden Abend 19:40 Uhr, Montag bis Freitag, saßen er und seine Tochter pünktlichst vor der Glotze. Ihr Ritual für so viele Jahre. „Ob sie es noch immer schaut, mitfiebert, mitleidet?“, fragte er sich. Er wusste es nicht. Das erboste Schnauben von Rebecca holte ihn zurück.

„Was ist dein verdammtes Problem, Alter?!“, rotzte sie zurück. Das Zeitfenster, in dem sie kurzzeitig verwirrt war, hatte sich wieder geschlossen.

Ohne darauf zu antworten, packte er sie am Kragen und zog sie hoch, schleuderte sie zur Seite, weg von Tobi.

„Ingo, sag ma‘ …“, mehr kam nicht von Tobi, so überrascht war er von Ingmars Kraftakt.

Dann ein gellender Schrei, Ingmar schnellte herum, und da sah er Rebecca mit einer spitz zulaufenden, mindestens 20 Zentimeter langen Glasscherbe bewaffnet auf sie zuhechten. Ingmars Reaktionszeit war ein Witz. Schon glitt sie an ihm vorbei, mit weit nach oben gerissenem Arm war sie kurz davor, auf Tobis Brust einzustechen. Der überforderte Ingmar sah vor dem inneren Auge bereits in alle Richtungen spritzende Blutfontänen. Aber da rollte Tobi blitzschnell zur Seite, griff mit der rechten Hand ihr Handgelenk, schlug mit der linken irgendwohin in ihrer Unterarmregion, sodass er in Sekundenbruchteilen die Kraft ihres Angriffs neutralisierte und sie von sich stoßen konnte. Er hatte es weder Ingmar noch Rebecca jemals erzählt, all die Geschichten, als er noch ein harter Hund war, Anfang 20, Bürstenschnitt, breiter Nacken. Im Krav Maga zählte er in seinem Kampfsport-Gym zu den Besten und Erbarmungslosesten. Kumpel, die bei Sparringkämpfen aus seiner Sicht viel zu früh aufgaben, hatten damals nichts als verächtliche Blicke von ihm geerntet. Das Gute bei Krav Maga für Tobi: Es war wie Radfahren. Einmal gelernt, wusste sein Körper noch immer, was er blitzschnell zu tun hatte. Da war kein Nachdenken nötig. In solchen Situationen halfen nur Reflexe, die ihren Ursprung in aber-tausenden Wiederholungen hatten.

Ingmar hatte gerade erst den Schock dieser Glasscherben-Attacke verkraftet, da läutete Rebecca die nächste Runde ein. Sie realisierte, dass sie Tobi unterlegen war und ihn nicht ernsthaft verletzen konnte – zumindest nicht körperlich. Der Hebel “Ich bring dich um, damit keine andere dich haben kann” führte sie nicht zum Erfolg, also umschalten auf “Ich zwing dich, auf meine Forderungen einzugehen”. Mit weit aufgerissenen Augen presste sie die Glasscherbe an die eigene Halsschlagader. Die scharfen Kanten hatten sich bereits in ihre Handinnenfläche gedrückt, dunkelrotes Blut floss ihren Unterarm hinunter.

„Ich bring’ mich um! Und das ist alles nur deine Schuld! Du hast mich auf dem Gewissen!“, brach es aus ihr heraus.

Rotz und Tränen und Spucke schossen in Richtung Tobi. Jetzt war endgültig der Punkt erreicht, an dem selbst dem sonst so Love-and-peacigen-ich-hab-für-alles-Verständnis-Hippy Tobi die Hutschnur platzte.

„Ok, jetzt ist es offiziell: Du bist echt verrückt. Mach, was du willst! Aber erpressen lass ich mich echt nicht. Weißte was, ich ruf jetzt die Bullen.“ Er zog sein Handy aus der Jamaica-beflaggten Bauchtasche und wählte schon drauf los.

Warum auch immer genau jetzt – aber in dem Augenblick schrillten bei Rebecca sämtliche Alarmglocken und diese gaben ihr zu verstehen: Lass es, du hast verloren, den kriegste nicht mehr.

„Ja, hallo? Äh, hier ist Tobi Schwendinger. Also, ich hab’ hier jemanden, der ist völlig durchge- …“ Rebeccas Hand auf seiner, mit der er sich das Handy ans Ohr hielt. Er merkte sofort: Der Wahnsinn war entfleucht, er verstand, was sie sagte, ohne dass sie einen Laut von sich geben musste. Er legte auf, ließ das Handy fallen, sie nahmen sich in den Arm. Wahrscheinlich das allerletzte Mal.

Kapitel 2

Ingmar fühlte sich wie gerädert. Also, nicht so wie sonst eh schon jeden Morgen der letzten 28 Monate und 13 Tage. (Er führte Buch: Es gab das Leben v. K. und das n. K. – vor der Katastrophe und nach der Katastrophe.) An diese mittlerweile alltägliche matte Dauererschöpfung hatte er sich zwangsläufig gewöhnt. Die Tage flossen auf gleichbleibend deprimierendem, höhepunktlosem Level ineinander. Der Mensch – ein Gewohnheitstier. An diesem Morgen war es aber anders. Obwohl er über zehn Stunden geschlafen haben musste – die Sonne brannte schon fast senkrecht auf Tobis Wagen, einzelne Strahlen drangen durch das gekippte Fenster über der Couch ins Innere, kitzelten ihn in der Nase –, machte es den Anschein, er hätte nicht mehr als ein fünfzehnminütiges Powernap abgehalten. Sein Körper ächzte, kraftlos, steif wie ein Brett. Das Herzrasen der letzten Nacht klang noch immer in seinem Brustkorb nach.

„Good Morning, sunshine“, trällerte es aus dem vorderen Bereich des Wohnwagens.

Tobi zog energisch den Vorhang zur Seite, der die ‚Chill-Lounge‘ von der Küche trennte. Die Mundwinkel gen Ohren gezogen, streckte er Ingmar eine große Tasse entgegen. Der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee war einfach unschlagbar! Früher hatte Ingmar ihn nie bewusst wahrgenommen. Es war selbstverständlich gewesen – wie so vieles, was er mittlerweile vermisste. Er nahm sie in beide Hände, sog den Duft tief ein, was in verschleimtem Morgenhusten endete.

„So, wie du ihn am liebsten magst – eineinhalb Teelöffel Zucker“, Tobi grinste zufrieden. „Die meisten meinen, weil ich fast immer stoned bin, kann ich nix mehr remembern. Pah!“

Er tippte mit dem Zeigefinger wiederholt an seine Stirn:

„Wenn die wüssten, was da drin alles gesaved ist. Staunen würden die!“

Zwischenzeitlich hatte er sich auf die Kante der Couch gepflanzt, für Ingmars Empfinden ein klein wenig zu nah. In Zeitlupe zog er seine Beine näher an sich heran. Körperliche Nähe, egal ob freundschaftlich oder sexuell, gab es für ihn nicht mehr. Wie jemand anderes roch, sich anfühlte – er hätte es beim besten Willen nicht beschreiben können. Tobi behandelte ihn unvoreingenommen, wie es zwischen zwei Menschen eigentlich normal sein sollte, aber für Ingmar war es befremdlich … wie für den Straßenköter, den man geschlagen und getreten hatte, der für Ewigkeiten im Tierheim dahindarbte und dem irgendwann der liebevolle Neubesitzer die Hand hinstreckte. Genauso duckte sich Ingmar durchs Leben.

„Listen, Ingo“, setzte Tobi an, „ich bin dir echt was schuldig. Kein’ Plan, wie ich ohne dich da gestern rausgekommen wäre aus dem Schlamassel. Ich war ohne Scheiß wie gelähmt.“

„Ach, komm, hör auf. Das hätte doch jeder gemacht. Ehrensache.“

Ingmar hatte schon immer Probleme, ehrlichen, von Herzen kommenden Dank anzunehmen. Da fühlte er sich automatisch unwohl in seiner Haut. Er wusste einfach nicht, wie er damit umgehen sollte. Schnell ablenken:

„Aber sag mal, was ist jetzt mit Rebecca? Ich mein’, dieses Ding mit euch. Unkompliziert sieht anders aus. Wo ist sie überhaupt hin letzte Nacht?“

„Nachdem du pennen gegangen bist, haben wir echt noch lange geredet. Das war irgendwie der einzige richtig deepe Talk, den wir jemals hatten. Crazy! Am Ende waren wir uns einig, dass es für sie an der Zeit ist, ihre Sachen zu packen. Sie muss sich selbst finden. Und ich glaube daran, dass sie das schafft. So ein starker Geist, der so viele Hürden schon übersprungen hat. Wenn du wüsstest, was sie schon alles durchgemacht hat! Jetzt heißt es aber für sie: Attack your inner demons!“

Attack your inner demons … wo sollte er da anfangen, fragte sich Ingmar. Vor solch einem Angriff müsste zunächst der Schritt erfolgen, sich diesen Dämonen auch stellen zu wollen. Ingmar rannte vor ihnen weg, unentwegt. So langsam merkte er, dass ihm die Luft ausging. Noch biss er jedoch die Zähne zusammen, obwohl er den fauligen Atem seiner Vergangenheit im Nacken spürte.

„Was meinste, wohin sie geht?“, fragte Ingmar fast schon väterlich besorgt. „Die hat doch niemanden mehr … verlorene Seele …“, murmelte er weiter.

„Alles juti, musst dir keine Sorgen machen! Hab’ ihr ‘ne Adresse gegeben. Ich kenne da ein paar Leute, unten im Allgäu. Haben einen großen Bauernhof, alles bio, organic. Der Rudi ist so eine Art Schamane. Was denkste, wer mir damals vorgeschlagen hat, nach Hawaii abzuhauen? Er hat bei mir das Licht angeknipst! Davor hab’ ich im Dunkeln gehaust.“

Ingmar musste die Stirn runzeln. Tobis Überzeugungen konnte er noch immer nicht ernst nehmen.

„Hab’ ihr noch heimlich ein paar Moneten in die Jackentasche gesteckt, damit sie auch safe in Rudis Oase ankommt. Sie muss weg vom Schmerz, weg von Verlockungen und Ablenkungen … hab’ ich wirklich alles gegeben, Ingo?“

Ingmar schluckte, denn ihm war bewusst, dass er für sich diese Frage nur mit Nein beantworten konnte.

„Mehr als das, Tobi. Wirklich. Typen wie dich gibt’s nicht so oft. Rebecca kann sich glücklich schätzen, du kleiner Weltretter!“

Sie lachten beide auf, seine feuchten Augen bemerkte Tobi, zu Ingmars Erleichterung, nicht. Sie lagen da auf der Couch, Kaffee schlürfend, frei – als ob es die Welt außerhalb des Wohnwagens nicht gäbe. Wie zwei Schwuchteln, über Gefühle und so einen Scheiß labern. So hätte Ingmar vor nicht allzu langer Zeit noch gedacht.

„Jetzt aber mal schnell geduscht, draußen wartet die Gartendusche auf dich. Ist kalt, macht dich aber fresh! Und dann rin in die Klamotten, wir haben Großes vor! Ah, ‘ne Stulle hab’ ich dir noch geschmiert, steht draußen auf dem Tischchen bei den Liegestühlen.“

Dann griff Tobi links neben das Sofa und präsentierte Ingmar strahlend einen Packen frisch duftender Kleidung.

„Vielleicht nicht so dein Style, aber da gewöhnste dich dran.“

Eine gute Stunde später standen sie an. Die Schlange war ok für einen Samstagnachmittag, Tobi hatte schon viel Schlimmeres hier erlebt. Das Sisyphos war einer seiner Lieblingsclubs in der Stadt. Ein bisschen hippyesk, kleinere und mittlere Floors, man konnte auch mal draußen am Teich chillen. Das Publikum war relaxed, die Türpolitik nicht ganz so faschistisch wie an manch anderem Ort des berühmt-berüchtigten Berliner Nachtlebens. Tobi war nach richtig Feiern zumute, loslassen. Das war so viel mehr, als sich nur stupide zuzudröhnen, er zelebrierte diese kitzelnde Vorfreude, bevor endlich zum spirituellen Tanz gebeten wurde. Gründe gab es heute ausreichend: Er hatte Rebecca auf den Pfad zum Licht geschickt, Ingmar hatte es sich verdient, endlich mal wieder aus tiefstem Herzen zu lächeln. Und Tobi wollte einfach nur tanzen, fließen, springen, wirbeln. Ingmar war skeptisch gewesen, ließ sich aber irgendwann vom Enthusiasmus anstecken und von den drei Jägermeistern überreden, die sie sich bei Tobi zum Aufwärmen gegönnt hatten. So standen sie, alle halbe Minute ein paar Schritte nach vorne. Sie konnten inzwischen die Türsteherin sehen. Je näher die Gäste ihr kamen, desto stiller wurden sie, desto mehr Abgebrühtheit und Club-Expertise wollten sie ausstrahlen. Dem geschulten Blick der Allmachtsperson am Einlass entging nichts. Hängenden Hauptes mussten immer mal wieder kleine Grüppchen nach links abbiegen, zurück zur Tram-Station.

„Für euch ist das heute hier nichts. Sorry, tut mir leid.“

Eiskalt. Worte, die man nach einer Stunde Anstehen nicht hören wollte.

„Na, toll“, dachte sich Ingmar. „Wir beide katapultieren hier den Altersdurchschnitt in unbekannte Höhen und cool bin ich erst recht nicht. Ein Würstchen bin ich und am Arsch!“

Er hatte jedoch die Rechnung ohne Tobi gemacht. Der war nämlich ein bunter Hund, hatte Homies in ganz Berlin, von allen gemocht. Tobi log nie, auf den konnte man zählen. Das wussten Hinz und Kunz. Und das kam ihm immer wieder zugute. Tobi und die Türsteherin begrüßten sich mit Küsschen links, Küsschen rechts und: Sie lächelte!

„Ey, lang nicht mehr gesehen!“

„Wie geht’s denn?“

„Ja, super! Selbst?“

„Kann nicht klagen, alles dufte! Das ist übrigens Ingo, guter Freund von mir!“

Ingmar wollte schon ansetzen, Tobi zu verbessern, aber dann war es ihm bereits wieder egal.

Scheiß drauf, bin ich halt Ingo, dachte er sich.

„Ihr kennt den Drill.“

Sie streckte ihnen eine Rolle mit minikleinen Stickern hin. Tobi zückte sein Handy und klebte mit flinken Fingern die Kameras auf beiden Seiten ab. Ingmar zuckte beschämt mit den Schultern und flüsterte, sodass die beiden es fast nicht hören konnten:

„Ich besitze kein Handy …“

Als sie in den Innenhof traten, verstand Ingmar die Welt nicht mehr. Die Sonne züngelte unverhohlen am Himmel, kein Wölkchen, viele der jungen Hüpfer in kurzen (sehr kurzen!) Hosen, die Typen teilweise ohne T-Shirt, schwitzig, happy, aufgedreht … es war, verdammt nochmal, Samstagnachmittag! In welchem Film war er hier?! In der Disko feiern, war doch was, was man Freitag- oder Samstagnacht tat! Ein Mädel mit regenbogenbunten Haaren und merkwürdig krakeligen Tatöwierungen an beiden Armen, den Beinen und sonst noch wo, warf ihm eine Plastikblumenkette über und grinste frech, bevor sie mit ihrer Truppe in einem langen, verrauchten Gang zu seiner Linken verschwand. Ingmar spürte urplötzlich ein warmes Kribbeln, er wollte gleich hinterher. Als er gerade kehrt machen wollte, packte ihn jemand am T-Shirt-Kragen und hielt ihn vehement zurück.

„Na na na, Ingo. Chill dich! Wir sind gerade erst angekommen“, tadelte ihn Tobi.

Wie ein trotziges Kind erwiderte Ingmar:

„Ja, aber hast du das nicht gesehen? Wie die mich angeschaut hat? Die will bestimmt mehr! Ich muss da hinter- …“

Tobi lachte los. Es war aber kein Auslachen, es war eher jenes liebevolle Lachen, das Eltern von sich geben, wenn ihr Kind mit voller Überzeugung etwas gesagt hat, was keinen Sinn ergab – aber nur, weil es der halbe Meter in seiner unerschütterlichen Naivität nicht besser wusste. Er nahm Ingmar in den Schwitzkasten.

„Ingo, Ingo, Ingo … du einiges noch zu lernen hast“, seine Yoda-Imitation war ausbaufähig. „Wir holen uns jetzt erstmal ‘nen Drink und dann fliegen wir los!“

Um an die Bar zu kommen, mussten sie sich zwischen unzähligen verschwitzten, wunderschönen Körpern durch-drücken. Ingmar war sprachlos. In welcher absurden Parallelwelt war er hier gelandet? Der Bass trieb die Menge unermüdlich an. Bumm Bumm Bumm Wämms! Die Musik drehte sich im Kreis, eine Melodie nahm er nicht wahr. Laut war es vor allem. Immer wieder bratzten ihm breitflächige Synthesizerklänge frontal ins Gesicht. Ebbe und Flut in kürzesten Abständen. Jedes Mal, wenn sich die Musik hin zu einem dieser kleinen Höhepunkte schob, fingen die Frauen und Männer zu pfeifen, kreischen und johlen an. Die Arme wurden gen Decke gereckt.

Er musste sich an der Bar festkrallen. Das war irgendwie alles zu viel. Was war das? Und fand er es schrecklich? Oder doch schön? Die feuchte Luft in diesem überfüllten Raum sorgte jetzt auch bei Ingmar für übermäßigen Schweißfluss. Tobi sah hingegen wie das blühende Leben aus, so zumindest Ingmars Eindruck. Er wäre der perfekte Posterboy für die 68er-Bewegung gewesen. Als Ingmar ihn so betrachtete, wie er lässig und unaffektiert an der Theke lehnte, fiel ihm auf, dass es eben nicht in erster Linie sein Äußeres war, das ihn so einzigartig erscheinen ließ. Die Haare lang, ein paar verfilzte Dreads im gelockten Wirrwarr, der Bart noch länger, die Klamotten kunterbunt (aber alles natürlich nur ökologisch-wertvolle Produkte oder Second Hand), an den Handgelenken und um den Hals baumelten Kettchen und Armbänder aus aller Herren Länder. Das war kein Look von der Stange, aber auch keiner, der die Fashionistas auf der Straße zum Umdrehen bewegte. Nein, Tobi hatte tatsächlich so etwas wie eine Aura. Eine Aura, die ihn strahlen ließ. Menschen, die sich auf ihn einließen, bemerkten schnell, dass Tobi dieses gewisse Etwas hatte. Und er hatte es, weil er es nicht erzwang, es nicht unbedingt haben wollte, nichts damit bezweckte, mit sich selbst im Reinen war. So sprudelte das Charisma ganz von selbst.

Ingmar verspürte eine Spur von Neid. Wie Tobi aus all den Druffis herausstach, wie er mit dem Barkeeper flachste, die beiden sich lachend gegenseitig an den Schultern packten. Das war immer sein großer Wunsch gewesen: Eine charismatische Persönlichkeit wollte er sein, nach der sich der ganze Raum umdrehte, sobald er ihn betrat. Wirtschaftlicher Erfolg schön und gut. Da hatte er sich nichts vorzuwerfen. Performt hat er wie ein junger Gott, gnadenlos, immer mit dem richtigen Riecher, wann es an der Zeit war, Risiko zu gehen. Bis auf dieses eine Mal eben. Aber jenes schillernde Antlitz, das manch andere Macher (Reinhold Würth! Steve Jobs! Elon Musk! ... Groß denken! The sky is NOT the limit!) auf Magazincover und in Talkshow-Sessel brachte, besaß er nicht. Irgendwann hatte er sich auch eingestehen müssen, dass dies etwas war, das man nicht erlernen konnte. Was er über all die Jahre an Kohle in Personality-Coaches gepumpt hatte! Bei den massiven Beträgen, die er denen gezahlt hatte, war es kein Wunder, dass sie ihm mit ihren zurückgegelten Schmalzlocken hinterhergekrochen kamen. Wahrhaftigkeit ließ sich nicht kaufen, täuschen konnte er nur bis zu einem bestimmten Grad. Das war Fakt.

Tobi streckte ihm eine Wasserflasche hin:

„Jetzt geht die Luzi ab, Digger!“

Wasser? Stilles Wasser?! War das sein Ernst? Damit sollten sie jetzt gebührend feiern und einen draufmachen? Er roch an der Flasche. Nee, war auch kein klarer Schnaps. Ingmars offensichtliches Stirnrunzeln brachte Tobi zum Lachen:

„Komm mit …!“

Er hakte Ingmar unter und zog ihn mit. Er ging quer über den Innenhof, überall saßen und lagen die zerfeierten Gestalten, nahmen sich eine Auszeit, folgten durch ihre Sonnenbrillen den vereinzelten Wattebällchen am Himmel.

„Ey, cooler Style“, rief ihm einer zu, der im Schneidersitz auf einer der terrassenförmig angeordneten Holzbänke saß, über ihm baumelten Lichterketten, deren bunte Gehäuse ausgeblichen waren.

Will der mich verarschen, dachte sich Ingmar. Zuerst blickte er an sich runter, dann dem Typen ins Gesicht. Cool sollte das sein? Eine weite Pluderhose aus taubengrauem Leinen, das Hemd kurzärmlig, ein pastellfarbenes Muster à la 60er-Jahre-Wohnstubentapete, an den Füßen ausgelatschte weiße Reebok-Tennisschuhe. Wie ein Clown sah er aus, ein sehr bemitleidenswerter! Mehr aber auch nicht. Der Typ war wohl anderer Meinung: Sein Lächeln hätte nicht echter sein können. Von Grund auf ehrlich gemeint.

„Danke …“, erwiderte Ingmar verschüchtert.

Sie glitten weiter durch die Grüppchen schöner Menschen.

„Äh, Tobi, ich muss aber gar nicht pissen!“

„Ist egal, komm jetzt!“

Tobi zog ihn in eine der Kabinen, schloss ab. Die Wände von unten bis oben vollgetaggt, Aufkleber en masse, Kloschüssel ohne Klobrille, die Luft uringeschwängert.

„Hier, halt mal.“

Zack – und Ingmar hatte beide Wasserflaschen in der Hand. Aus der Innentasche seines Portemonnaies zog Tobi ein kleines Plastiktütchen, darin kleine weiße Kristalle.

„Was ist denn das?“, fragte Ingmar neugierig.

Auf seinem Leidensweg hatte er schon so einiges probiert, um die Wucht des Lebens abzudämpfen. Heroin hatte er schon unzählige Male geraucht (das Spritzending hatte er noch nicht gewagt, davor hatte er (noch) Bammel), Crystal Meth hatte er auch schon mal probiert, das war vielleicht abgegangen! Dass er echt mal als Junkie enden sollte: Wer hätte das gedacht! Karma war nach wie vor ein Schlitzohr.

„Mdeeee ist das, Ingo! Also MDMA … das lässt dich schweben, ich sag’s dir! Du wirst die Welt vor lauter Liebe zerquetschen wollen!“

Hibbelig wie ein kleines Kind sprang er von einem Bein aufs andere. Er bröselte kleine Mengen in beide Flaschen.

„Das sollte für den Anfang enough sein. Kein Alkohol mehr heute, das verträgt sich nicht so. Und wunder dich nicht, wenn ich dich immer mal wieder zum Pissen schicke.“

„Hä, das merk ich doch selber, wenn ich muss?“

„Ne, du hast da nicht so den Harndrang, du musst dich dann richtig zwingen. Aber alles easy, das wird zauberhaft!“

Tobi prostete Ingmar auf dem Weg zurück ins Getümmel zu, nahm einen tiefen Schluck. Ingmar tat es ihm gleich. Bah! Bitter war das! Aber was soll’s. Solange es ordentlich knallt. Gleich noch einen Schluck hinterher. Sie gingen durch den langen verrauchten Gang, in dem vorhin das Blumenkettenmädel verschwunden war. Die Intensität der Musik nahm zu, dieses Mal sphärische, hypnotisierende Sounds, minimalistisch eingesetzt über gedämpften, aber unermüdlich nach vorne preschenden Bässen. Sie bogen um ein paar Ecken, die matt schwarz gepinselten Wände schluckten das Licht, nahmen der Umgebung das Profil. Dann standen sie mitten auf dem Floor, viel größer als der erste war der, auf mehrere Betonpfeiler prallten die Strobo-skopblitze, die vom DJ-Pult heranschossen. Im Nebel zappelten dutzende schwarze Schatten, Tageslicht drang keines in diesen Raum, dessen Ecken Ingmar beim besten Willen nicht ausmachen konnte. Während er noch versuchte, sich zurechtzufinden, hatte Tobi schon die Augen geschlossen und wiegte sich mit baumelnden Armen sanft zur Musik. Nach und nach zog Tobis Körper immer größere Kreise. Wie Fische in einem riesigen Schwarm kamen sich die Tanzenden zu keinem Augenblick in die Quere. Sie glitten aneinander entlang. Jeder für sich und doch gleichzeitig ein einziger pulsierender Organismus.

„Und ich? Was mach’ ich jetzt?“, fragte sich Ingmar.

Scooter war das höchste der Techno-Gefühle, was bei ihm ab und an zu später Stunde bei Grillparties und Weihnachtsfeiern gelaufen war.

Kein Schimmer, wie ich mich da bewegen soll. Da kann ich mich nur zum Trottel machen, schwitzte es in seinem Hirn.

Er wollte schon kehrtmachen. Weg, raus an dem kleinen Teich, Tobi sein Ding machen lassen. Da zwinkerte ihm durch die Nebelschwaden das Blumenkettenmädel zu, sie streckte ihm den Arm entgegen, gab ihm zu verstehen: ‚Komm! Trau dich.’. Sie fing an zu hüpfen, warf die Hände in die Luft, den Kopf in den Nacken. Tänzerisch anspruchsvoll sah das nicht aus, rhythmisch, nun ja… aber sie hatte Spaß, und was für einen!

Scheiß drauf, falsch kann man nix machen. Und mitkriegen tun die hier doch eh nix mehr, redete sich Ingmar ein.

Steif wie ein Brett stampfte er los. Es dauerte ein wenig, bis er einen für ihn natürlichen Bewegungsablauf fand.

Wann wirkt das Zeug denn endlich, fragte sich Ingmar.

„Wann wirkt das Zeug denn endlich?“, brüllte Ingmar der Unbekannten zu.

„Was?!“, kam es zurück.

„Also, ich hab’ da hier …“, er deutete auf die Flasche. „… dieses MDMA drin. Wann spür’ ich denn da was? Wie lange dauert das? Und was spür’ ich dann überhaupt?“

Sie zog ihn zu sich und krakelte ihm ins Ohr. Ingmar hatte den Eindruck, sie säße in seiner Ohrmuschel:

„Also, kommt drauf an, wann du es genommen hast. Dauert aber schon so plus/minus ‘ne halbe Stunde. Vielleicht wird’s dir am Anfang ein bisschen übel im Magen. Aber dann fühlst du dich einfach nur mega guuut! Lass es zu!“

„Na, danke fürs Gespräch“, dachte er sich, lächelte aber dankbar-verunsichert zurück.

Seine Stampfschritte fühlten sich irgendwann irgendwie wattig an. Das aufblitzende Licht brach anders als zuvor, er konnte den einzelnen Strahlen durch den Nebel folgen. Die Musik wurde greifbar, all das gehörte hier genau so zusammen! Ja, jetzt machte es plötzlich Sinn! Diese zuvor losen Bausteine, Puzzleteile fügten sich nahtlos zusammen. Eigentlich war es in diesem Moment überflüssig, sich im eigenen Körper bewegen zu müssen, aber dies ließ sich eben leider nicht ändern.

Ingmar krallte sich Tobi:

„Ey, hast du vielleicht mal ‘ne Kippe für mich?“

Tobi schien amüsiert:

„Sicher! Hast mich zwar erst vor fünf Minuten das letzte Mal nach einer gefragt. Hier, greif zu.“

Er streckte ihm die Schachtel entgegen.

Die Auge-Hand-Koordination fiel Ingmar deutlich schwerer - warum war alles so merkwürdig flach? -, aber der Wunsch zu rauchen war groß genug, um diese Herausforderung mit ein klein bisschen Anstrengung zu meistern. Nachdem Tobi ihm Feuer gegeben hatte, fiel er dem edlen Spender um den Hals, gab ihm einen dicken Knutscher auf die Backe. Tobi spürte frisch rasierte Bartstoppeln und trockene Lippen.

„Hier, du musst mehr trinken. Ist nur Wasser, ich schwör.“

Er drückte Ingmar eine Plastikflasche mit Drehverschluss in die Hand, die er ungefähr im Stundentakt immer wieder am Waschbecken beim Klo auffüllte. Teilweise war dort die Schlange länger als an der Bar.

„Tobi, man, ich lieb’ dich! Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr“, quietschte Ingmar los. „Ich weiß, ich kann sowas nicht gut zeigen, normalerweise. Aber jetzt, genau jetzt, ey, da spür’ ich das. So überall, ohne Witz, in jeder Pore! Das schießt mir so richtig aus den Synapsen! Da ist viel zu wenig Liebe da draußen! Was machen die Menschen? Richten sich zugrunde! Für was? Für nix und wieder nix! Du hast aber den Dreh raus. Ach, Tobi, alter Falter. Lass dich drücken! Aaaaah!“

Er brüllte, johlte, es musste raus, alles, da war so viel davon! Immer schneller drehte er sich im Kreis, er war ein Grinse-Karussell, alle um ihn herum bekamen Liebe von ihm, so unendlich viel Liebe. Am liebsten hätte er jeden und jede einzeln geherzt, abgeküsst, einfach nur festgehalten.

„Es geht doch! Warum nicht immer so? Wir können gut zueinander sein, ich seh’ es doch“, posaunte Ingmar überwältigt raus.

Mit mahlendem Kiefer blickte er ungläubig um sich. Er konnte genauso wenig still halten wie all die ihn umtänzelnden Silhouetten. Von Müdigkeit keine Spur. Das Hemd klebte am Körper, Tobi hatte es ihm bereits komplett aufgeknöpft, was aber nicht wirklich half. Von der Decke tropfte der Schweiß. Der einzige Regen, den Clubgänger am Wochenende erlebten. Immer schneller klopfte der Bass Ingmar auf die Schultern, wie ein vertrauter Kumpel, der ihm zuflüsterte: ‚Komm, da geht noch was!‘

Schon für geraume Zeit hatte er den Punkt überwunden, sich Gedanken über sich, sein Äußeres, seine Bewegungen zu machen. Er floss. Ein Partikelchen im extatischen Nirvana des Sisyphos. Alle waren er, das Blumenkettenmädchen war Tobi. Jetzt verstand er, was Tobi meinte, als er zu ihm gesagt hatte, sie würden heute fliegen. Als er sich trotz fehlenden Harndrangs zum Pissen aufraffte (er war immer ein sehr pflichtbewusster Bürger gewesen, er tat, was Autoritäten ihm auftrugen, und diese Grundeinstellung schlug auch jetzt ab und an noch durch – insbesondere, wenn es sich bei der Autorität um Tobi handelte) und an die frische Luft trat, war es bereits dunkel. Fasziniert starrte er die bunten Lichterketten um sich herum an, sein beschleunigter Herzschlag hatte die Musik mit ins Freie gebracht.

„Iss mal was!“ Tobi hielt ihm eine Banane hin. „I know, du hast keinen Hunger. Aber was muss, das muss, wa! Wir haben noch einiges vor.“

Ingmar biss beiläufig ab, mit viel zu starkem Biss kaute er die Banane.

„Wieviel Uhr ist es eigentlich?“

„Was für eine Rolle spielt es? Zwünf vor drölf vielleicht? Deinen Verstand kannste mal in die Hosentasche packen. Ich seh’ doch, was sich da in dir tut!“

Dreimal setzte Ingmar vergeblich an, bis er losstotterte:

„Ich schnall das nicht, was da passiert! Ich hab’ mich noch nie so gefühlt wie jetzt gerade.“

Tobi stolperte drei Schritte nach hinten. So heftig war die Umarmung, mit der Ingmar ihm um den Hals fiel, und lachte, prustete. Gleichzeitig wurden seine Augen feucht, im Hals ein dicker Kloß. Von Scham und Scheu hatte er sich befreit. Es war aber nicht so, dass es vom einen ins andere Extrem umschlug und Ingmar zum überheblichen Egomanen mutierte, der er früher gewesen war. Er war einfach nur dankbar und glücklich. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. All das, was sonst so schwer auf ihm lastete, war wie weggeblasen. Er strotzte nur so vor Zuneigung für die Menschen, die hier mit ihm auf dieser Spielwiese für Erwachsene rumtollten. Der Körper folgte dem ruhelosen Geist mühelos – der Rausch unterdrückte erfolgreich jede Form der Erschöpfung.

„Zurück ins Getümmel“, johlte er in die lose Runde.

Die um ihn Herumstehenden und -sitzenden pflichteten euphorisch bei und die Karawane zog los ins dunkle Gemäuer. Wann war ihm das letzte Mal jemand auf seinen Vorschlag hin gefolgt? Voller Überzeugung? Ewigkeiten war das her. Und damals in den meisten Fällen auch eher aus Unterwürfigkeit und/oder Angst. Realisiert hatte er das jedoch viel zu spät. Viel zu viele falsche Entscheidungen hatte er getroffen. Niemand, der sich getraut hatte, die berechtigten Einwände vorzubringen. Und deswegen eben jenes Ende, welches irgendwann unvermeidlich war. Mit Backstein auf dem Gaspedal frontal gegen die Wand. Aber all das war heute nicht von Bedeutung. Sie alle hatten ihr Päckchen zu tragen, da war sich Ingmar sicher. Doch interessierte es ihn nicht die Bohne – warum auch? Was hätte dieses Wissen an diesem einzigartigen Glücksmoment geändert, wie sollte es ihn noch größer werden lassen? Absolut unmöglich. Sie waren eine große, unvoreingenommene Familie. Sie ritten vielleicht das ein oder andere Klischee, umarmten es sogar. Vorurteile hingegen suchte man vergeblich an diesem Ort. Die bunteste Gleichheit, die Ingmar je miterleben durfte. Auf dem Weg zurück zum großen Floor, die Hammerhalle, drückte ihm ein glucksender Begleiter noch ein grobes Drittel einer bunten Pille in die Hand, zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Hätte Tobi das gesehen, wäre die Pille wahrscheinlich in dessen Tasche und nicht in Ingmars Mund verschwunden. Ingmar dachte sich aber vielmehr:

Was soll ich mit diesem klitzekleinen Stückchen? Na ja, runter damit … besser als gar nix. Dem geschenkten Maul guckt man nicht ins Maul!

Die Wirkung trat genau in dem Augenblick ein, als er sich fragte, wann es denn wohl wirken würde. Er brauchte ein bisschen, bis er verstand, dass alle im Raum sich in zweidimensionale Scherenschnitte verwandelt hatten. Ihre Bewegungen waren merkwürdig abgehakt. Sie hinterließen dampfende Schatten in der Luft, die in sämtlichen Farbschattierungen eines bombastischen Regenbogens schimmerten. Da klappte ihm trotz des verkrampften Kiefers die Kinnlade runter. Aber er hinterfragte es nicht, sondern genoss den Anblick. So doll, wie er in Watte gepackt war, konnte ihm gar nichts passieren. Frei und sicher fühlte er sich. Ein alternder Wirbelsturm, der nicht für Zerstörung sorgte, sondern für gute Laune. Trotz der von Tobi zu Beginn der Partysafari ausgesprochenen Warnungen, hing in Ingmars Hand zuweilen eine Bierflasche. Es blieb auch nicht bei einer. Diverse Shots Berliner Luft und Mexikaner fanden ebenso den Weg in seinen Magen. Keinen einzigen Euro musste er dafür locker machen (mit Ach und Krach hätte er sich vielleicht ein Bier leisten können). Nein, ihm wurde alles ausgegeben. Von den Mitgliedern dieser temporären Family. Er war hier der bunte Vogel, wie eine Trophäe wurde er durch die Grüppchen gereicht. Er genoss die ehrliche Aufmerksamkeit. Da gab es auch keine Hintergedanken, keinen versteckten, vor Gemeinheiten triefenden Plan. Sie wollten ihn nicht ausnehmen – zumal es da ja sowieso nichts zu holen gab. So arm er auch war, völlig mittellos und ausgebrannt, so reich fühlte er sich in diesem Moment. Reichtum hatte sich für ihn immer in den Nullen auf dem Konto dargestellt, in der Zollgröße seiner Chromfelgen, im Alter seines Whiskys, in der Poolgröße seiner Ferienvilla auf Teneriffa. Dieser Schwanzvergleich von midlifecrisisgeplagten Männern erschien ihm mittlerweile einfach nur lächerlich. Und vor allem auch bedeutungslos. Zuhause bekamen sie keinen mehr hoch, vor sogenannten Freunden und Geschäftspartnern markierten sie den großen Macker, der der Sekretärin vor versammelter Mannschaft auch mal an den Arsch griff, denn man hatte sich ja nicht ohne Grund diesen jungen Hüpfer ausgesucht. Bei dem Weihnachtsbonus musste der kleine Spaß zwischendurch doch drin sein. Alles halb so wild, die soll sich mal nicht so haben. In den seltenen Fällen, wenn er sein altes Leben Revue passieren ließ, während er an die Decke der U-Bahn-Station starrte, eingehüllt in seinen klammen Schlafsack, schämte er sich in Grund und Boden. Teilweise wurde ihm richtig übel, was für ein Kotzbrocken er doch gewesen war. Vollgepumpt mit Hochmut bis in die Haarspitzen, überzeugt von sich selbst, arrogant bis zum Gehtnichtmehr. Niveau sieht nur von unten wie Arroganz aus – sein Mantra für so viele Jahre. Ich Chef, du nix – nach diesem Prinzip hatte er sein Unternehmen aufgebaut. Zuckerbrot und Peitsche. Das Zuckerbrot aber nur spärlich eingesetzt. So hatte er es von seinem Ziehvater gelernt, und der hatte die Firma schließlich mit nichts als harter Arbeit, harter Hand, bedingungslosem Einsatz und klarem Gewinnerethos zum Erfolg geführt. Was konnte an dieser Herangehensweise, bitteschön, falsch sein? Wenn sie aufmuckten, machte man mit dem Vertriebler eben mal wieder einen kleinen Ausflug in den Puff. Und schon tanzten sie wieder nach seiner Pfeife. Man musste nur wissen, wie!

Irgendwann schmeckten selbst die Kippen nicht mehr, ihm war nach frischer Luft. Verschwitzt bis auf die Unterhose tippelte er nach draußen. Sobald er über die Schwelle vom Drinnen ins Draußen trat, stach ihm gleißendes Tageslicht ins Auge. Schnell zog er die Sonnenbrille auf, die Tobi ihm irgendwann in die Hemdtasche gesteckt hatte, als dieser vorführen musste, wie er im Handstand gehen kann.

„Wie viel Uhr ist es? Wann ist es?“

Ingmar war platt und verwirrt. Da es aber vielen ähnlich ging, fiel er nicht weiter auf, die eine Hand in die Hüfte gestemmt, mit der anderen seinen Kopf kratzend. Tiefergehendes Nachdenken strengte ihn zu sehr an, also ließ er es bleiben. An dem kleinen Teich im Hof fläzte er sich hin.

Aaah, sitzen, durchfuhr es ihn.

Wie ein welkes Pflänzchen sog er die Sonnenstrahlen auf. Der Kopf hing im Nacken, die Augen ließ er trotz Sonnenbrille geschlossen.

„Wann hast du das letzte Mal so richtig bewusst eingeatmet?“

Tobis Stimme streichelte ihn.

„Also, ich mein’, so, dass du dich ganz mit frischer Luft gefüllt hast und du dabei dachtest: Die Zeit nehm‘ ich mir jetzt!?“

Ingmar fand auf diese Frage keine Antwort, er konnte es bei bestem Willen nicht sagen. Für esoterischen Firlefanz hatte es bei ihm nie Zeit gegeben. Ein müdes Lächeln von oben herab gab es für solche Aussagen, mehr nicht. Doch jetzt, wo er genau das tat, was Tobi ihm vorgeschlagen hatte, schossen ihm innerhalb weniger Sekunden die Tränen in die Augen. DAS ist Leben! Das Ganze davor war eine Lüge! Ne verdammt luxuriöse Lüge! Wie um alles in der Welt war es möglich, dass er so blind gewesen war? Den Blick fürs Wesentliche, für das, was wirklich zählte, hatte er augenscheinlich nie besessen. Alles nur Schall und Rauch aus dem Auspuff seines E-Klasse Mercedes AMG. Was lacostet die Welt? Wenn’s der Kreditrahmen zulässt, nach mir die Sintflut – so hatte Ingmar immer jegliche Verantwortung von sich gewiesen. Er hatte es schließlich verdient, die Früchte seiner Schindereien zu ernten. Diese unsägliche Neidkultur in Deutschland! Die Amis! Die machen das richtig! Da gibt’s ein anerkennendes Nicken oder Schulterklopfen, wenn man protzt!

Er sog die sanft wärmende Luft tief ein und tippte auf Vormittag. Ja, es fühlte sich nach einem Vormittag an, dem ein brüllend heißer Nachmittag folgen sollte. War er müde? War er hellwach? Beides traf zu. Und wieder einmal, wie schon so oft in den letzten Stunden, musste er sich eingestehen: Es spielte schlussendlich keine Rolle. Dieses ständige Hinterfragen kostete einfach nur unendlich Energie. Energie, die so vielen im Hamsterrad Gefangenen flöten ging. Energie, die für so viel Gutes und Sinnvolles genutzt werden könnte. In Ingmars Kopf wuchs eine Utopie heran, die er sich in dieser Form früher niemals ausgemalt hätte. Im Zentrum das Miteinander, Fürsorge zeigen und leben, Achtsamkeit in all ihren Facetten, Rücksichtnahme, Respekt. Wörter, zu denen er sonst nie gegriffen hatte.

„Ingo, du geile Type!“

Neben ihm ließ sich ein junger Kerl nieder, ganz in Schwarz gekleidet, viel Lack, viel Leder, überall Tattoos, auch im Gesicht, auf dem Kopf. Er klopfte Ingmar auf die Schulter.

„Hier, gönn dir!“

Schon hatte Ingmar einen Plastikbecher in der Hand, süßlich-herb der Geschmack und ordentlich Wumms.

„Sag mal, hast du auch von diesem krassen Mörder gehört, irgendwo da in der Einöde der Eiffel? Der hat in aller Seelenruhe seine Freundin und deren Schwester gemeuchelt, hast du das mitbekommen?“

„Nee, sorry, bin nicht so auf dem neuesten Stand, hab keinen Fernseher, kein Handy, ‘ne Zeitung kann ich mir nicht leisten …“

Ingmar war von seiner eigenen Ehrlichkeit überrascht, aber er merkte: Es war gut so!

„Kein Ding, Alter. Also, wie gesagt, der hat die eiskalt abgestochen. Mit ‘nem Jagdmesser. Weißt du, so ein Gerät, wie Rambo hat!“

Der Schwarzgekleidete imitierte mit dem Daumen einen langsamen Schnitt von links nach rechts durch seine Kehle, ließ dann mit ausgestreckter Zunge und verdrehten Augen den Kopf zur Seite sacken.

„Aber weißt du, was das Heftigste dabei war?“

„Nee, keine Ahnung. Aber du wirst es mir sicherlich verraten“, antwortete Ingmar amüsiert auf die rhetorische Frage.

„Der hat selber die Bullen gerufen, hat denen die Tür aufgemacht, sie höflich reingebeten. Anscheinend hat sich den Bullen beim Anblick des Gemetzels der Magen umgedreht – wie beim Metzger, Alter, wie beim Metzger muss das gewesen sein! Und als sie ihn gefragt haben, warum er das gemacht hat, hat er nur gesagt: ‚Ich wollte wissen, wie warm die Knochen in uns sind.‘ Ist das nicht völlig krank? Zwei Menschen ausgelöscht! Einfach so … ich mein’, auf welchem Film ist der, bitte, hängen geblieben? Wenn ich zu viel Coke gezogen hab’, bin ich vielleicht mal ein bisschen überambitioniert und denke, ich wäre der Shit. Da will ich solchen verzogenen Bonzenbengeln vielleicht die Fresse polieren. Aber das war’s dann auch. Jemanden so eiskalt abstechen … ich könnte das nicht!“

Ingmar musste auflachen. Nicht wegen der Geschichte, vielmehr aufgrund dieser abstrusen Unterhaltung, die eher einem Monolog glich. So etwas kannte er nicht.

„Das ist auch gut so! Sonst würde ich mich jetzt verabschieden!“

Er knuffte den Typen in die Seite, der daraufhin ebenso zu lachen anfing.

Die beiden steigerten sich da richtig rein, lagen sich in den Armen und prusteten wie kleine Jungs. Es war einer dieser Lachanfälle, an die man sich gerne erinnert – aber wenn man von ihnen erzählt, schaut einen das Gegenüber nur mit großen Augen fragend an.

Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten und er wieder zu Atem gekommen war, starrte Ingmar, auf dem Rücken liegend, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, auf die über ihm hängenden Äste. Wann hatte er jemals so viele unterschiedliche Menschen an einem einzigen Tag kennengelernt? All diese kurzen Bekanntschaften, die Hälfte wahrscheinlich schon wieder vergessen, aber das war auch nicht der Punkt. In dem jeweiligen Moment war es was Echtes. Egal, ob echt tiefgründig oder echt blödsinnig. Fast schon religiös aufgeladen waren die Gedanken, die ihn umschwirrten:

Ich fühl mich gesegnet. Nee, ich BIN gesegnet! Tobi ist ein Engel, da bin ich mir sicher. Aus der Scheiße hat er mich gezogen!

Diese Eingebung wollte verbalisiert werden.

„Tobi! Wo steckst du denn? Tobi?“, rief Ingmar in der verqueren Annahme, dass Tobi sicherlich hier neben ihm sitzen müsste.

Und wie der Zufall so wollte, war Tobi nicht weit. Er flanierte schnurstracks auf ihn zu, federleichter Gang, flankiert von einem Hippie-Pärchen ähnlichen Alters. Die drei hatten sich eingehakt, ein pralles Grinsen quer über drei Gesichter.

„Ingo, das sind Josefine und Claudio, alte Freunde von mir. Hab’ ihnen schon viel von dir erzählt.“

Als Ingmar den Arm zum Händeschütteln ausstreckte, wurde diese Geste eiskalt ignoriert. Zwei innige Umarmungen folgten, dicke Knutscher auf die Wange inklusive.

„Sagt mal, was habt ihr noch so vor?“, setzte Josefine an.

Trotz der Lachfalten, der sonnengegerbten Haut und des clownesken, völlig zusammengewürfelten Outfits hatte sie eine extrem anziehende Wirkung auf Ingmar. Sein Typ war sie nicht, aber irgendwie doch?! Waren das die Drogen? Was war Schönheit? Der schwarzgelockte Claudio, asketischer Körperbau (man sah jede Sehne, und dann erst diese bernsteinfarbenen, funkelnden Augen, die ihn fixierten!), hatte sich abgelegt, seinen Kopf auf Josefines Oberschenkel gebettet.

„Das Ding hier ist irgendwie durch, aber wir haben noch Bock auf Afterparty bei uns. Lust mitzukommen?“

In Richtung Tobi der Zusatz:

„Wir haben uns jetzt echt schon ewig nicht mehr gesehen, gib dir ’nen Ruck!“

Das Pärchen musste nicht lange Überzeugungsarbeit leisten, in Tobi loderte nach wie vor die Flamme namens ‚Rave on!‘. Und so kam es, dass sie in Windeseile im Taxi saßen – Claudio hatte seine Spendierhosen an. Beschwerden gab es keine, ganz im Gegenteil. Erleichterung machte sich bei allen breit, als sich Tobi, Josefine und Claudio auf die Rückbank drückten. Ingmar stieg vorne ein. Der Taxifahrer war zum Glück gut drauf. Er drehte die Scheiben runter und die Musik lauter. Mit den größten Hits der 80er-, 90er-, Nullerjahre und von heute düste er los. Auf den Radwegen sonnenhungrige Twens und Familien mit wild strampelnden Kindern auf kleinen Fahrrädern. Dieser sengend heiße Sommertag zog alle raus ins Grüne, an die Seen, in die Freibäder. Erfrischung war das höchste Gut dieser Tage, weg vom glühenden Asphalt und den grauen Häuserschluchten, die noch bis spät in die Nacht die Hitze zurück in die Straße warfen. Die vierköpfige Reisegruppe im Toyota Prius hatte andere Pläne.

Es ging in nordöstlicher Richtung gen Lichtenberg, monströse Platte statt Altbau mit Bohemien Chic. Die medial kolportierten Klischees der Hauptstadt waren falsch und gleichzeitig absolut zutreffend. Vom Taxifahrer verabschiedeten sie sich mit Ghettofaust, Claudios Spendierhosen ließen sogar ein ordentliches Trinkgeld springen, was der Taxifahrer wiederum mit einer klopfenden Geste zum Herzen quittierte. Dummerweise fuhr der Aufzug nur bis in den 8. Stock. Das bedeutete: fünf Stockwerke Treppensteigen. Modrig stand die Luft im Treppenhaus, Putz bröckelte von den Wänden, getrocknete Kaffee- und Kotzflecken glichen abstrakten Gemälden. Egal wie abgeranzt dieser Gebäudekomplex aus einstigen sonnig-sozialistischen Zeiten auch war: Der Ausblick vom Balkon über die Stadt machte alles wett.

„Also dort unten, in diesem Wirrwarr, treibe ich mich tagein, tagaus herum! Kein Wunder, dass ich mich verloren fühle …“, sinnierte Ingmar, beide Ellenbogen auf dem Geländer, den Kopf in die Hände gelegt.

Kleine Ameisen, die dort unten vor sich hinwuselten. Wenn er ein Auge zukniff, konnte er sie mit dem Zeigefinger von hier oben zerdrücken. Über den Dingen stand er schon so lange nicht mehr. Durch die Nase tief einatmen, durch den Mund noch tiefer ausatmen. Welch Wohltat. Hinter ihm geschäftiges Treiben in der Wohnung, der Kühlschrank knallte zu, er vernahm das Aneinanderklimpern von Glasflaschen, in dem großen Wohnküchenbereich mit grob durchgebrochener Zwischenwand machte sich jemand an der Musikanlage zu schaffen. Es war wohl Josefine, denn voller Inbrunst stimmte sie ab der ersten Note mit ein, als Janis Joplin losträllerte. Sie juchzte:

„Fuck, was eine Frau! Was eine Stimme!“

Durch die gebatikten Tücher, die die Hitze draußen halten sollten, sah Ingmar schemenhaft drei tanzende Körper. Als er durch die Balkontür reinlugte, winkten sie ihn zu sich. Das kühle Bier erfrischte, der Joint beruhigte. Die Euphorie spürte er noch immer, nur nicht mehr ganz so auf die Zwölf.

„What a night, he?“, rief ihm Tobi zu. „So was schonmal erlebt? Nee, oder? War doch ‘ne geile Experience!“

Ingmar nickte, denn dazu sagen konnte er noch nichts. Jegliche Kategorien zur Einordnung des Erlebten, die er sonst in seinem Leben angewandt hatte, griffen nicht.

„Dich hingeben und treiben lassen, keine Angst, nicht sträuben. Erstmal alles einfach zulassen, dann wirst du merken, wie du dich nach und nach öffnest …!“

Tobis Worte – vor wie vielen Stunden an ihn gerichtet? – klangen in Ingmars Ohren noch nach.

Sie hüpften, sie tanzten, sie rollten herum, blieben liegen, ein Joint nach dem anderen ging reihum, auch Jimi Hendrix, Jim Morrison und The Who vergnügten sich in der Zweizimmerwohnung. Hier, hoch über den Dächern Berlins, war die Liebe zu Gast. Und sie fühlte sich wohl. Claudio zauberte in der rudimentär ausgestatteten Küche eine Pasta mit frischen Tomaten, ein wenig Ricotta und einem Olivenöl, das so frisch war, dass es im Hals kratzte. Sie verspeisten ihre moderaten Portionen dicht gedrängt nebeneinander auf dem Balkon sitzend (viel mehr hätten sie auch nicht runterbekommen nach all dem, was sie sich da eingeworfen hatten). Der Horizont war in ein intensives Pink getaucht, das nach rechts hin in eine Palette aller nur vorstellbaren Orangetöne überging. Angetan von der Anmut und geblendet von den letzten Sonnenstrahlen des Tages verharrten sie für längere Zeit schweigend. Sie hielten alle die Hand ihres Sitznachbarn. Nicht, weil es einer von ihnen so angeordnet hätte, sondern weil sie es fühlten. Ingmar war hier kein Fremdkörper, er gehörte dazu - mit all seinen Fehlern und Makeln. So langsam hatte er das Gefühl, wieder runterzukommen, der Puls bollerte nicht mehr andauernd auf Hochtouren, das zwanghafte Gemalme des Kiefers ließ ebenso nach. Mit einer kleinen Kopfbewegung gen drinnen und einem neckischen Lächeln bedeutete Josefine den drei Männern, mit reinzukommen. Ihr war immer noch nach Tanzen - was, bitte, gab es Befreienderes auf dieser Welt? Ingmar war körperlich am Ende, er sank nieder auf dem ausgebleichten Perserteppich, mopste sich ein Kissen vom Sofa und stopfte es zwischen Nacken und Wand. Diese Wand, so ursprünglich, komplett freigelegt, keine Tapete, mehrere gold-schwülstige Bilderrahmen, Ganesha, Brigitte Bardot, Kubismus, Schwarz-Weiß-Fotografien von Männern, die wie Revoluzzer aussahen. Filigrane Schwaden von Räucherstäbchen standen in der Luft. Der von den Dreien aufgewirbelte Hausstaub tanzte im warmen Licht der sich langsam verabschiedenden Sonne. Die Einrichtung war durchweg spartanisch, nichts Teures, keine Designerstücke, aber was hier vielmehr zu Tage trat, war wahre Individualität. Das, was Interior-Instagrammer mithilfe von Retrofiltern tagtäglich ihren Followern als Nonplusultra der Einzigartigkeit verkaufen wollten, kam hier tatsächlich in einem urgemütlichen Ensemble zusammen. Mit einer unangestrengten Laissez-Faire-Herangehensweise hatten sich Josefine und Claudio hier ihr kleines Nest gebaut. Da sie beide neugierige Zugvögel waren, sollte dies kein Zuhause für die Ewigkeit sein. Allein mit dem Wort Bausparvertrag konnte man sie zu Tode erschrecken. Für den Augenblick jedoch fühlten sie sich verdammt wohl, und ihre Nachbarn hatten sich mittlerweile an das Pärchen gewöhnt, das auf den ersten Blick aus der Zeit gefallen zu sein schien.

Das Schauspiel vor Ingmars Augen verlor so langsam an Wucht, legte jedoch an Intimität zu. Die Musik wurde ruhiger, die Bewegungen sinnlicher. Wo fing der Körper von Tobi an, wo hörte der von Claudio auf und wo in dem ganzen Wirrwarr war Josefine verwoben? Tobi bemerkte aus dem Augenwinkel Ingmars verwirrten, aber keineswegs wertenden Blick – die vorurteilsbehaftetes Denken nivellierenden Drogen wirkten also noch. Damals noch hätte Ingmar den Männern Prügel für ihr „asoziales Verhalten” angedroht und wäre mit einem niederträchtigen „Bah! Wie krank seid ihr eigentlich?!” aus der Wohnung gestürmt. Jetzt aber war er einfach nur fasziniert und sprachlos. Tobi zwinkerte ihm zu:

„Was spielt es für ‘ne Rolle? It doesn’t matter! Wie was Geschlecht? Da steckt doch schon schlecht drinnen, so eine Trennung kann nur falsch sein. Hauptsache, man hat sich lieb! Josefine und Claudio …. Zwei wundervolle Menschen, die mein Leben bunter machen!“

Dann kniff er den beiden in den Po, sie kieksten und glucksten. Ingmar sah einfach nur pure Freude und eine Anziehung, die weit über das rein Körperliche hinausging. Diese drei Körper verloren das spezifisch Menschliche, verschmolzen zum bedingungslosen Miteinander. Ingmar war Beobachter, nicht Voyeur. Obwohl er Josefine zu Beginn echt heiß gefunden hatte, empfand er nicht die geringste Lust, mit einzusteigen. Kein Druck, kein Drang. Es war gut so, wie es war – eine Konstellation im Gleichgewicht. Die drei hauchten sanft aus dem Wohnzimmer in Richtung Schlafzimmer, warfen Ingmar noch freche Kusshände zu. Diesem wurden die Augen zunehmend schwerer. In solch einer Tiefenentspannung hatte er sich schon Lichtjahre gefühlt nicht mehr befunden. Selbst bei seinen in mehr oder minder regelmäßigen Abständen durchgeführten Besuchen bordellhafter Massagesalons und der dort vermittelten Erholung, hatte er nie diesen göttlichen Zustand der absoluten Zufriedenheit erreicht. Sich vor sich selbst für diese Besuche zu rechtfertigen, war ihm nicht sonderlich schwergefallen: Sich einen von der Palme wedeln zu lassen, war ja kein Fremdgehen. Seine Frau hatte die besten Jahre hinter sich gehabt (diese erbärmliche Cellulite!), so wirklich geil hatte sie ihn schon viele Jahre nicht mehr gemacht. Und wie sollte er sonst die Firma erfolgreich am Laufen halten? Da musste man ab und zu eben auf andere Gedanken kommen, es war sein gutes Recht gewesen, Druck abzubauen. Nur dann konnte er Druck ausüben. Alles völlig logisch, quasi naturgesetzlich verankert, aber die Weiber heutzutage verstanden das immer weniger. So einiges war früher echt besser gewesen, ein Spruch, der im Kreise seiner Kumpels des Öfteren gefallen war. Danach schlürfte man dutzende Austern, obwohl sie eigentlich keiner mochte. Was er nicht alles getan hatte, um die dicke Hose jedem ungefragt ins Gesicht zu drücken.

Kapitel 3

Die Balkontür knallte zu und riss Ingmar aus seinen Gedanken. Es war mittlerweile stockdunkel und erstaunlich still, kein Straßenlärm, der die grauen Fassaden hochkletterte. Ingmar wunderte sich zwar, dachte sich aber nichts weiter dabei. Als er sich streckte und gähnte, fiel ihm auf, dass sich sein Mund pelzig anfühlte. Das war aber kein Schmerz. Nein, in keinster Weise so hell und eisig, wie sich sonst Zahnschmerzen bemerkbar machen. Seine Zunge spielte zunächst mit den oberen Schneidezähnen, anschließend mit den Backenzähnen. Alles locker … und wie! Er erschrak, der Angstschweiß schoss ihm binnen Sekundenbruchteilen auf die Stirn. Was war hier los? Er hätte Tobi nicht wie so ein kleines dummes Kind vertrauen dürfen! Scheiß chemische Drogenkacke!

„Was mache ich ohne meine Zähne?!“

Die Angst war riesig, aber dennoch zuppelte er mit den Fingern an den Zähnen rum. Einmal kurz gewackelt und er hatte den ersten Zahn in der Hand – einfach so rausgebrochen! Aber kein Tropfen Blut! Das konnte doch nicht wirklich passieren. Panisch griff er sich den nächsten Zahn. Und den nächsten. Alle landeten in seiner linken hohlen Hand. Immer schneller wurden seine Bewegungen. Er knipste hektisch die Stehlampe an, zitterte so heftig, dass er aufpassen musste, die Zähne nicht quer über den Boden zu verteilen. Unter dem Licht nahm er sie genauer in Augenschein: Das waren keine massiven, gesunden Zähne! Das waren lediglich noch dünnwandige Hüllen, porös, geradezu fragil. Als er einen davon zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, drückte er ein bisschen zu feste. Der Zahn zerbröselte im Nu. Ein kurzer Windstoß vom Balkon und schon waren die Überreste wie von einem unsichtbaren Geist weggeblasen. Ingmar begann zu hyperventilieren, er wollte losschreien! Irgendjemand musste ihm helfen! Das Schreien und Brüllen war aber in seinem Kopf gefangen, den Mund weit aufgerissen, blieb er komplett stumm. Er vernahm nur sein Hecheln, Spuckefäden zwischen Oberund Unterlippe. Im Bereich des Kinns spürte er eine unglaubliche Spannung, als hätte es ihm jemand chirurgisch gestrafft. Vorsichtig tastete er sich heran, aufs Schlimmste gefasst. Das Fleisch seiner Unterlippe war auf die unteren Schneidezähne aufgespießt. Nach wie vor keine Spur von Schmerzen, alles dumpf und taub, und dennoch fühlte er auf einer ganz anderen Ebene sehr deutlich, was da vor sich ging. Er versuchte mit aller Kraft die Unterlippe nach oben zu ziehen, um sich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Keine Chance. Da half überhaupt nichts, wie er sich nach mehreren verzweifelten Versuchen eingestehen musste.

„Ok, ganz ruhig. Das wird alles wieder. Jetzt bloß nicht den Kopf verlieren“, redete er sich gut zu. „Wo sind die anderen? Ah ja, die haben sich ja ins Schlafzimmer verkrochen …“

Trotz der Stehlampe war es merkwürdig dunkel, vorsichtig tastete er sich voran. Auf Knöchelhöhe waberte giftgrüner Nebel im Raum. Nach Ausschlussverfahren fand er die Tür, die zum Schlafzimmer führen musste. Trotz der gebotenen Eile klopfte er, wollte sie ja nicht bei sonst was vorfinden. Anstand hatte er – zumindest dachte er das von sich selbst –, und den ließ er sich auch nicht nehmen. Keiner antwortete ihm, er klopfte lauter, irgendwann hämmerte er mit beiden Fäusten gegen die Tür. Es fiel ihm unheimlich schwer, Schwung in die Bewegung zu bekommen und Kraft zu erzeugen. Als wäre er gelähmt. Nach wie vor keine Antwort von drinnen. Egal! Er riss die Tür auf, schummriges rosafarbenes Licht, links und rechts zwei große Palmengewächse, die Luft feucht und stickig. Wo war das verdammte Bett, in dem die drei sich vergnügten? Nach wenigen Metern musste er das immer dichter werdende Grün mit beiden Händen zur Seite schieben, um überhaupt voranzukommen. Die letzten, noch nicht restlos zerbröselten Zähne hatte er als Beweisstücke in die Hosentasche gestopft. Laut zu rufen, war ihm immer noch nicht möglich, aber zumindest brachte seine Kehle nun ein trockenes Krächzen zustande. Er konnte sich also bemerkbar machen. Sein direktes Umfeld vibrierte mit minimalen Schwingungen, als befände er sich inmitten eines unsichtbaren Energiefeldes. Ein riesiges Farnblatt, absolut überdimensioniert, versperrte ihm den Weg. Unter größter Anstrengung drückte er es nach unten, trat mit beiden Füßen drauf. Als er den Blick wieder hob, stand sie da direkt vor ihm: Josefine. Erhaben, hinter ihr eine undefinierbare Lichtquelle, die sie zum Strahlen brachte. Auf ihrem Kopf eine Dornenkrone, von deren Stacheln Blut tropfte. Sie war nackt, er konnte das Herz in ihrem Körper schlagen sehen, als sei ihre Haut transparent. Ihre Brüste waren wohlgeformt, aber ohne Brustwarzen. Zwischen ihren Beinen klebte ein Geldbündel, von dem alle paar Sekunden ein Schein zu Boden flatterte. Sobald die Scheine den Boden berührten, verwandelten sie sich in daumendicke Maden. Diese krochen dann an Josefines Beinen hoch, die von wilden Ranken umschlungen waren, und verschwanden hinter vielblättrigen samtroten Blüten. Einem Lebewesen gleich atmeten jene Blüten im Rhythmus von Josefines Herzschlag.

Ingmar wusste nicht, wie ihm geschah. Aber vielleicht konnte ihm dieses Wesen ja helfen? Hatte er andere Optionen? Wohl kaum. Hoffnungsvoll hielt er Josefine die Überreste seiner Zähne hin, lenkte mit nickender Kopfbewegung ihre Aufmerksamkeit auf dieses traurige Häufchen in seiner Hand. In Zeitlupe nahm sie einen der Zähne, ihre Bewegung dabei schlichtweg edel und ohne jedwede Hast. Waren ihre Fingernägel etwa aus Gold? Und wie lang waren die bitte schön? Das mussten doch mindestens 15 Zentimeter sein!

„Ingmarrrrr …“, das R rollte und rollte. „Bist du bereit?“

Wofür sollte er denn bereit sein? Er wollte fragen, konnte aber noch immer nicht sprechen. Es ratterte in seinem Kopf. Was meinte sie bloß?

„Bist du bereit?“, fragte sie ernst.

„Ja, ja, auah“, röchelte er zurück.

Es war wahrscheinlich besser, die Frage zu bejahen, auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte, was sie von ihm wollte. Sie hielt den Zahn nach oben und plötzlich schoss ein Blitz aus dem schwarzen Nichts über ihren Köpfen in eben diesen Zahn. Er fing Feuer, fluoreszierend die Flamme, die er abgab. Josefine formte mit dem brennenden Zahn unsichtbare Kreise in der Luft und sang dabei ein recht eintöniges Lied in einer Sprache, die Ingmar noch nie gehört hatte, geschweige denn verstand. Die Flamme erlosch und die Aschepartikelchen verwandelten sich in funkelnde Käferchen, die in alle Richtungen davonflogen. Zwei der Käferchen steuerten auf Ingmar zu, und bevor er sich versah, war ihm einer in den Mund gesurrt, der andere landete auf seinem Unterarm. Er flutschte wie von Zauberhand unter seine Haut und wanderte den Arm hoch, bis zur Schulter und dann rüber Richtung Herz. Herz und Käfer wurden eins, und im gleichen Augenblick verschluckte er versehentlich den anderen Käfer.

„Geh jetzt, du hast zu tun“, wies ihn Josefine deutlich an.

Wohin, dachte er – und wie er dann bemerkte, sprach er das Gedachte aus.

Er konnte wieder reden! Endlich! Als er sich bedanken wollte, hatte sich Josefine schon umgedreht und bewegte sich in die Tiefen des Urwaldes zurück. Jetzt fiel Ingmar auf, dass sie keine normalen Pobacken besaß. Links war das Gesicht von Tobi, rechts das von Claudio. Auf ihrer Stirn hatten sie Penisse! Erigierte Schwänze! Was zur Hölle! Ingmar sprach sie an, noch extremer an seinem Verstand zweifelnd, wollte wissen, was hier abging. Anstatt ihm zu antworten, öffneten sie ihre Augen. Aus den leeren Augenhöhlen ergossen sich Regenbogen, deren Strahlen über den Waldboden tanzten. Ingmar bemerkte, dass sie gar nicht hätten antworten können. Ihre Münder waren zugenäht. Mit Stacheldraht. Und dennoch sah Ingmar, wie die beiden grinsten – mit diesen durchdrahteten, entstellten Mündern. Schmerz verursachte Lust verursachte Freude verursachte Schmerz. Der stetige Kreislauf des Seins. Ingmar schrie auf, gellend und schrill. Sein bester Freund Tobi – eine Arschbacke.

Jetzt war er an dem Punkt angelangt, an dem ihm endgültig die Sicherungen durchbrannten. Eine rationale Erklärung dieses Abfucks lag ferner denn je. Noch immer zahnlos stolperte Ingmar nach hinten, die Büsche schlugen ihm unbarmherzig ins Gesicht und auf den Oberkörper. Anstatt sich umzudrehen und wegzurennen, versucht er rückwärts laufend dem albtraumhaften Szenario zu entkommen. Er wurde zu schnell zu schnell und fiel ungebremst nach hinten. Jedoch knallte er nicht mit voller Wucht auf den Untergrund, dem dieser Horrorwald entsprang. Von einem Augenblick zum anderen umgab ihn ein grelles Licht, das ihn gnadenlos blendete, und dabei fiel er immer weiter nach unten, bodenlos. Vergeblich versuchte er, etwas zu greifen, um sich festzuhalten. Aber da war nichts! Schlangengleiche Wesen glitten flink von oben auf ihn zu. Sie waren viel schneller als er und näherten sich rasant.

„Das ist alles nicht echt, das ist alles nicht echt“, keuchte er und schloss dabei fest die Augen, in der Hoffnung, dass dieser Trip vorbei wäre, sobald er sie wieder öffnete.

Keine Chance! Die gespaltenen Zungen zweier furchterregender Schlangen berührten ihn fast im Gesicht. Sie zischten und züngelten unentwegt. Nicht zu wissen, wann sie ihn attackieren würden, war das Schlimmste für Ingmar. Als er begann, genauer hinzuhören, realisierte er, dass es nicht nur animalische Laute waren. Sie redeten tatsächlich auf ihn ein! Worte, ganze Sätze – und dennoch ergab es alles keinen Sinn.

„Du hast uns vergessen! Auf dem Gewissen hast du uns! Was willst du? Lass uns in Frieden! Rette uns!“

Diese Stimmen kannte er doch! Viel zu lange hatte er sie nicht mehr vernommen, viel zu oft hatte er sie ignoriert. Zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus.

„Marion?? Kleo??“, stieß er ungläubig hervor. „Was macht … was seid ihr?“

Die Frage blieb unbeantwortet. Manisch redeten sie weiter auf ihn ein, Vorwürfe, nichts als Vorwürfe! Vielleicht aber doch berechtigte Fragen? Sich das eingestehen zu müssen, versetzte Ingmar einen Stich ins Herz. Der Schmerz breitete sich von dort im ganzen Körper aus. Noch immer fiel er, tiefer und tiefer, dabei verkrampfte sein unrhythmisch pochendes Herz noch mehr, es tat so unfassbar weh, dass er keinen Ausweg aus der misslichen Lage mehr sah. Er ergab sich seinem Schicksal und schrie und schrie, um sich irgendwie Erleichterung zu verschaffen.

Da rüttelte ihn etwas an den Schultern. Er öffnete die tränennassen Augen: Es war Tobi – wirres Haar, schelmisch der Blick.

„Ja, hey, du musst ja wild geträumt haben. Bist gerade fast von der Couch gekullert, hast so wild um dich geschlagen!“

Ingmar hatte keine Ahnung, was da gerade abging, wo er sich befand. Sein schütteres Haar klebte ihm nass auf der Stirn. Warum schüttelte ihn Tobi so heftig? Er wollte sich schon vehement über die unwirsche Behandlung beschweren, da merkte er, dass ihn Tobi keinstenfalls schüttelte. Es war er selbst, der am ganzen Leib zitterte. Bis er begriff, auf wessen Couch er gerade lag, dass er einen schrecklichen Albtraum gehabt haben musste, dauerte es seine Zeit. Tobi kniete neben der Couch und streichelte seinen Kopf. Ganz sanft. Ingmars Atem begann, sich allmählich zu beruhigen. Gleichzeitig fing sein Magen an zu rumoren, sein Gedärm krampfte. Von einem Moment zum nächsten war ihm klar: Jetzt zackig los, oder es gibt ‘ne Sauerei. Er sprang auf, wollte losrennen, torkelte aber ungebremst gegen die Wand, seine Beine wie Pudding, die Signale seines Kopfes fanden nicht den Weg bis zu seinen Füßen, sie verebbten teilnahmslos schon weit oben. Tobi schnappte sich den in seinem eigenen Körper verlorenen Ingmar und zerrte ihn, so flink es ihm möglich war, ins Bad. Wie ein Häufchen Elend hing er für eine ganze Weile über der Kloschüssel. Es ging ihm so dermaßen schlecht, dass ihm die Situation nicht mal mehr unangenehm war. Da war kein Raum für derlei Empfindungen. Einzig und allein bittere gelblichtransparente Galle. Das Würgen wollte einfach kein Ende finden und verlangte ihm alles ab. Die Hände krallten sich an die Schüssel, die Knöchel seiner Finger schon ganz weiß. Der Schweiß brannte in den Augen. Unbewusst wimmerte er vor sich hin. Er fühlte sich wie das, was da vor ihm in der Schüssel Blasen werfend schwamm: Ausgekotzt. Einmal komplett von innen nach außen gedreht. Gehäutet und dann filetiert.

„Mann, Mann, Mann … arme Socke! Mmh, ja, das Runterkommen ist manchmal nicht so geil …“, hörte er Tobi sagen, der noch immer in der Tür lehnte und ihn keine Sekunde alleine ließ.

Der doppelte Espresso mit Zitronensaft half und stabilisierte Ingmars Kreislauf. Die innere Aufgewühltheit ließ jedoch nicht nach. Der Traum ließ ihn nicht los. Im Gegensatz zu sonstigen Träumen verschwammen und verschwanden die Erinnerungen nicht innerhalb weniger Minuten. Er hatte nach wie vor alles glasklar vor Augen. Und im Ohr. Die Stimme seiner Frau. Die Stimme seiner Tochter. Seitdem er Reißaus genommen hatte, waren sie ihm kein einziges Mal in solch realer Form erschienen. Waren das einzig und allein die Drogen gewesen, die da eine Schleuse geöffnet hatten? Warum musste das bitte passieren? Er hatte es doch bislang so gut geschafft, alles, was er zurückgelassen hatte, außen vor zu halten. Nicht daran denken, nichts bedauern, nichts vermissen. Diese Formel ging jetzt nicht mehr auf.

Draußen gewitterte es heftig, der Regen peitschte mit unregelmäßigen Windböen gegen die Fensterscheiben. Josefine und Claudio lagen auf dem Boden, ihre Blicke starr an die Decke gerichtet, leiser Deep House im Hintergrund. Tobi und Ingmar auf dem Sofa. Keiner sprach ein Wort. Die einzige Interaktion: Das Rumreichen des Joints. Ingmar lehnte dankend ab. Allein die Vorstellung, Rauch in seine Lungen zu ziehen, ließ die Übelkeit im Nu wieder aufkommen. Tobis väterlicher Blick erinnerte ihn daran, mehr Wasser zu trinken. Er sei gerade eine Rosine und müsse wieder zur Traube werden, hatte Tobi gemeint. Jeder Gedanke tat weh, stechende Kopfschmerzen. Seine Birne fühlte sich komplett ausgetrocknet an. Wegen des Gewitters war es so dunkel, dass Ingmar nicht feststellen konnte, ob es mitten am Tag war oder schon wieder Nacht wurde. Nachdem sie sich mit innigen Umarmungen von Josefine und Claudio verabschiedet hatten, standen sie nach endlosem Treppenabstieg unten vor der Haustür. Mit Ziel Nirgendwo wollte Ingmar gerade ein „Danke fürs Feiern! Bis bald!“ loswerden, da kam von Tobi:

„Jetzt erholen wir uns erstmal. ‘N bisschen Kraft tanken!“

Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, ging er davon aus, dass Ingmar mit zu ihm käme. Diese Verbundenheit berührte Ingmar – was eine Breitseite an Emotionen. Gleichzeitig machte sie ihm Angst. Tobi erkannte Ingmars Unentschlossenheit:

„Jetzt kommste einfach mal mit. Musst du so oder so. Dein Backpack steht noch bei mir. Und wenn ich was nicht bin, dann ein Bahnhofsschließfach, eheheheh!“

Das Thema war damit erledigt und Ingmar hatte einen triftigen Grund mitzugehen, ohne sich noch mehr als parasitäres Anhängsel fühlen zu müssen.

Das Unwetter hatte den kleinen Vorplatz vor Tobis Wohnwagen in einen braunen See verwandelt. Schlammdurchsogen blieben die Schuhe vor der Tür. „Spread Love“ stand auf der Fußmatte.

Viren spreaden auch, dachte sich Ingmar, und was ist am Ende tödlicher, eine Krankheit oder die Liebe?

Ingmar konnte es wahrlich nicht sagen. Entkräftet lümmelte er mit Tobi in dessen Refugium rum. Die Gemüsebrühe tat gut, sein Körper gierte nach Flüssigkeit und Salz. Zum Glück blieb auch alles drinnen. Nochmal wollte er nicht vor Tobi wie der absolute Versager dastehen, der die Nachwirkungen des Feierns nicht wie ein richtiger Mann vor Souveränität strotzend dominieren konnte. Wobei das echt ein anderes Partylevel gewesen war. Das musste er zugeben.

Tobi schien mal wieder Gedanken lesen zu können:

„Das ist ganz normal, wie du dich jetzt fühlst. Leider. Gehört halt irgendwie dazu.“

Er zuckte entschuldigend mit den Schultern:

„Ich hab’s dir extra nicht vorher erzählt. Wollte, dass du unvoreingenommen und ohne Bedenken rangehst. Du musst dir vorstellen, dein Body hat gerade keine Glückshormone mehr, die Regale haben wir in den letzten Tagen restlos leergeräumt! Das braucht einfach ein bisschen, bis sich dein Endorphinhaushalt wieder erholt hat. In ein, zwei Tagen ist aber wieder alles top. Dann haste auch wieder Bock zu pimpern!“

„Haha, selbst wenn? Wer will denn mit mir in die Kiste steigen? Schau mich doch mal an!“

„Ingo, Ingo, Ingo … also, wie ich dich da im Club flirten sehen hab’, mein lieber Schieber! Da haste keine Gefangenen gemacht, absolut souverän. Waren ein paar echt hübsche Mädels mit dabei. Also, da hättest du bestimmt mehr als nur Knutschen dürfen. Aber du und die Mucke … ihr wart so dicke, da hätte nicht mal Miss Universe dich überzeugen können, die Party in ihr Schlafzimmer zu verlegen!“

Ingmar runzelte ungläubig die Stirn. Er hatte geflirtet? Erfolgreich? Geknutscht? Aaah! Dieses verdammte Stechen in seiner rechten Seite unterbrach die Versuche, sich an die Erlebnisse im Sisyphos zu erinnern. Das war alles bruchstückhaft, kurze Standbilder, durchzogen von Stroboskopblitzen. Was aber wie liebliche Phantomschmerzen immer wieder nachhallte, war diese völlig überirdische Verbundenheit, die er mit den anderen Tanzwütigen empfunden hatte. Diese unglaubliche Liebe, die von einem magischen Ort kam, den er wahrscheinlich noch nie zuvor besucht hatte. Jetzt fühlte sich das alles sehr unecht an. Alles nur geträumt und eher so, als ob ihm jemand diese stampfenden, beatgetriebenen Erinnerungen eingepflanzt hätte. Als ob er sich da niemals mitten auf dem Dancefloor im Kreis gedreht und sich mit feuchten Augen bei einem höheren Wesen für diesen Augenblick bedankt hätte. Tobi räusperte sich bedeutungsschwanger. Ingmar sah, dass er ein Buch in den Händen hielt, ein sehr dickes Buch. Und dann begann er vorzulesen. Er las Ingmar vor! Wie einem kleinen Kind. „Michael Ende – Die unendliche Geschichte“ stand da auf dem Cover geschrieben. Ingmar schloss seine Augen.

Ja, und, dachte er sich, was ist schon dabei, dann liest Tobi mir eben wie einem kleinen Kind vor!

Tobi entpuppte sich als der geborene Vorleser, wie Ingmar schnell feststellte. Seine Stimme warm und einfühlsam, genau das richtige Tempo. Pausen dort, wo Pausen die Dramaturgie stützen, die Intonation fesselnd und mitreißend. Nach wenigen Minuten befand sich Ingmar in einer ganz anderen Welt, einer fantastischen Welt, die ihn seine eigene triste Welt vergessen ließ, in der sein Körper nur noch ausgelaugt war, in der in seinem Kopf das Chaos tobte. Die Flucht auf Fuchurs Rücken – in diesem Moment das einzig Richtige. Tobi hatte keine Kinder. Einmal hätte es passieren sollen, aber dann war doch alles anders gekommen. Er hatte sich damit abgefunden und letztendlich hatte er diese negative Erfahrung sogar in etwas Positives umgewandelt. Seine Mitmenschen wurden nämlich zu seinen Kindern. Sie waren doch alle Menschenkinder, oder nicht? Und liebesbedürftige Menschenkinder gab es wie Sand am Meer, an jeder Ecke fand man sie, wenn man nur offenen Auges und offenen Herzens durchs Leben lief.

Ingmar hatte sich bereits vor geraumer Zeit von menschlicher Nähe und Liebe losgesagt. Um das zu erkennen, hatte Tobi bei ihrem ersten Aufeinandertreffen keine zwei Minuten gebraucht, Ingmar war quasi Fleisch am Knochen gewesen, kein bisschen mehr. Das Herz pumpte Blut durch die Venen, ohne die Seele mit Impulsen zu versorgen. Einsilbig hatte ihm Ingmar auf seine Fragen geantwortet. Vor allem aus altgewohnter Höflichkeit, aber auch in der Hoffnung, dass er dadurch den Small Talk zügig wieder zum Erliegen bringen könnte. Tobi hatte den längeren Atem, wie sich jetzt herausstellte. Ein langer Weg – von Königsberger Klopsen, die Tobi ihm bei der Tafel auf den Teller schöpfte, zu Vorlese-Ausnüchter-Nachmittagen im Räucherstäbchen-Eldorado aka Tobis Wohnwagen. Was sie genau verband und irgendwie zusammenschweißte, hatten sie bislang nie angesprochen, nie ausgesprochen. Dennoch wussten sie beide, dass genau das Freundschaft war. Wahrscheinlich nicht ganz ausgewogen hinsichtlich Geben und Nehmen. Aber so war es derzeit einfach. Tobi befand sich an einem guten Platz, Ingmar an einem sehr dunklen. Ingmar brauchte Hilfe, um nicht vollständig in die Bedeutungslosigkeit zu entgleiten, Tobi streckte ihm die Hand entgegen, so simpel war das. Hier wurde kein Konto mit Plus oder Minus belastet. Kein „Heute hab‘ ich dir den Arsch gerettet, also kochst du morgen für mich!“. Tobi betrachtete es als eine Art Resozialisierungsprojekt, er wollte Ingmar wieder auf Spur bringen, eine alternative, gesündere Spur im Vergleich zu dessen vorherigem Leben. Aus seiner Sicht konnte er damit eine Kettenreaktion in Gang setzen. Ein erleuchteter Ingmar, der Bock aufs Leben hätte, würde die Fackel bestimmt weitertragen, anderen verlorenen Menschenkindern aus der Scheiße helfen. Einfach einen Unterschied machen. Innehalten, wenn alle anderen weiterhetzten. Den Blick auf die am Boden Kauernden richten, ein Lächeln schenken und ein Käsebrötchen, zuhören. An solche Sachen glaubte Tobi. Ingmar gegenüber hatte er das natürlich nicht erwähnt. Warum auch? Alles, was Ingmar gerade brauchte, war ein Freund an seiner Seite. Jemand, der wieder Vertrauen in ihm aufbaute, dass es auch erneut bergauf gehen konnte und dass das Leben nicht nur aus Stunden absitzen bis zum Tod bestand.

Am nächsten Morgen war es für Ingmar an der Zeit, deutlich zu machen, dass er nach wie vor auch alleine zurechtkam. Zum Teil aus Stolz, zum Teil, um Tobi ein bisschen Freiraum zu geben. Er nahm sich vor, zum Waschsalon zu gehen und seine überschaubare Garderobe mal wieder komplett durchzuwaschen. An das letzte Mal konnte er sich schon gar nicht mehr erinnern. Er hatte ausreichend Münzen in der Hosentasche, musste also nicht erst noch Tobi anpumpen oder Fußgänger anbetteln. Ein gutes Gefühl. Außer einer Umarmung konnte er nichts anbieten, um sich für das Durchgefüttertwerden während der letzten Tage zu bedanken. Gerade wollte er zu einer kleinen Dankesrede ansetzen, die er sich seit dem Frühstück zurechtgelegt hatte, da klingelte Tobis Handy. Unterdrückte Nummer.

„Sorry, mein Lieber. Ich geh’ mal kurz ran, du musst ja nicht auf’n Zug!“

Richtig. Verpflichtungen, Termine, Pünktlichkeit, Zeitdruck. Die bestimmenden Faktoren der meisten Menschen. Für Ingmar trafen diese nicht mehr zu. Neben der daraus resultierenden Orientierungslosigkeit irgendwie aber auch befreiend. Nur eben doof, wenn man nichts mehr hatte, womit man die gewonnene Freiheit und Zeit füllen konnte.

„Ja, hallo? Tobi hier am Apparillo! Wer ist denn da?“

Es folgten unzählige Hmmm’s und Ah-Ok’s, auf Tobis Gesicht spielte sich ein wahres Mimik-Feuerwerk ab. Ingmar interpretierte es als eine Kaskade von Verwunderung, Sprachlosigkeit, Überraschung, Aufregung, Verwirrung. Ja, da war vor allem jede Menge Verwirrung am Start!

„Äh, ok, wo genau nochmal? … Hm. Alles klar! Ich mach’ mich auf den Weg. Maximal ‘ne Dreiviertelstunde. Ah, eins noch: Woran erkenn’ ich, dass Sie Sie sind?“

Was zur Hölle ging da gerade ab? Die Verwirrung übertrug sich auf Ingmar.

„Ok, hab verstanden. Dann bis gleich, sag’ ich mal. Tschö!“

Tobi war plötzlich bleicher als sonst und gleichzeitig ungemein ernst.

„Hör zu, Planänderung! Nix da mit Wäschewaschen. Du musst mitkommen, ich muss da was Dringendes erledigen. Ok?“

„Äääh, okeee …“, Ingmar zog die Worte in die Länge, um sich Zeit zum Überlegen zu kaufen. „Was genau ist denn los?“

„Kann ich dir jetzt nicht erklären, sorry. Ist zu complicated, und ehrlich gesagt, blick ich selber nicht ganz durch. Ich brauch’ dich jetzt einfach. Weiß nicht, wen ich sonst fragen kann. Und du bist gerade griffbereit, ha! Dein Pech, mein Glück!“

Da war Tobis Optimismus wieder! Damit kriegte er Ingmar rum, einzuwilligen, denn sobald Tobi Herr der Lage zu sein schien, kam Ingmars Vertrauen in die Entscheidungen seines Freundes sofort zurück. Somit hieß es: Rucksack zurück in den Wohnwagen und ab zur S-Bahn. Jetzt ein Ticket zu lösen, dafür war keine Zeit. Außerdem hatte die BVG erst kürzlich die Preise angehoben – deswegen erst recht nicht! Tobi war nämlich ein glühender Verfechter des kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs. Es waren doch vor allem diejenigen, die eh nicht viel hatten, die die Öffis nutzten. Wann hatten die oberen Zehntausend zum letzten Mal eine U-Bahn von innen gesehen? Beim sonntäglichen Tatort-Schauen vielleicht. Sonst cruisten die doch nur mit ihren Sprit schluckenden SUVs von Termin zu Termin. Aber da kam eben das weithin etablierte Grundprinzip des Kapitalismus wieder zur Geltung: Man zog es denen aus den Taschen, die jeden Euro umdrehen und sich dreimal überlegen mussten, ob mal wieder ein Sommerurlaub drin wäre. Da gab es nun mal die Sorte Kinder, die in ihrem Leben noch nicht mal in der Ostsee gebadet hatten, obwohl sie in Berlin lebten. Und dann gab es da noch jene Kinder, deren Reisepass vor Erreichen der Pubertät schon keinen Platz mehr für weitere Stempel hatte. Nix da mit Yin und Yang und dem ausgewogenen Gleichgewicht des Lebens. Geld ging zu Geld und ohne Geld sah man nichts von der Welt. Geradezu pamphletisch konnte sich Tobi in diese Gedanken reinstürzen. Immer und immer wieder. Deswegen war eine Runde Schwarzfahren für ihn auch nicht mehr und nicht weniger als ein politisches Statement.

Am Alexanderplatz mussten sie in die U8 umsteigen, diese berühmt-berüchtigte U8, die sie vom Alex quer durch Kreuzberg bis ins Herz Neuköllns führte. Das Abteil war gerammelt voll. Neben Sitzplätzen war auch Sauerstoff absolute Mangelware, Klimaanlage gab es nicht, im Sommer wurde die U-Bahn zur Sauna des kleinen Mannes. Manchmal sprang in dieser Linie auch ein halbnackter, wild vor sich hinbrabbelnder Obdachloser durch den Wagon. In der U8 konnte man Zeuge sämtlicher menschlicher Abgründe werden. Es gab nichts, was es nicht gab. Ein Straßenmusiker fiedelte auf seiner Geige irgendeinen dieser Ed-Sheeran-Chart-Hits, die sich eh alle gleich anhörten, aus der Laut-sprecherbox in seinem Rucksack wummerte der begleitende Beat. Nicht nur aufgrund der Lautstärke war es schwierig eine Unterhaltung zu führen: Tobi starrte abwesend zum Fenster raus und machte keinen Mucks. Zu sehen gab es da nix, da sie sich auf einem unterirdischen Teilstück der Strecke befanden, aber Ingmar hatte den Eindruck, dass sich ein ganz anderer Film vor Tobis Augen abspielte. Ingmar platzte vor Neugier, traute sich jedoch nicht, seinen Freund zu löchern. Um sich zu beschäftigen, ließ er seinen Blick durchs Abteil wandern. So gut wie alle starrten auf ihr Handy, schienen regelrecht hypnotisiert zu sein. Als ob sie Angst hätten, ihrem Gegenüber in die Augen zu schauen, als könnten sie dann zur Salzsäule erstarren oder schlagartig zu Staub zerfallen. Von einem Lächeln mal ganz abgesehen. Nach guten 15 Minuten war es geschafft, sie hatten den Hermannplatz erreicht. Ein Ort, den so mancher in Berlin Lebende mied, weil sie ja da schon so Geschichten gehört hatten und die Boulevardpresse ihr Übriges dazu beitrug, sogenannte Kriminalitäts-Hotspots erst zu solchen zu machen. Eigentlich hätten sie die Sonnenallee runter noch den Bus nehmen können, aber zum einen hatten sie ja kein Ticket, und zum anderen war die Buslinie M29 hinlänglich dafür bekannt, einen Fick auf den Fahrplan zu geben und nach dem Zufallsprinzip zu fahren. Von der durch die BVG stolz angekündigten erhöhten Taktung war nichts zu spüren. Manchmal kam für 20 Minuten kein einziger Bus und dann drängten sich plötzlich drei Exemplare in die Haltestelle. So stiefelten sie also los, Tobi nach wie vor sichtlich angespannt, Ingmar, der kämpfen musste, nicht den Anschluss zu verlieren. Aus seiner Sicht glich das, was Tobi an den Tag legte, mehr einem Rennen als einem Gehen. Zudem reges Treiben auf dem Gehweg, die Leute hielten sich bei der Hitze draußen auf, Ladenbesitzer saßen auf Plastikstühlen vor ihren Eingangstüren und rauchten Kette. Den beiden schlug ein Sammelsurium der unterschiedlichsten Gerüche entgegen: Shishatabak Sorte Apfel, frisch aus dem Ofen geholtes Baklava, Hundekacke, Thaicurry und Shawarma. Hipster-Touris fotografierten sich mit gezwungen ernster Miene vor der Leuchtreklame und den vollgetaggten Wänden der Spätis. Für diese war es großstädtische Exotik, für die hier Lebenden einfach nur Alltag. Völlig unvermittelt stoppte Tobi ab, Ingmar stolperte ihm volle Möhre in die Hacken. Das Tempo seines hastenden Getippels war einfach zu hoch gewesen, als dass er rechtzeitig hätte reagieren können. Zudem haftete sein Blick am Hintern einer hochhackigen Blondine – mit irgendetwas musste er sich diesen Gewaltmarsch ja versüßen. Da war Tobi also selbst schuld! Und was gab es, bitteschön, an dieser Stelle, was nicht schon vorher auf den gefühlten fünf Kilometern entlang der Sonnenallee zu finden war? Ingmar drehte sich zur Häuserfront: „Stadionfieber Sportwetten“ stand da in großen grünen Lettern. Überdimensionierte Hände mit dem Daumen hoch am milchverglasten Schaufenster, dazu Fußbälle, Tennisbälle, Basketbälle.

„Das muss es wohl sein!“, gab Tobi von sich. „Na denn! Wollen wir mal.“

Kapitel 4

Tobi ging voran, drückte die Tür auf. Drinnen war es eisig kalt, die Klimaanlage lief auf Hochtouren. Dennoch war die Luft zum Schneiden, der Zigarettenqualm stand im Raum und schien sich pudelwohl zu fühlen. Die Hälfte der rund dutzend Tische war belegt, ausschließlich Männer saßen hier rum, unterhalten wurde sich so gut wie nicht. Sie starrten allesamt auf die Flatscreens, die nebeneinander reihum an den Wänden hingen. Nachdem Tobi die Tür geöffnet hatte und die beiden verloren in selbiger standen, zogen sie für einen kurzen Augenblick die Aufmerksamkeit auf sich. Man musterte sie beiläufig von oben bis unten, darüber hinaus erregten sie kein weiteres Aufsehen. Freaks aller Art waren an der Tagesordnung in diesem Kiez, da zählten Tobi und Ingmar rein äußerlich zur langweiligen Sorte. Der sonst vor Gelassenheit strotzende Tobi sah sich verunsichert um, als ob er nach etwas Bestimmtem Ausschau hielte. Dann steuerte er plötzlich einen Tisch in der hinteren linken Ecke an und zog dabei Ingmar am T-Shirt-Zipfel hinter sich her. Die Bar befand sich auf der anderen Seite des Etablissements, die junge Frau dahinter hatte sie nicht mal bemerkt. Ingmar war beeindruckt von ihren riesigen Kaugummiblasen und dem aufdringlichen Solarium-Teint.

Nach wenigen Schritten standen sie vor dem von Tobi angepeilten Tisch – wie zwei pubertierende Schuljungen im Rektorenbüro. Was da vor ihnen saß und zu ihnen hochblickte, verwirrte Ingmar nur noch mehr. Ein hagerer, aber sehr großer Mann, aschblondes Haar, akkurater Seitenscheitel, grauer Leinenanzug mit altmodischem Schnitt. Er hatte eines dieser Gesichter, die keine Rückschlüsse aufs Alter zuließen. Zwischen Mitte 30 und Ende 40 war alles möglich. Neben seinem Stuhl ein Aktenkoffer aus dunkelgrünem Krokoleder-Imitat. Seine Arme waren so lang, dass er problemlos sekündlich mit dem rechten Zeigefinger auf dieses ästhetisch fragwürdige Köfferchen tapsen konnte, ohne sich sonst weiter bewegen zu müssen. Die Miene war eingefroren und auch regelmäßiges Blinzeln zählte offenbar nicht zu seinen Stärken.

„Hi … also, ich bin Tobi, äh, Tobias Schwendi- …“

„Ich weiß, wer Sie sind“, unterbrach ihn der mysteriöse Unbekannte mit fistelnder und kraftloser Stimme, die dennoch Autorität vermittelte.

„Der da …“, er schwenkte den Kopf in Richtung Ingmar, „… kann nicht mit dabei sein. Tut mir leid.“

Ein erzwungenes Lächeln sollte die harsche Ansage abmildern. Ingmar schaute ratlos zu Tobi, der nach kurzem Zögern deeskalierend meinte:

„Ist schon ok, mach dir keinen Kopf. Hol dir nebenan ‘nen Kaffee und warte am besten draußen auf mich. Wird nicht lange dauern, ich beeil’ mich.“

Als Ingmar schon kehrtgemacht hatte – Warum um alles in der Welt bin ich dann überhaupt mitgekommen?! –, schob Tobi ein „Sorry, Dude!“ hinterher. Das schlechte Gewissen musste raus. Weitaus mehr enttäuscht, als er zuzugeben gewillt war, trottete Ingmar gen Ausgang, dabei noch lasch mit einer Hand abwinkend. Jetzt, wo es spannend wurde. Und dafür waren Freunde doch vor allem da! In jenen Lebenssituationen, in denen sich Absurdität und Unwissen die Hand schüttelten, dem anderen zur Seite stehen. Aus den richtigen Motiven und tatsächlicher Zuneigung und Verbundenheit. So allzeit berechnend wie Ingmar sonst seit gefühlt immer gewesen war, kam Tobi als einziger Person neben seiner Tochter Kleo diese Ehre zu. Am Ende doch nur auf den eigenen Vorteil bedacht, hätte er nicht mal seiner Frau aus der Patsche geholfen, wenn es hart auf hart gekommen wäre. Die Menschen in seinem direkten sozialen Umfeld hatte er stets als Puzzleteilchen betrachtet, die es nur korrekt zusammenzusetzen galt, um selbst den Hauptpreis abzusahnen. Immer strategisch, ohne Rücksicht auf Verluste. Tatsächliche, durch sein Handeln beeinträchtigte Schicksale – nichts anderes als mit einberechnete Kollateralschäden. Als ob zum Beispiel die USA heutzutage ganz oben auf dem Treppchen als unangefochtene Militär- und Wirtschaftsmacht Nummer eins weltweit stünden, wenn sie wegen jedem fitzeligen Militärputsch in Mittelamerika oder dem einen oder anderen Zivilopfer diverser Geheimoperationen gleich den ganzen Masterplan umgeschmissen hätten?! Eben. Mitnichten. Ingmar hatte über Jahrzehnte ein beeindruckendes Talent dafür entwickelt, seine widerlichen Handlungen zu rechtfertigen. Den krönenden Abschluss bildete immer der Freifahrtschein für alles: „Wenn ich’s nicht mach’, dann macht’s jemand anderes.“ Sich selbst der Nächste sein – diesen Leitspruch hatte er sich irgendwann auf die Seele tätowiert. Bloß nicht zu kurz kommen. Auch wenn es nicht zu schaffen war, aber am Büffet lieber gleich mal drei Schnitzel auf den Teller geladen. Nach mir die Sintflut. Jeder ist seines Glückes Schmied. Survival of the fittest.

Ingmar hatte die Prinzipien des Kapitalismus verstanden und verinnerlicht. Jede zwischenmenschliche Beziehung, die er einging, beruhte auf Nehmen und noch mehr Nehmen. Er war natürlich nicht so geboren worden. Es war ein schleichender, dennoch absehbarer Prozess. Der am brutalsten treibende Katalysator dabei: sein Vater. Ingmar spürte noch heute die Blicke seiner eisigen blaugrauen Augen, die nichts als Verachtung für den pickeligen Jungen übrighatten, der unter zu hohem Stress zu stottern begann. Er spürte noch immer jeden einzelnen der peitschenden Gürtelhiebe, hörte die tiefe Stimme, die umso ruhiger wurde, je enttäuschter sein Vater war. Die Worte, die viel länger als die Schläge schmerzten. Beweisen wollte Ingmar es ihm. Dass auch er es zu etwas bringen konnte. Dass er den Namen der Familie zu weiterem Ruhm führen konnte. Dass sein Vater einfach stolz auf seinen eigenen Sohn sein konnte. Die harte Schule seines Vaters hatte ihm über die Jahre die Flausen ausgetrieben und erfolgreich den Grundstein dafür gelegt, dass Ingmar zum Arschloch wurde.

Er fand einen zerknitterten Fünf-Euro-Schein in seiner Hosentasche. Das bedeutete: Er konnte sich tatsächlich, wie von Tobi vorgeschlagen, einen Kaffee besorgen. Ausnahmsweise nicht nur einen wässrigen Filterkaffee, sondern einen Latte Macchiato aus dem Vollautomaten. Dazu noch eine Apfeltasche. Herrlich, wie Koffein und Zucker in Sekundenschnelle für bessere Laune sorgten. Alles halb so wild.

Soll Tobi da doch seine Spielchen spielen. Mir egal. Je weniger ich weiß, desto besser, dachte er so für sich, den Milchschaum von der Oberlippe leckend.

Von seinem Platz am Stromkasten, an dem er lehnte, konnte er durch die Glastür in das Wettbüro lugen. Neugierig war er nach wie vor. Er sah, wie Tobi sehr viel nickte und dieser gelackte Vertreter-Prototyp sehr viel redete und dabei die roboterhafte Körperhaltung auf beeindruckende Art und Weise beibehielt. Ingmar fragte einen Passanten nach der Uhrzeit. Brachte ihm nur nicht viel, wie er schnell bemerkte, denn er wusste ja nicht, wann dieses skurrile Treffen begonnen hatte. Die Minuten zogen sich dahin wie der Kaugummi, in den er auf dem Weg zurück vom Café getreten war. Es war heute glücklicherweise nicht ganz so heiß und stickig wie die vorangegangenen Tage, und trotzdem bildeten sich Schweißflecken unter Ingmars Achseln, am Rücken und auf der Brust. Die Hauswand strahlte eine unglaubliche Wärme ab.

Endlich tat sich etwas, es kam Bewegung ins Spiel. Der Unbekannte nahm den Aktenkoffer, öffnete ihn so, dass weder Tobi noch Ingmar von draußen reinschauen konnten. Ein prall gefüllter Umschlag wechselte den Besitzer. Dann ging es ganz schnell: Tobi stand auf, die beiden gaben sich die Hand, Tobi machte sich auf in Richtung Ausgangstür, der Mann verschwand im Gang, der zu den Toiletten führte – mit dem Aktenkoffer in der Hand.

„Was war das denn?“, raunte Ingmar mit weit aufgerissenen Augen Tobi zu, als der zu ihm auf den Gehweg trat.

Tobi schüttelte ungläubig den Kopf, räusperte sich mehrfach, kicherte verunsichert vor sich hin. Da schien einer nicht in der Lage zu sein, das eben Erlebte in Worte zu fassen. Sogar für den bunten Papagei und anarchischen Lebemann Tobi hinterließ dieses Treffen vor allem ein überdimensionales Fragezeichen. So etwas kannte er bislang nur aus Spielfilmen, die mit der Realität nicht sonderlich viel am Hut hatten. Er drückte Ingmar in eine Hofeinfahrt, zog ihn um die Ecke und checkte mit flinkem Blick den Hof. Als er sich sicher war, dass sie unbeobachtet waren, öffnete er wortlos den Umschlag und streckte ihn Ingmar hin. Ingmar konnte nicht fassen, was er da zu sehen bekam: Mehrere dicke Bündel an 100-Euro-Scheinen, einen Batzen sogar mit 200-Euro-Scheinen, dazwischen baumelte ein Autoschlüssel. Wo war er hier hineingeraten? In welche kriminellen Machenschaften war der ach so friedliche Tobi verwickelt? Drogen? Menschenhandel? War er vielleicht ein Auftragskiller und musste ihn jetzt erledigen, da er zu viel wusste? Wieso zog er Ingmar da überhaupt mit rein? Er war doch schon komplett am Arsch! Wieso hatte ihm das Schicksal die letzten Tage wieder so etwas wie Hoffnung gemacht, um ihn dann jetzt umso sadistischer erneut in den Dreck zu treten?

Vor lauter Enttäuschung schossen ihm die Tränen in die Augen, ihm wurde schwindelig und er musste sich an die Wand hinter sich lehnen. Tobi hob beschwichtigend die Hand, steckte den Umschlag in seine Jutetasche:

„Hör zu, Ingo. Ich weiß, das sieht alles mega crazy aus, und ich bin selbst noch komplett neben der Spur. Ich mein’ … dieser komische Vogel, der keine Miene verzieht. Was der gelabert hat, das hätteste hören müssen! Das hat alles keinen Sinn gemacht, ich blick’ da …“

Details

Seiten
404
Jahr
2023
ISBN (eBook)
9783958942455
ISBN (Buch)
9783958942448
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (März)
Schlagworte
Popliteratur Vater-Sohn Roadtrip Familie MDMA Männlichkeit Rassismus Freundschaft Berlin Turbokapitalismus

Autor

Fabian Giese, 1983 im Süden der Republik geboren, Wahl-Berliner. In seiner literarischen Arbeit befasst er sich mit essentiellen Fragen des Lebens, an denen er sich nicht philosophisch, sondern mithilfe greifbarer alltäglicher, subjektiver Schicksale abarbeitet.
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Titel: Dropout