Zusammenfassung
Seit zwölf Jahren ist sie beim Steininger Tageblatt, dem Zentralorgan der Altmark, die in ganz Deutschland kein Mensch kennt. Bisher hat die Arbeit sie immer ausgefüllt. Aber der neue Chef und die Primel zum Frauentag machen ihr klar: So kann es nicht weitergehen! Wenn da nicht das urig-skurrile Panoptikum der Kleinstadt-Bewohner wäre: der kauzige Nörgel-Nolte, die traumdeutende Redaktionsassistentin, die allwissende Stadtarchiv-Leiterin und der dichtende Designer. Außerdem muss sie sich noch um Bank-Skandal, Ausgrabungen und Rosenvandalismus kümmern. Doch in ihr drinnen braut sich längst was zusammen …
Mit pointiertem Zynismus, gewitzten Dialogen und hier und da aufflackernden magischen Momenten schickt die Autorin ihre Protagonistin auf eine herausfordernde Gratwanderung zwischen Resignation und Rebellion. Nora Knappe schafft ihr eigenes Genre des „Befremdeten Realismus“.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Ein grauer Januartag
Auf der Museumsbaustelle
Bei Gelegenheiten wie diesen war Ina Boerns geneigt, ihren Beruf zu verfluchen. Wie konnte man denn mitten im hässlichsten, trübsten Winter einen Draußentermin mit allem offiziellen Brimborium ansetzen? Das hätte man mit ein bisschen Bautrödelei doch gut ins Frühjahr geschoben bekommen. Und jetzt: Alle fröstelten, allen war klamm, alle wollten möglichst schnell wieder nach drinnen. Aber nun standen sie hier wie eine handlungsunfähige Herde Schafe, die man nicht in den warmen, behaglichen Stall ließ. Und glotzten alle in dieselbe Richtung, als ob da gleich ein Weltwunder geschehen würde. Ina verkroch sich, so gut es ging, in sich selbst, wovon ihr allerdings auch nicht wärmer wurde. An den Füßen fing es immer an. Gegen kalte Füße war man machtlos, da half die beste Wandersocke nicht. Aber wer wollte es der Socke auch verübeln, es war ja eine Wandersocke und keine Draußenrumstehsocke.
Endlich begann die Zeremonie, wegen der sie alle hier waren. Interessant war das nicht, aber ja, die Chronistenpflicht … wie dieses Wort schon klang: so müde und willenlos. Und irgendwie alt. Wie ging dieser Spruch noch mal? Nichts ist so alt wie die Zeitung von morgen … Oder nee, so alt wie die Zeitung von gestern? Ina kam nicht drauf. Sah aber aufmerksam-gelangweilt zu, wie jetzt die Zeitung von heute, das Steininger Tageblatt, in eine kupferglänzende Metallröhre gesteckt wurde. Der Typ von der anderen Zeitung sprang schon aufgeregt drum herum, links, rechts, vorn schräg unten, und machte Bilder. Ina nicht. Ein Foto davon brauchte sie nicht. Sollte sie nicht. So was ging jetzt nicht mehr. Der Chef wollte es gern dynamisch, originell. Grundsteinlegung dynamisch, Ina hatte verächtlich geschnaubt und in sich hineingegrummelt. Wieder so eine neue Linie, mal sehen, wie lange das durchgezogen wurde. Mit den Spendenübergaben hatte es angefangen. Machen wir nicht mehr, hatte es geheißen. Das Resultat war: Das Tageblatt ging nicht mehr hin, also schickten die Leute selber ein Foto, von – der Spendenübergabe. Das wurde dann unter der Rubrik „Leserpost“ versteckt.
„… freuen wir uns umso mehr, nach langen, aber fruchtbaren Diskussionen …“ Die vernuschelte Rede des Stadtbauleiters war immer noch nicht zu Ende, es begann zu nieseln. Das kleinkarierte Papier in Inas Notizbuch fing einige der Tropfen auf, an den Aufprallstellen begann es sich zu wellen. Sie klappte das Büchlein zu, es gab noch nichts mitzuschreiben … Die Hülse lag jetzt im offenen Grundsteingeviert und wurde nass. Wie oft war die Zeitung auf diese Weise schon beerdigt worden, dachte Ina, totgesagt wurde sie ja ohnehin längst, aber immer wieder diese offiziellen Beerdigungszeremonien, das war schon makaber. Heute durfte sie also Augenzeugin sein, wie die Zeitung bestattet wurde. Wie würde man das eigentlich künftig machen, mit diesen Grundsteinhülsen, ein E-Paper reinlegen ging schlecht. Ein Tablet einmauern? Irgendwann würde es vermutlich einfach keine Grundsteinhülsen mehr geben, Rituale einer alten Zeit.
„… sind wir auch zutiefst überzeugt von dem visionären Entwurf des Architekturbüros Brinkhoff & Clausen, der uns die künftige Gestalt dieses für Steiningen einmaligen, und ich möchte sagen: zeitgenössisch avantgardistischen Anbaus schon heute vor Augen stehen lässt …“ Ina merkte auf, das hat der doch nicht selber geschrieben … Wie viele Pressetermine es für den Museumsanbau wohl noch geben würde, wäre sie dann noch hier? Als Nächstes wären Richtfest und Baustellenrundgang dran, dann Erklärungen zu Bauverzögerung und Kostensteigerung, danach Fertigstellung und Einweihung mit Rede, Trara und Häppchen, bald die erste große Ausstellung mit Besuchern, dann im Jahresturnus dies und das und später käme noch die Widmung als besondere Traustätte. Und wenn einer vom Steininger Tageblatt es draufhätte, würden sie zwischendurch noch Finanzschummelei und Auftragsgemauschel aufdecken, bevor die ersten eklatanten Baumängel ans Licht kamen.
„… übergebe ich nun das Wort an unsere Vize-Oberbürgermeisterin, Frau Blumwies, bitte schön.“ Verhaltener Applaus, einige der Anwesenden waren damit beschäftigt, erst mal ihre Schirme aufzuspannen. Ina auch. Das war jetzt echt blöd, Schirm halten, mitschreiben, und dann noch fotografieren. Früher gab es ja eigene Fotografen in den Lokalredaktionen. Dieses Früher kannte Ina noch. Da konnte man sich aufs Zuhören und Mitschreiben konzentrieren. Also ihre eigentliche Arbeit. Seit Jahren schon mussten sie nun selbst fotografieren. Bald würden sie auch Videos drehen sollen. Und demnächst während des stattfindenden Termins schon mal was posten, einen Onliner fertig machen, das Wichtigste einfach schon mal raushauen, damit wir das als Erste haben. Zum Glück hatte Ina kein Smartphone, da ging das schon mal nicht. Und Diensttelefone gab es nicht. Eine Weile würde sie hoffentlich noch drum herumkommen. Falls das noch nötig war, denn wahrscheinlich würde sie selbst in absehbarer Zeit überflüssig sein. Kulturthemen waren nicht mehr gefragt, das hatten sie ihnen schon angedeutet, interessiert keinen, hatten sie gesagt.
„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Kulturinteressierte und geschätzte Bauverantwortliche …“ Oh, die Vize fing an, Ina hielt den Stift in Schreibbereitschaft, den Schirm hatte sie sich wie einen Telefonhörer links zwischen Schulter und Kinn geklemmt und stand nun etwas verbogen. Die Kamera hatte sie unter ihren Mantel geschoben, damit sie nicht nass wurde.
„… der Kultur Raum geben, Raum zur Entfaltung, Raum in der Stadt und in der öffentlichen Wahrnehmung …“ Die Stellvertreterin des Oberbürgermeisters formulierte ihre Reden immer frei, spontan, aber mit Tiefgang und ohne ein einziges Äh. Alexa Blumwies – schöner Name, fand Ina, nur in der heutigen Zeit schon auch kurios. Machten sie im Rathaus damit Witze? „Alexa, übernimm meinen Termin!“ Oder: „Alexa, wie geht die Wahl aus?“ Und heute dann: „Alexa, leg den Grundstein!“ Das erheiterte Ina. Sie hatte nichts gegen Frau Blumwies, im Gegenteil, endlich mal eine Frau mit an der Spitze. Mit ökologischem Bewusstsein, modernem Denken und Veränderungswillen. Noch war sie nur Vize, aber wer weiß. Kulturaffin war die Blumwies auch und tat nicht nur so. Alle dachten, sie hätte was mit Herrn Friedländer von der Kulturstiftung. Das erheiterte Ina noch mehr. Der war Junggeselle aus Überzeugung, und die Blumwies, na … Ina war sich eigentlich sicher, sie hatte da ein Gespür für und dachte, das sieht man doch, ihre ganze Art, der Habitus, die war doch garantiert … War ja auch egal, aber wenn das erst mal die Runde machte, na, das gäbe ein Getratsche und Getuschel. Oder auch nicht. Bei den Steiningern konnte man nie wissen. Ina hatte die Menschen hier immer noch nicht ganz verstanden, das Etikett weltoffen klebte man sich gern mal an, aber wehe, die Welt kam dann wirklich.
Wobei sie sich manchmal fragte, ob die Welt überhaupt von Steiningen wusste, von der Altmark allgemein. Für sie selbst war beides ja auch nicht-existent gewesen, bevor sie die Stelle hier bekommen hatte und nach ihrer Großstadt-Rastlosphase hergezogen war. Die Altmark: so ein unscheinbarer Landstrich, nein, mehr so ein Landfleck, ausgeblichen und ausgefranst, ein Fleck, an dem man zu doll herumgerubbelt hatte. Und nun fiel er umso mehr auf, jedenfalls bei Google Earth View. Und das war doch schon mal was. Den Tourismus-Leuten schien das zu genügen. Sie nannten es den „Charme unberührter Natur“. Na, wenn man ausgedörrtes plattes Land, in dem der Algenbewuchs auf den Entwässerungsgräben manchmal das einzige Grün weit und breit war, als Natur bezeichnen wollte.
Und Steiningen? War ganz in Ordnung, Ina hatte es liebgewonnen. Eine von diesen Eigentlich-Städten. Eigentlich lebt es sich doch ganz gut hier. Eigentlich hat Steiningen doch alles, was man braucht. Eigentlich ist es doch ganz schön hier. Als ob man sich dafür schämen und rechtfertigen müsste, dass man in einer Kleinstadt lebte. Aber so hörte Ina die Leute immer mal schüchtern aufbegehren, wenn irgendwer sich wieder darüber beklagte, dass hier nichts los wäre. Manchmal hörte sie sich schon selber so reden: Eigentlich mag ich es hier.
„… freue ich mich ganz persönlich schon sehr auf die Eröffnung der ersten Ausstellung in diesem faszinierenden und für unsere Stadt wohl wegweisend-markanten neuen Museum und hoffe sehr, dann auch unsere lokale Presse wieder hier begrüßen zu können.“ Ina fühlte sich angeguckt und lächelte höflich. Ihr Bauch gluckerte und ihr war ein wenig flau, zum Glück war bald Mittag. Da setzte das 12-Uhr-Geläut der Hedwigskirche ein. Und am Haus gegenüber, bemerkte Ina, öffnete sich im dritten Stock ein Fenster, eine Frau mit Brille war zu sehen, sie lehnte sich ein wenig heraus, stützte sich mit den Händen draußen auf den Sims und schaute herüber, wirkte sinnierend, gedankenverloren … abwesend oder ganz bei sich? Auf die Entfernung schwer zu sagen. Aber ein schönes Fotomotiv, dachte Ina und erschrak: Mist, ich brauche doch noch ein Foto von diesem Grundsteingedöns!
Einige Tageblatt-Ausgaben später: Dienstag
Bei Ina Boerns zu Hause
Sie saß auf der Bettkante und schnaufte wie ein Igel auf nächtlichem Streifzug. Mit klebrig-müden Lidern erblinzelte Ina sich den Morgen. Ihr Wecker hatte sie aus tiefem Schlaf gerissen. Und es ging ihr jetzt so, wie wenn sie aus einem unerwartet intensiven Nachmittagsschlaf aufwachte: Dann war Ina jedes Mal so orientierungslos, als ob sie zum ersten Mal in dieser Welt erwachte. Das seltsam animalische Schnaufen war eine Begleiterscheinung, die merkwürdigerweise dabei half, sich wieder zurechtzufinden. Und während sie da so saß und allmählich wieder in ein Atmen verfiel, das keiner größeren Anstrengung bedurfte, wunderte sie einem Traum hinterher. Der war brauchbar gewesen. Eine Idee für ihre berufliche Zukunft. Vielleicht. Warum war da noch keiner drauf gekommen? Sie ja auch nicht. Das müsste sie nachher mal Heike erzählen. Für Träume war die immer zu haben, hatte stets eine schlüssige Erklärung parat. Seit sie mal diesen Volkshochschulkurs mitgemacht hatte, „Traumdeutung – mit Freud(e) ins Unbewusste“. Seither hoffte Ina immer, möglichst interessant und verworren zu träumen. Alles erzählte sie Heike dann aber auch nicht.
Als sie das Fenster zum Lüften aufmachte, sah sie gegenüber den alten Mann auf dem Balkon. Es gab ihn also noch. Bis vor Kurzem, wie lange war das jetzt her?, hatte sie ihn oft im Innenhof getroffen, er war immer mit dem Fahrrad unterwegs, Taschen am Lenker, Taschen am Gepäckträger, wirkte sehr geschäftig. Ob er Arbeit simulierte? Manche Rentner oder plötzlich arbeitslos Gewordene machten so was ja. Einmal hatte Ina sich Sorgen gemacht, da war das Badfenster gegenüber auf gewesen, es schwankte vom Wind bewegt leicht hin und her, die Gardine hing auf halb acht … immer wieder hatte sie rübergeguckt, keiner hängte die Gardine wieder gerade … ob da alles in Ordnung war, vielleicht hatte er einen Schlaganfall gehabt, Herzinfarkt, hatte sich beim Stürzen an der Gardine festhalten wollen, keiner merkte es, ob sie mal die 112 anrufen sollte … Irgendwann war das Fenster wieder zu und die Gardine wieder ordentlich. Hatte sie zu lange überlegt? Jetzt war sie beruhigt, dass der alte Mann noch lebte. Wenn auch offenbar etwas beschwerlicher. Er füllte das Vogelhäuschen nach, goss bedächtig die Blumenkästen, über die Brüstung lugte der Wäscheständer. Der Mann verschwand wieder in seiner Wohnung, in seinem für Ina unsichtbaren Tag. Bis morgen, dachte sie, drehte sich um und ging in ihren Tag.
Der Abwaschberg vom Wochenende war immer noch da. Wie gestern auch schon. Sie ignorierte ihn. Müsste sie diese Woche mal erledigen. Jetzt nicht, jetzt erst mal Frühstück. Im Radio war mal wieder Krise, die sich abzeichnende Dürre, ein neuer Krieg, ganz nah sogar, Atomkraft ja-nein-vielleicht, und dann erzählten sie noch was von Allzeithoch bei den Spritpreisen … Spekulationen, wie weit das noch gehen würde, was kommt auf die Verbraucher zu … Ina drehte den Knopf zum Kultursender. Musik. Einfach nur Musik, das war besser geeignet, um den Tag und die mit ihm verbundene Welt wohlwollend zu betrachten. Twist in my sobriety, wie lange hatte sie das nicht gehört. Und seit Jahren immer noch nicht nachgelesen, was das eigentlich heißen sollte. Sober, nüchtern, oder hieß das noch was anderes? Drehung in meiner Nüchternheit? Während sie sinnierend dem Lied lauschte, drehte Ina an der Kurbel ihrer Handkaffeemühle. Die besaß sie, seit sie mal eine Packung Kaffee geschenkt bekommen hatte, ganze Bohnen. Sie kaufte sonst nur gemahlenen. Es war eine schöne Mühle, Holz und Gusseisen. Den Zylinder zwischen die Knie geklemmt, kurbelte sie jetzt jeden Morgen für ihre Frühstücksration Kaffee. Es dauerte ungefähr 74 Sekunden, bis alles durchgekruschelt war, manchmal nur 70. Entweder hatte sie dann schneller gedreht oder eine Bohne weniger eingefüllt. Domkaffee. Guter Kaffee, Fairtrade. Geschenk einer Leserin. So was durfte sie annehmen, das ging. Bei zwei Packungen müsste sie wahrscheinlich erst nach dem Gesamtpreis fragen.
Wie sie da so vor sich hin kurbelte, dachte sie, wie schön es wäre, heute nicht los zu müssen. Einfach noch frei haben. Und dann: In den blauen Tag hinein leben. Wie das wohl wäre? Es hatte ja nie sein sollen, nicht sein dürfen. Und durfte noch immer nicht sein. Dabei müsste sie es sich nur selbst erlauben, da war doch längst niemand mehr, der ihr einen Vorwurf daraus machen könnte. Was da nicht alles mitschwang, in diesem Du lebst ja in den blauen Tag hinein! Faulheit, Unnützsein, auf anderer Leute Kosten leben. Wieso eigentlich Kosten? Was kostete es irgendwen denn, wenn man mal einen Tag nichts tat, außer den eigenen Impulsen zu folgen, oder eben den nicht vorhandenen Impulsen. Was dann darin mündete, dass man durch den Tag eierte. Von Belanglosigkeit zu Belanglosigkeit. Die in ihrer ganzen Banalität und Unnützheit dann auf einmal doch Bedeutung bekamen. Weil sie eben den eigenen Tag füllten. Ob es ein erfüllter Tag gewesen sein würde, das konnte man noch nicht wissen. Man lebte ja in ihn hinein. Das war doch eigentlich sogar ganz gut: in den Tag eintauchen, sich hineinbegeben, ihn auf sich zukommen lassen, oder nein: sich auf ihn zukommen lassen. Das war ja sogar mutig, weil man gar nicht wusste, was einen erwartete in diesem Tag.
Und was wäre denn das bessere Gegenteil vom In-den-Tag-Hineinleben? Etwa aus dem Tag herausleben? Wäre das nicht viel schlimmer: diesen Tag zu verlassen, ihn sich selbst zu überlassen – und was dann? Wo wäre man dann selbst?
Eine Weltflucht gab es, negativ konnotiert, natürlich. Aber eine Tagflucht? Wäre die denn akzeptabel, erwünscht gar? Weil sie ja nur für einen überschaubaren Zeitraum stattfände. Andererseits: Wäre es nicht manchmal recht gesund, aus dem Tag herauszuleben? Einfach, weil es ein außerordentlich grauer, wenn nicht gar beschissener Tag war?
Die Bohnen waren längst fertig gemahlen, Ina hielt sich trotzdem noch an der Kurbel der Kaffeemühle fest, als sie aus ihren Gedanken wieder auftauchte. Sie schaute aus dem Fenster: Ja, es war ein blauer Tag. Und nun würde sie mal in ihn hineinleben. Nur eben anders. Geschäftig, beschäftigt, tätig. Nützlich. Wie sich das gehört. Aber erst mal in Ruhe frühstücken.
Bevor sie los musste, nahm Ina das „Lexikon der schönen Wörter“ von der Fußbank im Flur, setzte sich, schloss die Augen und schlug es auf einer beliebigen Seite auf. Legte den Zeigefinger an eine Stelle auf der linken Seite und guckte: „widerborstig“. Ihr Wort der Woche. Sie schmunzelte, zufrieden mit dem Wort und mit sich und wie gut sie zueinander passten. Widerborstig … Fast schon ein bisschen zu energiegeladen.
Unterwegs
Der Weg zum Zeitungshaus war kurz, zu kurz, um Größeres zu denken. Geschweige denn Motivierendes. Ina radelte ihn noch lustloser als an anderen Dienstagen, nachdem ihr eben dies gerade aufgegangen war: dass heute erst Dienstag war. Die Woche kam ihr ewig vor. Termine gab es kaum, es fand nur wenig statt, Steiningen schien noch im Winterschlaf zu sein. Und Ina hatte keine Ideen. Das war nicht gut, die Woche ohne Ideen zu beginnen. Mit einer eigenen Idee hast du immer eine Ausrede, um Aufgedrücktes abzuwehren.
Als sie beim Steininger Tageblatt angefangen hatte, war ihr jeden Tag bange gewesen: Was der Chef heute wohl wieder für Aufträge hatte? Was sie heute wohl machen müsste? Bis sie angefangen hatte, sich eigene Themen zu organisieren. Es verschaffte eine gewisse Freiheit. Man machte sich aber auch selber Druck damit. Ein Dilemma.
Heute fühlte sie sich wieder so ausgeliefert, dem Chef und seinen Einfällen. Der Schwäblinger und Ideen, was der da immer aus dem Hut zieht. Wochenenddienst hatte sie dann auch noch. Wieder nichts los. Sie brauchte noch ein Thema. Irgendwas mit Frühling vielleicht? Bäume … Stadtgrün … Begegnungen im Park … Saisonbeginn im Kleingarten … Blödsinn. Was soll das denn? Das konnte sie unmöglich machen. Fehlte bloß noch eine Gartenfeuerumfrage!
Vielleicht rief ja doch noch jemand an, meistens fiel den Leuten das erst am Freitag ein, dass sie Sonnabend gern die Presse dabei hätten. Aber darauf verlassen konnte man sich auch nicht. Wochenenddienst, das war ihr jetzt immer lästiger. Anstrengend, energieraubend. Würde lieber in Ruhe was kochen, lesen, in den Wald gehen, schon mal den Balkon startklar machen, aufräumen, die alte Erde aus den Töpfen, sie brauchte noch Saaterde für die Tomaten. Wird wohl nichts. Und um die zwei freien Ausgleichstage würde man wieder betteln müssen.
Wann war sie zuletzt eigentlich widerborstig gewesen?
In der Redaktion
Jeder Arbeitstag begann mit Heike. Bei ihr musste man durch. Heike Sommer war so etwas wie die Pförtnerin der Redaktion. Anwesenheits- und Stimmungsregistratur. Drehkreuz interner Geschehnisse und Gerüchte. Manchmal Deponie für Genöle und Gemecker. Aber auch Abwimmlerin vom Dienst, Ausreden-Erfinderin, Fehler-Erklärerin – die Retterin der Redaktion. Und Benimm-Zensorat. Manieren und ein Mindestmaß an Höflichkeit konnte man doch wohl erwarten, fand sie. Schwer hatten es vor allem junge Praktikumsmenschen, die den Mund nicht aufbekamen, an ihr vorbeischlurften und sich dann ungefragt als Erste über den von ihr mitgebrachten Kuchen hermachten. Manchmal ließ sie dann eine spitze Bemerkung fallen, meist aber beließ sie es beim empörten Lästern, wenn der Delinquent es nicht hörte, oder gerade wenn er es hören konnte im Raum nebenan.
Vor allem aber war sie immer als Erste da und hatte, so witzelten die Kollegen oft, im Grunde schon fast Feierabend, wenn die Redakteure dann endlich anfingen zu arbeiten. Nur Herbert störte ihre morgendliche Alleinzeit neuerdings immer öfter. Durchpflügte sie förmlich mit seiner ganzen raumgreifenden, dröhnenden Gestalt wie ein Eisbrecher. Ein Stillebrecher.
Nach dem „Wie geht’s“-„Wie war dein Wochenende“-Pingpong blieb Ina meist noch kurz stehen, um einen Geplänkelbeitrag zum Tagesbeginn zu leisten, man konnte so das Wohlwollen-Konto bei Heike aufladen. Oft genügte es, mit irgendetwas Stichwortigem anzufangen und dann brauchte man selbst nur noch zuzuhören und ab und zu Hm-hm, Aha!, Ach was! und solche Sachen zu sagen. Am Dienstag, Inas Montag also, weil ihre Woche erst dienstags begann, da nahm sie sich gern Zeit. Wenn sie Zeit hatte und nicht gleich wieder los musste. Und heute sowieso, sie wollte doch von ihrem Traum erzählen. Bei der Erinnerung daran war sie plötzlich wieder aufgemuntert.
„Also, ich hab’ was Verrücktes geträumt, ist aber nicht anspruchsvoll für dich, alles zu eindeutig.“
„Na, das überlass mal der Expertin“, sagte Heike mit gespielt-erhabenem Lächeln und lehnte sich in ihrem Drehstuhl zurück. „Also?“
„Also: Ich war mit einem Projekt bei Jugend forscht …“
Heike machte das Geräusch, das entsteht, wenn man bei geschlossenem Mund ein Lachen an den Gaumen drückt, und sagte: „Du? Bei Jugend forscht? Also, ich meine wegen: Jugend.“
„Ist doch nur ein Traum. Passe auf, ich war da also als Teilnehmerin, und irgendwie auch in dem Alter von jetzt, und, tadaaa– ich habe einen Sonderpreis gewonnen!“
„Ach?“
„Ja. Ich habe nämlich einen autonom fahrenden Kinderwagen entwickelt. Weil doch die jungen Eltern immer auf ihr Smartphone gucken, wenn sie ihre Babys durch die Gegend gondeln. Und weil Kinderwagenschieben halt lästig ist und generell ein bisschen albern aussieht. Darum schieben ja auch vor allem Mütter die Wagen. Und damit das Ganze etwas cooler aussieht und dann auch wieder mehr Väter schieben wollen, gibt es von mir das technischsmart ausgeklügelte und eben autonom fahrende BabE-Car. Also Baby wie Baby, nur statt y ein großes E, wegen Elektro. So stand das jedenfalls auf dem großen Plakat.“
„Aha. Und das Ding fährt dann, wohin es will?“
„Natürlich nicht. Das ist ja der Clou an der Sache. Das Ganze wird über eine App gesteuert, du gibst vorher die Route ein, das Tempo, Ampeln und Überwege und all das. Und dann kannst du noch Sätze, Singsang, Dudi-dudi-batzibu oder was auch immer aufzeichnen, was dann über die im hinteren Liegebereich integrierten Sidephones, so hieß das, glaub ich, an Babys Ohren gelangt.“
Heike prustete. „App und Smartphone, du! Ich lach’ mich kaputt. Aber wirklich genial. Dass da noch keiner drauf gekommen ist.“
„Da staunste, wa? Was ich alles kann! Habe mich selber gewundert. Aber das ist noch nicht alles, ich habe alles bedacht: Wenn es zu unvorhergesehenen Situationen kommt, bekommen die Eltern dann einen Alarm auf ihr Handy. Dann wissen sie, ob Windel voll, zu warm, zu kalt oder sonst was.“
„Wow. Du träumst Marktlücke, Ina … haste das öfter? Ich glaube, du solltest das mal schleunigst als Patent anmelden. Was willst’n noch hier beim Tageblatt? Bring das auf den Markt, werde reich und berühmt und mach dir nen Lenz mit der Kohle. Und Ina“, Heike schaute ihr intensiv in die Augen, „wenn du eine top-geniale Super-Assistentin in deinem Geschäftsführerinnen-Loftbüro brauchst – du weißt, wo du mich findest. Übers Gehalt reden wir später.“
Die Morgenkonferenz der Redaktion hatte begonnen, aber zuhören war noch nicht erforderlich. Ina widmete sich ihrem Traum. Wirklich gar keine schlechte Idee. Aber im Grunde wäre der Kinderwagen nur Spielkram, die Vorstufe zur nächsten Erfindung: das autonom kommunizierende Smartphone. Den Leuten ihre Freiheit zurückgeben, ihre Autonomie, endlich hätten alle wieder mehr Zeit. Für was sie schon immer mal machen wollten. Und das Smartphone kümmert sich derweil um das ganze Geschwätz und schickt Bewertungen raus, postet, folgt und kommentiert, das kann es doch alles selber mit der Erfahrung der Algorithmen, auch Zeugs bestellen und Serien gucken und so … Das wäre der eigentliche Durchbruch, Ina, das ist so geil, du alte Techniktrine! Aber wie könnte man das anstellen, sie hatte ja von Marketing und BWL keinen blassen Schimmer. Sie bräuchte Förderung, Sponsoring, Unterstützung. Und überhaupt auch jemanden, der ihr das alles bastelte und baute. Warum gab es eigentlich kein Mid-Age forscht, oder wie könnte man das nennen … Geistesblitz statt Midlife-Crisis?
Mitten in ihre Überlegungen plumpste das Wort Benzinpreise. Der Schwäblinger. „… unfassbar, da müssen wir was machen, das bewegt die Leute. Ich denke, das seht ihr auch so.“ Das ist jetzt nicht sein Ernst! Ina zog skeptisch die Augenbrauen hoch, ihre Mundwinkel bogen sich spöttelnd nach unten. Sie versuchte zwar immer, in diesen Runden möglichst neutral auszusehen, aber dafür war ihre Mimik im Lauf der Jahre zu eigenständig geworden. Reiz und Reaktion. Da war sie machtlos. Nun also ihre Merkel-Mimik. Das hatte sie eines Tages mal im Spiegel festgestellt: Bei ihr gravierten sich auch langsam solche Furchen ein wie bei der Kanzlerin. Und es war klar: Merkels Mundwinkel waren kein Zeichen von Verkniffenheit, sondern von Spott. Wissender Ironie. Seither war ihr die Kanzlerin sehr sympathisch. Da war was Verbindendes. Mit dem Neuen in der Redaktion dagegen verband sie gar nichts. Friedrich Schwäblinger, aber sie sollten ihn doch bitte Fritz nennen. Auf jeden Fall Du! So eine Vertrautheitssimulation unter Journalisten. Wenn es schon kein gutes Arbeitsklima gab, dann versuchte man es wenigstens per Du. Das war das Äußerste an Einfallsreichtum in Sachen Mitarbeitermotivation. Bei Ina löste dieses zwanghaft-lockere Du allerdings eher Unwillen aus, sie fand es verdächtig. Bei so manchem Chef hatte sie sich nach dem Sie zurückgesehnt.
Und jetzt also Benzinpreise als das Thema des Tages. Sie sollten sich aufteilen und Fotos von den Preisanzeigen machen! Was für ein Schwachsinn. Hoffentlich nicht auch noch Autofahrer fragen, was sie von der Verteuerung hielten. Na ja, was sollten die davon wohl halten? „Oh, klasse, finde ich super, könnte noch teurer sein angesichts der Klimakrise!“ würde ihr da wohl keiner als Zitat mitgeben. Seit der Schwäblinger vor ein paar Wochen die Leitung übernommen hatte, ging es nur noch um solche Allerweltssachen. Was sagen die Leute hierzu, wie wirkt sich dies und das auf die Leute aus. Nah am Verbraucher nannte er das. Ina fand es belanglos und versuchte, sich weiterhin gegen solche Aufzwängungen zu wehren. Heute hatte sie aber keine Ausrede von wegen Oh, das wird eng, also, ich hab grad noch drei andere Sachen in Arbeit und müsste dann noch wegen …
Sigrid hatte das Wort ergriffen. Oder eigentlich war es mehr ein Wort-in-den-Raum-plauzen-Lassen. Sie gehörte zu der Sorte Mensch, die in Gesprächen nicht zuhören und einfach anfangen zu sprechen. Mittenrein. Obwohl es so überhaupt nicht zum Thema passt. Ina erschrak jedes Mal, weil es so abrupt geschah, so brachial. Wie ein großer Felsbrocken, der einem plötzlich krachend vor die Füße fällt. Da ist man perplex und sprachlos – und das nutzen diese Menschen aus, die fassungslose Sprachlosigkeit der anderen. Der Schwäblinger würde ihr die unterbrecherische Unhöflichkeit nachsehen, schließlich hatte sie schnell den Schwenk zum Benzinpreisskandal hinbekommen und schwärmte nun ganz begeistert von seinem Thema, seinem Clou für die morgige Ausgabe. Simples Manöver, dachte Ina, aber ihm schien’s zu gefallen.
Mit den Chefs arrangierte sich Sigrid spielend, die hätschelte sie ein bisschen. Schwiegermutter-Instinkt. Oder mauschelte sie mit ihnen?
Sigrid Pawelski, seltsame Frau. Ina konnte sie nicht so recht einordnen. War erst seit drei Jahren hier. Hergeholt. War vor ewigen Zeiten aus dem Osten in den Westen gegangen, und westiger ging nicht: Bocholt. Vom Menschenschlag dort hatte Ina keine Ahnung, aber wenn sie Sigrid so sah, die ihr sehr bocholtig vorkam, obwohl sie ja gar nicht von dort stammte, hatte man wohl nichts verpasst. Spröde, und ein bisschen behäbig. Aber das konnte auch an Sigrid an sich liegen. Das einzig Ostige an ihr waren ihre Karo-Zigaretten, denen blieb sie treu. Mit ihrer herben, gemächlichen Art passte sie eigentlich eher in so ein rheinländisches Büdchen: Zeitung, Zigaretten, Kaffee, wortkarger Schnack, aufmunterndes Nicken, gemeinsam schweigendes Rauchen, auf Augenhöhe mit den Leuten von nebenan. Ina stellte sich das ganz urig vor, Sigrid im Büdchen, da könnte man dann mal drüber schreiben. Ihre Fantasie ging mal wieder mit ihr durch. Sigrid war nicht im Büdchen, sondern hier. Und riss die letzten Jahre bis zur Rente runter. Als Regional-Reporterin, das gab es neuerdings, aber im Grunde machte sie nichts anderes als die anderen Redakteure. Nur dass sie dafür manchmal etwas weiter zu Terminen fuhr, in ihrem verqualmten Renault. Und sicherlich mehr Geld bekam. Gleich fing sie bestimmt wieder an mit ihrem „Also, in Bocholt haben wir immer …“. Ihr Lieblingssatzanfang. Das ch in Bocholt war dabei immer besonders hart gehaucht, es klang eher so, als wollte sie Bochum sagen, aber eben mit diesem trocken-rauen Rheinland-Ch und das -holt so kehlig an den Gaumen gepresst, dass es einen fast würgen ließ, allein vom Hören. Was für einen Dialekt sprach man überhaupt in Bocholt? Egal, es war wahrscheinlich eh bloß Attitüde.
Das ging auch Heike gewaltig auf die Nerven. Vor allem wenn Sigrid eine Diskussion, die ihr lästig war, mit ihrem abgeklärt-überheblichen Ach, dumm Tüch beendete. Und wenn sie jetzt tatsächlich gleich mit ihrem „Also, in Bocholt …“ kam, würde Heike wieder theatralisch langsam die Augen verdrehen, wobei auch ihr Kopf immer ein bisschen mitrotierte. Vorhin war sie noch bester Dinge gewesen, in dem kurzen Zeitabschnitt seither schien ihr mal wieder eine Laus über die Leber gelaufen zu sein. Das ging bei Heike schnell, man konnte mit wenig viel falsch machen bei ihr. Ina hatte da so ihre Stimmungsfühler, versuchte aber, es möglichst nicht auf sich zu beziehen. Das hatte sie als Kind schon genug gemacht.
Aber wer wollte es Heike verübeln, sie war jetzt die Dienstälteste, Redaktionsassistentin hieß das heute, bloß nicht Sekretärin sagen. Hatte wohl schon ein gutes Dutzend verschiedene Redaktionschefs und sonstige Führungsschwächen überdauert, ihr Vertrag wurde ständig verändert, verschlechtert natürlich. Dreimal hatte sie fast schon ihre Kündigung bekommen, immer kurz vor Weihnachten. Man hielt sie für überflüssig. Das, was sie da machte, konnten doch die Redakteure mitmachen. Dabei war sie die mit dem besten Überblick – aber eben auch die mit der schlechtesten Bezahlung.
Ina merkte auf. Zwischen Heike und Sigrid krachte es mal wieder. Welche Belanglosigkeit dem vorangegangen war, hatte sie verpasst. Aber jetzt wollte Heike, mit sichtlich rot-wütendem Kopf, etwas erklären: „Ich dachte …“ Und Sigrid bratzte ihr entgegen: „Du wirst hier nicht fürs Denken bezahlt.“ Alle ringsum zuckten zusammen und erstarrten in peinlich berührtem Schweigen. Dieses Wortabschneiden konnte Sigrid gut. Wobei es diesmal kein Schnitt, sondern eher eine Faust in die Fresse gewesen war. Zum Glück war Heike in diesem Moment schlagfertig genug zu erwidern: „Ach, deswegen verdiene ich so wenig.“ Und rollte resigniert und gnatzig mit ihrem Stuhl zurück an ihren Platz. Für sie war die Sache hier vorerst beendet.
Sigrids Antwort darauf war ein verächtliches Grunzen.
In Heike Sommers Kopf
Wie lange will ich mir das hier eigentlich noch antun? Es wird immer schlimmer. Alle nölen, kein Zusammenhalt mehr, nicht so wie früher, mit den anderen, das waren noch Zeiten, da rannte man nicht grußlos und morgenmuffelig an mir vorbei und fläzte sich auf den Stuhl. Eine Ignoranz ist das hier neuerdings. Und jetzt schon wieder ein neuer Chef, ich kann’s bald nicht mehr … Der wie vielte ist das jetzt, zwölf, dreizehn? Und wie lange darf der wohl bleiben? Holger, ich kann’s immer noch nicht glauben, das ist doch echt frech, von jetzt auf gleich, einfach rausgeschmissen. Mit einer Kaltschnäuzigkeit, unfassbar. Nicht, dass es mir eines Tages auch so geht. Warum bin ich immer noch hier … ich komm nicht los von der Zeitung, ist doch auch meine Zeitung, irgendwie. So lange schon dabei, die Wendezeit mitgemacht, alles mitgemacht, durchgehalten, immer treu gewesen, das kann man doch nicht einfach aufgeben, einfach weggehen, vielleicht wird es mir ja doch eines Tages gedankt, das 40-Jährige ist bald. Vielleicht gibt’s diesmal doch was. Fritz kann’s nicht wissen, von dem ist nichts zu erwarten, und Loni, na ja … Aber die Chefredaktion, die haben doch alle Personaldaten, da wird doch wohl jemand dran denken. Und wenn nicht, eine weitere Enttäuschung. Kann ich eigentlich schon von ausgehen.
Und dann noch Sigrid, die geht mir so was von auf die Nerven, was hat sie bloß gegen mich, ich mach doch auch nur meine Arbeit, soll sie ihre machen und sich hier nicht so aufspielen, die blöde Kuh. Wie die sich immer wichtig macht, und zieht sich an wie ne Sechzehnjährige, der Rock heute ist ja auch wieder, na ja … schöne Knie sehen anders aus. Und ihr affektiertes Haarezurückstreichen, dabei ist das nicht mal ne Frisur. Was will die hier, ging doch vorher ohne sie auch. Soll Robert ersetzen, die! Mit Robert war hier wenigstens noch gute Stimmung, wenn schon die beiden Oldies nicht mehr da sind, aber mit Robert hat die Arbeit immer Spaß gemacht. Ist einfach gegangen, die treulose Tomate, auf und davon, und wir können jetzt zusehen. Warum macht er jetzt diesen Brausequatsch, er konnte doch so gut schreiben, war immer gut drauf, die Leute mochten ihn, warum gehen immer die Falschen?
Was anderes machen, weggehen, vielleicht ist es woanders ja doch besser. Ob ich mich doch mal auf die Annonce bewerbe, Assistenz der Geschäftsführung, Projekte und Recherchen, Meetings organisieren, PR sogar, Weiterbildungen konzipieren … kann ich doch alles. Es klang nicht schlecht, noch ist die Frist nicht abgelaufen. Aber was, wenn das ein mieser Chef ist, oder dann geht’s mit Mobbing los oder so, ich als Neue. Und hier kenn’ ich die Marotten wenigstens. Ist alles nicht so schön, aber immerhin vertraut. Aber das Geld, es wäre viel mehr, auch mehr Urlaub. Und bei so ’nem Verband, das ist solide, nicht so ausgeliefert wie hier … Mann, die haben mich so oft schon nicht mehr haben wollen, dreimal war ich schon fast vor der Tür. Das nächste Mal kommt doch garantiert, dann lieber von selber gehen. Was hält mich denn noch hier, immer muss ich kämpfen, meinen Job rechtfertigen, betteln um dies, betteln um jenes. Gedankt wird es einem auch nicht. Fritz, Sigrid, Lukas und wie sie alle heißen. Sollen sie ihre Zeitung doch selber machen. Das bisschen Sekretariat kriegen sie schon auch noch hin, die Macher.
Inas Blick wanderte zu Darius, der hörte auch gerade nicht richtig zu, tippte unbekümmert vor sich hin. Schnell war er, und gründlich, und einer der wenigen hier, die im Deutschunterricht noch aufgepasst haben. Nur neigte er dazu, alles schönzuschreiben. Also so, wie es seine Gesprächspartner gerne haben wollte. Unbequemes wurde ausgeblendet, es hatte dann halt nicht stattgefunden. Er war so unheimlich neutral. Ina verglich ihn gern mit einem Diktiergerät, das auch schreiben konnte. Darius Filusch – der Allrounder. Der würde noch unbeeindruckt und beflissen in seine Tastatur tippeln, wenn um ihn herum alles in Trümmern lag und er der letzte verbliebene Mensch auf Erden wäre: Einer muss es doch machen. Wenn Darius eine Schriftart wäre, wäre er Times New Roman: Standard, verlässlich, allseits bekannt, immer einsetzbar.
Aber immerhin, schlecht drauf war der Kollege nie. Jedenfalls nicht nach außen. Konnte sich selbst immer sehr über seine eigenen Späße amüsieren, und sich so bei Laune halten. Veranlagung oder Notwehr? Ina beneidete ihn drum. Diese ihn wie maßgeschneidert kleidende Teflon-Schicht. Die am Ende aber auch nicht half gegen das zunehmend merkliche Zerbröseln des Redaktionsgefüges. Anfangs hatte sie immer gütig-spöttisch gelächelt, wenn die Alten anfingen, sentimental zu werden: Ach, es ist alles nicht mehr wie früher! Der Zusammenhalt war mal viel besser! Was haben wir früher zusammen gefeiert!
Aber es stimmte ja. Jeder stichelte, jeder grantelte, jeder schimpfte. An Geburtstagen gab man sich mal besonders Mühe, wieder nett zueinander zu sein. Bis zur Mittagspause hielt das oft sogar an. Bis dann die Spendierrunde aufgefuttert war.
Herbert pflegte ihn besonders, diesen Dauerschimpfmodus. Stand ständig unter Dampf. Ob das die vielen Jahre im selben Beruf, der irgendwann zum Job verkam, mit einem machten? Dass man sich nur noch aufregte über diese Idioten!, diese Schwachköpfe!, diese Arschlöcher! und Schlimmeres? Verlor man irgendwann die Kontrolle über sich selbst und wehrte sich gegen alle Ignoranz und Ungerechtigkeit, indem man andere anmotzte und seinen Frust auf ihnen ablud?
Wenn man nicht aufpasste, bekam man von Herbert Hütter verbal so richtig eine reingewatscht. Ina provozierte ihn aber auch gern. War doch eklig, wie er sich unter Kollegen immer über diesen Scheißladen aufregte, aber dann, wenn der Chefredakteur, Diese Witzfigur, was will der denn von mir?!, auftauchte, den großen Honigtopf aufmachen.
Oder neulich, ach herrlich, wie er sich nachträglich beim alten Redaktionsleiter eingeschleimt hatte: Holger war ein Arbeitstier! Wie lange der abends noch hier im Büro war. Herbert hatte das wohl vor allem auf sich selbst bezogen – brüstete sich immer damit, dass er schon mit der aufgehenden Sonne im Rückspiegel ins Büro fuhr, und gab einem abends, wenn man schon vor ihm Feierabend machte, zum Tschüss noch so ein vorwurfsvolles „Ach, schon fertig?“-Feeling mit auf den Weg. Ina hatte sich nicht zurückhalten können und spitzzüngig entgegnet: „Also, allein an der Anwesenheit zeigt sich ja nicht, ob man auch produktiv ist.“ Es war eine kleine gehässige Herbert-Explosion gefolgt.
Irgendetwas piekste man mit solchen Bemerkungen in ihm an. Wahrscheinlich brauchte er einfach nur Zuwendung. Aber dafür, so viel hatte Ina schon kapiert in den letzten zwölf Jahren, war die Arbeitsstelle nun mal der falsche Ort. Darum ignorierte sie es auch immer, wenn Herbert mal wieder mit einem neuen Bartschnitt ankam und auf Kommentare wartete. Stellte sich in den Raum, stand da, guckte einen an und sagte: „Na?“ Und wenn man lediglich zurückfragte: „Na?“, strich er sich, erst links, dann rechts, über die Gesichtsbehaarung und lobte sich selbst: „Schick, wa?“ Das sah man ja oft bei Männern, dass sie sich selber streichelten. Entweder über den Backen-Kinn-Haarwuchs oder über die Glatze. Ein stummer Schrei nach Liebe.
Ina fand sich jedoch nicht zuständig für solcherlei Schreie.
Herberts neuer Kollege am Desk offenbar auch nicht. Aber immerhin lachte der über Herberts ausgelaugte Anekdoten. Ob es Strategie war oder sein Humor tatsächlich so barrierefrei eingerichtet? Lukas Dietzmeyer: frisch vom BWL-Studium. Also dem Bachelor. Bisschen großspurig, ansonsten nett. Hatte hier mal ein Praktikum gemacht und hatte jetzt die Stelle. Das Prinzip war einfach: Man musste heutzutage nicht super sein, sondern sich nur für super halten. So kommt man weiter, dachte Ina.
Sie selbst wollte ja gar nicht weiter, nur weiter ihr Ding machen. Und in Ruhe gelassen werden. Jetzt musste sie erst wieder diesem Schwäblinger beweisen, dass sie gute Arbeit machte, sich wieder behaupten, wieder von Neuem anfangen, den eigenen Stand zu verteidigen. Ständig setzten sie einem neue Chefs vor die Nase. Das nervte. Das brachte so viel Unruhe rein. Misstrauen. Und jeder Neue dachte, er erfindet das Rad neu. Dabei war das jedes Mal wieder aufgewärmter Brei, alles nach Schema F – ach, wenn es wenigstens das wäre, die meisten von denen waren ja bei Schema A stehengeblieben. „Journalisten der alten Schule“, so nannten sie sich selbst und gegenseitig. Es schwang immer Ehrfurcht und wissend-nickende Anerkennung mit. Und bei all dem waren sie so überzeugt von sich, so selbstverständlich, ja, sie waren sich selbst in ihrem ganzen Wesen und Handeln völlig selbstverständlich, alles war zwangsläufig. Sie waren, Ina suchte immer noch das richtige Wort, und da war es: unbeirrt. Ja, unbeirrt. Und genau das war das Schlimme.
Ina war meistens beirrt. Darum kam sie auch nicht voran, auf Arbeit. Und überhaupt.
Bloß nicht ärgern, und ja nicht provozieren lassen, immer schön ruhig bleiben. Das fiel ihr immer schwerer, ein bisschen trotzig und aufmüpfig war sie sonst immer gewesen, aber das nahm in letzter ab. Nur dieses Zynische, das ging nicht mehr weg. Sie musste aufpassen, dass sie die Form wahrte. Jetzt, wo mal wieder ein Neuer am Ruder war und der sich auch erst mal reinfinden musste. Sich zusammenreißen, sich benehmen. Sich fügen.
Den Friedrich Schwäblinger, den hatten sie sicher gut ausgesucht, in irgendeinem Geklüngel fand sich immer einer. Ein Individualist war der jedenfalls nicht, also genau richtig hier. Wenn sie ihn schon sah, dieses kinderhaft dreinschauende Vollbartgesicht!
Den müsste sie mal noch eine Weile beobachten. Sie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte. Fritz! Als ob sie alte Schulfreunde wären. Seine unbekümmerte Freundlichkeit, irgendetwas daran war unecht. Nicht so recht greifbar. Das einzig Konkrete an ihm war seine Gestalt: ein Pykniker par excellence. Endlich hatte Ina mal eine lebendige Anschauung dazu. Und der wievielte Chef war das jetzt eigentlich, seit sie hier arbeitete, der vierte, oder doch schon der fünfte?
Dabei hatte sie sich gerade mit dem Vorgänger einigermaßen eingerichtet, Holger Freese, anfangs hatten sie sich auch öfter in die Haare bekommen, zwei Sturköpfe. Aber er hatte ihre Eigensinnigkeit anerkannt, und sogar ihre Arbeit geschätzt. Hatte sie machen lassen.
Selten mal hatte sie seinen Rat gesucht, mehr um der Harmonie willen. Seit er mit Yoga angefangen hatte, war er noch dazu viel entspannter geworden, nicht mehr so impulsiv, ließ vieles an sich abprallen, erstaunlich eigentlich, dass das ging, manchmal wünschte Ina sich das auch – aber Yoga? Wenn er sich dann doch mal aufregte – das hörte sie aus seinem Büro nebenan, wie er den Hörer aufknallte –, kam er rausgestapft, atmete schnaubend und brummelte auf dem Weg in die Küche einen Frustsatz in den Flur: „In was für einem Irrenhaus bin ich hier bloß gelandet?“ Dann goss er sich seinen ausgelaugten „Harmonie Tee“-Beutel noch mal auf und ging wieder an seinen Platz.
Tja, jetzt war er auch schon wieder rausgeflogen aus dem Irrenhaus. Von heute auf morgen. Ina war gar nicht da gewesen, hatte freie Tage gehabt. Und als sie wieder in die Redaktion kam, war Holger weg. So schnell konnte das gehen.
Aber manchmal tut so ein Arschtritt ja Wunder. Beim Getretenen jedenfalls. Holger hatte nach seinem Rausschmiss nicht lange gezaudert und sich als Quereinsteiger beworben, Lehrer wurden jetzt überall gebraucht. Ausgerechnet Holger an einer Schule! Alle in der Redaktion hatten sich gewundert. Wo er doch immer so auf den Journalismus geschworen hatte. Aber er schien zufrieden zu sein. Er war an einer Steininger Sekundarschule gelandet: Sozialkunde und ein bisschen Sport. Es war ihm ganz recht. So konnte er seine journalistische Welt-Erklärer-Identität weiter kultivieren, nur eben nach Lehrplan. Und als Sportlehrer stand man eh meist nur daneben und schickte einen Schüler ans Reck, Sören zeigt euch jetzt mal die Übung. So war es jedenfalls in ihrer eigenen Schulzeit gewesen.
„Ina, nimmst du dann die Shell?“ Sie schreckte auf, stellte ihren Blick auf munter, nickte und rang sich ein kooperatives Lächeln ab. „Klar, mach ich.“ Die Benzinpreise. Natürlich. Schlimm.
Wenigstens konnte sie da mit dem Rad hinfahren, nach der Mittagspause. Dann ein bisschen trödeln, danach war Telefonsprechstunde und dann eine Weile vertieft beschäftigt tun, Ich brauche heute mal Recherchezeit. Aber jetzt war es eh nur noch eine Stunde bis zum Mittag, die Konferenz hatte sich mal wieder ewig hingezogen, eine Schwafelei war das immer, und der Schwäblinger traute sich noch nicht, den lieben neuen Kollegen streng zu kommen, also wurde er auch jetzt vollgetextet. Mit Sigrid und Herbert plante er die Onliner für den Tag, Themen der Außenredaktionen. Dann scheinen wir ja durch zu sein, dachte Ina, aber hatten wir überhaupt schon alles verteilt und wir wollten doch noch besprechen, was nun mit der Leseranmerkung wegen … Sie seufzte innerlich. Warum machte sie sich eigentlich Gedanken, war ja nicht ihre Verantwortung. Ging sie alles nichts mehr an.
Das schien Benjamin auch zu denken. Nur ohne „mehr“. Er war ja neu hier. Und jetzt auf seinem zu niedrig gestellten Drehstuhl in sich zusammengesackt, wodurch er wirkte wie jemand, der eine dreitägige Wlan-Party hinter sich hatte. Benjamin, das Nesthäkchen der Redaktion. Sagte immer gar nichts. Froh über die Vollzeitstelle, der erste Job, da war man noch vorsichtig, duckte sich weg. Benjamin, der Stille. Das von in seinem Nachnamen war ihm peinlich. Und Wolkenstein letztlich auch, immerzu musste er erklären, dass es nicht von der hippen Destination in den Dolomiten herrührte, sondern dass es da eine Ururur-Linie ins Erzgebirge gab. Er war halt ehrlich. Und gescheit. Manchmal nur ein bisschen zu zurückhaltend … Machte alles, was man ihm sagte, traute sich nicht, mal nein zu sagen. Hatte er schon vier Themen in Arbeit, nahm er das fünfte auch noch an. Bekam harte Themen aufgedrückt, obwohl er viel lieber was mit Tiefgang und Gefühl machen würde. Menschliche Geschichten, das lag ihm. Aber er hatte keinen Widerspruchsgeist, noch nicht. Wer weiß, vielleicht war er auch einer, der lieber die Flucht ergriff, als sich verbiegen zu lassen. Mal sehen, wie lange er es hier aushielt.
Neulich musste Heike da erst zum Schwäblinger gehen und ihn darauf hinweisen, dass Benjamin wohl gerade ein bisschen überlastet ist. Für so was hatte der Neue auch kein Gespür. Und wer nicht von sich aus was sagte, musste zusehen. Oder kollabieren. Oder krank werden. Vernünftig eigentlich, man musste nur aufpassen, dass man nicht zu oft krank war. Oder zu lange. Da war man in der Führungsetage dann nicht zimperlich: stört, hält auf, kann weg. Was steht da bei diesen Entscheidern eigentlich im Arbeitszeugnis? … hat angesichts eines herausfordernden modernen Personalmanagements stets starken Entscheidungswillen und souveräne strategische Kompetenz bewiesen …?
Zurück an ihrem Schreibtisch, überließ sich Ina noch ein wenig ihrem hadernden Grübeln. Sie hatte das neue System noch nicht verinnerlicht, seit der letzten Umstrukturierung, mal wieder eine!, hatten sie als Redakteure nicht mehr groß mitzureden, von wegen Auswahl, Gewichtung und Platzierung. Das machte ja jetzt der Desk! Sie selber waren nur noch Terminbesucher und Inhaltslieferanten, keine Gestaltung mehr, nur noch Rahmen füllen. Und der Desk spielte am Ende wieder an den Texten rum und korrigierte Fehler rein. Weil sie halt nicht richtig lasen. Da wurde dann auch gern mal irgendwas hinzugedichtet, weil sie der Ansicht waren, das könne man noch ein bisschen aufhübschen. Sie konnten ihr einstiges Redakteursdasein noch nicht ganz hinter sich lassen und wollten eben auch gern mal wieder was schreiben. Und sei es nur in fremde Texte hinein. Das sah man dann am nächsten Morgen entsetzt beim Frühstück und versuchte, sich nicht darüber aufzuregen.
Ohnehin war das alles nicht zu Ende gedacht.
Der Idealzustand: Alle waren da.
Der Normalzustand: Irgendwer fehlte immer, wegen Urlaub, frei oder krank.
Manchmal standen sogar noch wochenlang Leute im Impressum, die schon längst weg waren. Es sah halt vollständiger aus. Und gaukelte personelle Traumverhältnisse vor. Nur: Stellen auf dem Papier schafften leider die anfallende Arbeit nicht.
Und dann jetzt dieser schmierige Loni-Fatzke. Jens Lonitzsch! Geschäftsführender Koordinator aller Lokalredaktionen des Tageblatts, oder koordinierender Geschäftsführer? Jedenfalls ein Chef über dem Chef. Wieder was Neues. Man blickte eigentlich kaum noch durch, geschweige denn, dass man wusste, wer nun wirklich was zu entscheiden hatte.
Als Heike ihn gegoogelt hatte, nachdem sich die neue Personalie vor ihrer offiziellen Verkündung schon herumgeschwiegen hatte, hatten sich alle an ihrem Bildschirm versammelt. Sie wollten ihn ja schon mal sehen, ihren neuen Zwischenetagen-Häuptling. Herbert hatte nur kurz geguckt und verächtlich gemeint: „Ach Gottchen, was setzense uns denn da für ein Jüngelchen vor. Der hat ja seine erste Rasur noch vor sich. Und von dem soll ich Anweisungen entgegennehmen? Pff.“
Tatsächlich wirkte der Mensch auf dem Foto wie ein frischer Bank-Azubi, der sich mit einem Erwachsenen-Anzug verkleidete. Damit war der beabsichtigte Effekt natürlich dahin: Eindruck machen, seriös wirken, Respekt einflößen. Nun ja.
Hinter seinem Rücken nannten ihn beim Tageblatt alle nur Loni. Der sächsisch zischelnde Buchstabenrest seines Nachnamens war ihnen schnuppe. Loni war ein Karrierefuzzi, das merkte man spätestens bei der zweiten Begegnung. Viel mehr hatte Ina auch noch gar nicht gehabt. Er kam ja nie zu ihnen. Höchstens für die neueste Strategie-Optimierungserläuterung oder den nächsten Rauswurf. Das machte er wohl ganz gern. Seine Art von Entscheidungsfreude und Präsenzzeigen.
Ansonsten machte er einen auf jovial. Und pflegte sein großes Ego. Wenn Inas alter Deutschlehrer Lonis Unterschrift gesehen hätte, hätte er wohl die Hände in einer Katastrophengeste an die Wangen gelegt und unheilvoll geraunt: Um Gottes willen! Aber man musste kein Hobbygraphologe sein, um den Größenwahn darin zu erkennen.
Wenn Loni dann doch mal direkt zu ihnen in die Redaktion kam, einmal hatte Ina es mitbekommen, sauste er mit extra dynamischen Schritten und jugendlichem Schwung durch die Räume. „Darius, cooler Beitrag“, Daumen hoch. Dann mit Ghettofaust in die Luft gereckt: „Hey, Benny!“, und weiter: „Na, Herbert, alles fit?“ Dann kurzer Austausch mit Sigrid über die neuesten Kleingartengeschichten bei ihr, und dann ließ er sich in aller ihm ob seiner zarten Statur möglichen Gewichtigkeit beim Schwäblinger am Besprechungstisch nieder. Bis zu Inas Büro kam er nicht. Traute er sich nicht? Sie hatte das Gefühl, er mied sie. Unsichtbar auf seinem Radar? Oder war es ihre offensichtliche intellektuelle Überlegenheit, die ihn verschreckte? Warum war der so komisch zu ihr, also irgendwie so nicht …? Lohnte es sich überhaupt, sich diese Frage weiter zu stellen, wollte sie wirklich seine Gunst erwerben?
Jedenfalls sollte sie auf der Hut sein, das hatte ihr Holger noch mitgegeben, als er neulich sein Büro aufräumen kam: „Nimm dich vor Loni in Acht, der hat dich aufm Kieker.“ Und was angedeutet von wegen nur Teilzeit arbeiten. Ina hatte gestaunt und tat es immer noch. Ja, das mit der Teilzeit war wohl ein Novum in der Firma gewesen – eine, die keine Kinder hat, will verkürzt arbeiten, aber deswegen gleich Aufm Kieker, ist ja lächerlich. Aber im Grunde eine Auszeichnung. Da hatte man immerhin was an sich, was einen von den anderen unterschied. Da war man buchstäblich eigenartig, und das war doch gar nicht schlecht.
War das hier wirklich noch die Arbeit, die sie machen wollte? Ina schaukelte gedankenverloren auf ihrem luftbereiften Gesundheitshocker vor sich hin, schaute aus dem Fenster zum Hof und versuchte, sich am zarten Frühlingsgrün der riesigen Linde zu erfreuen, die sie von ihrem Schreibtisch aus immer im Blick hatte. Ach, da wuselte ein Eichhörnchen herum, Winterschlaf schon vorbei? Es stoppte abrupt und schaute zu Ina, so schien es ihr jedenfalls. Aber das Eichhörnchen wird ja kaum so weit gucken können, noch dazu durch die spiegelnde Scheibe … Aber es guckte. Es guckte lange. Und intensiv. Und kletterte dann weiter nach oben. Diesen stattlichen Baum, der demnächst bestimmt auch weggesägt werden würde. Er hatte ja Äste, das war gefährlich, könnten mal runterfallen. Ina blies verächtlich durch die Nüstern.
Ein Geräusch ließ sie aufmerken. Der Schwäblinger stand plötzlich neben ihr und druckste umständlich rum: „Du, Ina, ich hab grad deine Überschrift vom Aufmacher gesehen, hm, mach sie doch ein wenig aktiver, ja? Ach so, und die Ironie beim Einstieg, das ist immer so eine Sache, lass das besser weg, das versteht der Leser nicht.“ Sie schaute mürrisch drein, rang sich ein „Hm, ich kann ja noch mal überlegen“ ab und wollte noch ein Aber anfügen, ließ es jedoch bleiben. Der Chef verschwand in sein Büro.
Versteht der Leser nicht, hallte es noch in ihr nach, als Inas Telefon klingelte. Sie schaute aufs Display, stöhnte seufzend auf und murmelte: „Oh, nee, die jetzt.“
Bestimmt wegen der Ausstellung, bei der keiner von ihnen gewesen ist. Der Schwäblinger hatte gemeint: „Das haben wir groß angekündigt, das genügt.“ Sigrid hatte gemeint: „Die sollen sich mal nicht so wichtig nehmen.“ Ina hatte gemeint: „Aber es ist doch noch mal was anderes, es zu erleben, mit Leuten, Stimmen, Stimmungen und so.“ Herbert hatte gemeint: „Privat interessiert mich das schon auch, aber wir müssen ja nun nicht jeden Kulturfurz in die Zeitung setzen.“ Lukas hatte gemeint: „So richtig Platz haben wir sowieso gerade nicht.“ Darius hatte gemeint: „Ist eure Entscheidung.“ Heike hatte gemeint: „Und bei mir landen dann wieder die Beschwerdeanrufe.“ Benjamin hatte gemeint: „Hm.“
Aber so konnte Ina das am Telefon schlecht wiedergeben. Und sie musste da jetzt nicht rangehen, ihre Sprechstunde war erst Nachmittag. Sie ließ es klingeln, griff sich schnell ihre Tasse und ein Säckchen Alpenkräutertee, stellte beides in der Küche beim Wasserkocher ab, und ging rasch aufs Klo. Alberne Flucht vor einem Anruf. Der würde gleich bei Heike landen.
Mit latentem Widerwillen öffnete Ina ihren Aufmacher. Der war von voriger Woche geschoben worden, die sogenannte Krähenplage. Irgendwas fanden die Leute immer, worüber sie sich aufregen konnten. Jetzt mal wieder die Krähen, ihr Gesang war nicht lieblich genug, und ihre weißen Kackekleckse eine Zumutung. Und wenn das mit den Krähen erledigt wäre, fand man was anderes.
Ina hatte mit einem Ornithologen und einer Stadtökologin gesprochen, dazu noch einen Kommentar. Sie war ganz zufrieden mit ihrem Werk. Nur der Schwäblinger nicht. Es wurmte sie immer, wenn solche Schablonenkritik kam. Journalistenregeln aus den 70er Jahren: Dies darf man nicht in der Überschrift, jenes Wort verwendet man nicht, dies und das versteht der Leser nicht.
Und wehe, man benutzte mal ein Fremdwort. Die Zurechtweisung kam prompt: „Das kennt der Leser nicht!“ Ja, dachte oder sagte Ina dann, dann muss der Leser halt mal nachschlagen. Oder Alexa fragen. Und überhaupt, für wie blöd halten wir denn unsere Leser? Es war ein vergeblicher Kampf, den sie da focht, konnte aber nicht von lassen … Vielleicht war sie einfach nur bei der falschen Zeitung gelandet? Neulich hatte sie mal ein Gendersternchen in einen ihrer Texte hineingeschmuggelt, mal gucken, was passiert, leider hatte es jemand wieder herausgeschmuggelt, der Schwäblinger wahrscheinlich. Oder Herbert, vorauseilender Gehorsam. Es fehlte einfach an Mut. Aber was wollte man auch mit Mut, wenn es eine Linie gab?
Sie hatte jetzt keine Lust auf den Text. Das würde bis zur Pause sowieso nichts mehr werden. Nahm sich einen ihrer Bleistifte und fing an, ihn anzuspitzen. Es hatte was Beruhigendes. Eine einfache Tätigkeit, simpel, aber befriedigend. Leider war man immer viel zu schnell fertig. Darum hatte Ina viele Bleistifte, sie lagen überall herum. Auch zu Hause. Alles, was schnell notiert werden musste, notierte sie mit Bleistift. Es ging am besten. Sogar bei Terminen draußen im Regen, Bleistift schrieb immer. Die Mine durfte nicht zu weich sein, das verwischte schnell, aber auch nicht zu hart, da glitt der Stift nicht, sondern schleppte sich beschwerlich-kratzend übers Papier und man musste zu sehr aufdrücken.
Ina manövrierte ihre Tupperdose aus dem Kühlschrank. Ganz hinten auf der mittleren Glasplatte lag seit Urzeiten eine Flasche Eistee, die niemandem gehören wollte, auf der obersten Ablage ein Päckchen vom Fleischer, unten lag nichts, da waren nur eingetrocknete Irgendwas-Schlieren. In der Tür stand ein Glas mit eingetrocknetem Senf, Bautz’ner mittelscharf, eine Flasche Curry-Ketchup, Kondensmilch, eine Packung H-Milch und eine angefangene Flasche Sekt, in der oben ein Teelöffel baumelte. Eine Schale mit Kaffeepulver sollte gegen schlechten Geruch helfen. Ina fielen auch wieder die Gurkengläser im Gemüsefach ins Auge. Die rührte niemand mehr an, waren ein Geschenk einer Uralt-Abonnentin gewesen. Die hatte immer mal was aus dem eigenen Garten vorbeigebracht, als Dankeschön. Dankeschön wofür eigentlich? Die Gläser waren jetzt ein Andenken an sie, und das Gemüsefach zum Gurkenschrein geworden.
Sie machte die Kühlschranktür zu und stellte ihre Tupperdose neben die alterssschwache Mikrowelle. Darin drehte sich grad Benjamins Nudelbottich, bei ihm gab es eigentlich immer Nudeln. Heike hatte ihre Schnitten und den Plasteschalen-Salat schon auf dem Tisch parat gelegt, das hatte immer ein bisschen was von Handtuch auf der Poolliege, dabei wusste ja jeder, dass sie da saß. Doch darum ging es nicht, es war vielmehr die Übersetzung von Vorfreude in Handlung: Die vorplatzierten Mittagsutensilien symbolisierten die tröstliche Gewissheit, dass in Kürze ein schöner Teil des Tages beginnen würde. Darius war zum Essen nach Hause gegangen. Friedrich telefonierte noch, aß aber auch sonst nie mit ihnen gemeinsam. Chef-Allüren? Herbert wollte mal wieder abnehmen und versuchte es jetzt mit Heißwasser auf pulverisiertem Püree im Plastebecher. Wie man davon satt wurde, geschweige denn zufrieden, war Ina ein Rätsel. Und es roch ja auch sehr suspekt. Bei Sigrid gab es zum Mittag meistens Smartphone, und nebenher Fertigsoßenmenüs in Alu-Assiette. Aus der „Kutscherklause“, der Traditionsgaststätte um die Ecke, Futtern wie bei Muttern.
Die Mikrowelle plingte, Benjamins Nudeln konnten raus, wo ist er denn?, Inas Essen rein. Reis mit Gemüse und Falafel-Bällchen. Heike äugte manchmal wie ein probierfreudiges Huhn auf Inas Teller. „Ah, was gibt’s denn bei dir Schönes?“ Und Ina zählte dann immer die Zutaten auf. Ihre Gerichte hatten keine Namen.
Dann wurde es wirrstimmig. Manches Reden artete recht triumphal aus. Als ob es einen Wettbewerb im Lautsprechen mit vollem Mund zu gewinnen galt. Schweigendes Speisen gab es nicht, nicht im Bürokontext. Meist hielten Heike und Herbert das Gespräch über den Tisch hinweg aufrecht. Ina schwieg für gewöhnlich, aß und versuchte, das Geplauder aus Arbeitsthemen, Anekdoten von früher und Welterklärungen auszublenden. Nach spätestens zehn Minuten waren alle fertig mit essen. Heike saß die Mittagspausenzeit immer hartnäckig ab. Die anderen verschwanden oft schon wieder an ihren Platz. Ina ging jetzt häufig noch eine Runde spazieren. Und kam dann halt auch mal etwas später ins Büro zurück. Da war sie neuerdings ganz gelassen, oder gleichgültig?, von den fünf Minuten wurde die Zeitung auch nicht schlechter.
Weil Heike sie durch die Glasscheibe ihres Büros schon gesehen hatte, sie sah alle, die die Treppe raufkamen, aber alle sahen auch sie, wedelte sie mit einem kleinen Zettel und strahlte Ina an, als sie, zurück vom Tankstellenfoto, die Tür aufmachte: „Hab was Schönes für dich. Ein Wochenendtermin!“
Ina war erst erleichtert, aber auch ein bisschen bange, man konnte ja nie wissen.
„Herr Peters vom Kaninchenzüchterverein in Westerseelen hat angerufen, sie haben am Sonnabend Versammlung, warte“, sie guckte auf ihren Zettel und las ab, „Jungtierbewertung. Die Frühjahrsrallye.“
„Rallye? Mit Wettlauf und Reifenspringen und so? Kaninchen?“
Heike zuckte die Achseln, gab ihr den Zettel mit der Telefonnummer und sagte: „Siehste, doch noch was los!“ Es sollte wohl aufmunternd klingen.
Ina war noch nie bei einem Termin eines Kaninchenzüchtervereins gewesen. Feuerwehr, klar, Taubenzüchter, Hundeverein, Schützentag, alles schon gehabt. Aber Kaninchen? Nie. In all den Jahren beim Steininger Tageblatt nicht, auch nicht davor während der zwei Jahre Volo. Dabei hieß es immer: Haha, als Lokaljournalistin musst du ja ständig zu den Kaninchenzüchtern. – Alles bloß Klischee, hatte sie immer gedacht und war fast schon ein bisschen enttäuscht gewesen. Jetzt war es also soweit: ihr erstes Date mit Kaninchenzüchtern. Da könnte man doch bestimmt was Schönes draus machen, richtig groß, viele Fotos, sich mal alles erklären lassen, dann konnte sie auch endlich mitreden beim Mythos Kaninchenzüchter. Das Einzige, was sie schon wusste: Sag ja nicht Hasen! Irgendwie freute sie sich schon.
„Ach, und deine Lieblingsleserin hat vorhin angerufen“, sagte Heike noch und knüllte dabei ihre Erinnerungsnotiz zusammen. „Möchtest sie mal bitte zurückrufen. Geht um deine Kolumne vom Sonnabend.“ Mit zufriedenem Erledigt!-Schwung drehte sich Heike auf ihrem ergonomischen Sitzkonstrukt wieder zu ihrem Bildschirm und Ina steuerte ihr Büro an. An den Plätzen der anderen vorbei, Darius und Benjamin waren grad ausgeflogen, Sigrid unten eine rauchen, hatte sie vorhin durch die offene Hoftür gesehen, nur Herbert hämmerte wie üblich zweifingrig-gewaltig auf seine Tastatur ein und schnaufte vernehmbar. So konnte der Schwäblinger hinten hören, wie fleißig er war.
Also doch noch ein Wochenendtermin. Ina trug ihn sich gleich in ihren Schreibtischkalender ein, und dann noch in den digitalen für alle, das wurde ja gern mal vergessen, und dann wunderte man sich, dass nichts drin stand und nichts los war und dann rief die Stadtverwaltung oder der Verein xy an: „Kommt von Ihnen gar keiner, wir sitzen hier und warten schon.“ Wenn Heike da nicht hinterher wäre, hätten sie bald gar nichts mehr zu schreiben und würden eines Tages ganz vergessen werden, Steininger Tageblatt, ach, so was haben wir hier? Aber nun hatte Ina ja ihren Karnickel-Termin. So ging das oft, erst nichts los und dann kamen alle auf einmal. Bis man auf einmal nicht mehr wusste, wie man alles schaffen sollte.
Heute war sie Klingelfee für die Lesersprechstunde. Das gab ein bisschen Gelegenheit zum Rumsitzen. Eine Stunde Anwesenheitspflicht am Schreibtisch.
Manchmal rief da gar keiner an, aber dann, nachdem die offizielle Sprechzeit längst zu Ende war, Haach, ich hoffe, das geht noch, eher hab ich’s nicht geschafft, also, ich wollte mal … Manchmal nervten sie diese Anrufe. Immer freundlich sein, auch wenn man vollgeblubbert wurde, viele sagten nicht mal mehr Guten Tag, geschweige denn ihren Namen, fingen einfach an zu mosern und zu meckern, versuchten es dann auch mit Erpressung von wegen Wenn ihr da nüscht macht, geh ich zum Fernsehen. – Ihr! Zum Fernsehen! Na, dann machen Sie doch, würde Ina am liebsten sagen. Aber nein, immer schön freundlich bleiben, geduldig zuhören, ja, hm, ich notiere mir das mal, hmhm, na klar, da haben Sie ja Recht, da fragen wir mal nach, hm, ja, das werde ich heute Abend mal in unserer Konferenz besprechen. Was Ina dann sowieso nicht vorhatte, wenn sie für sich beschlossen hatte, dass das Thema kein Thema war. Nur würde der Anrufer wahrscheinlich übermorgen gleich wieder anrufen, dann aber eine Hierarchiestufe weiter, als ob das was brachte. Mit den Bezeichnungen kannten sich die meisten Leser nicht aus, also hieß es: Dann will ich jetzt mal Ihren Chefredakteur sprechen. Sie meinten den Redaktionsleiter, der andere saß ja ganz woanders und hatte mit diesem Provinzpillepalle nichts zu tun. Also verband man mit der nächsten Hierarchiestufe und freute sich klammheimlich, dass die auch bloß rumstammelte und den Menschen am anderen Ende nicht so recht loswurde.
Inas Telefon palingpalüngelte seine voreingestellte Melodie. Die Nummer kannte sie, der Kantor.
„Steininger Tageblatt, Boerns, Guten Tag?“ Auch wenn sie die Nummer schon erkannt hatte, meldete sie sich trotzdem immer offiziell, man konnte ja nie wissen.
Es war der Domkantor. Professor Jakob Lydix. Schon genauso lange in der Stadt wie Ina. Also seit einer halben Ewigkeit. Und genauso lange war er hier der Domkantor, spaßeshalber nannte er seine Wirkungsstätte, also St. Johannes, immer öfter Jakobsdom.
Der Orgel-Professor, ein Füllhorn an musikalischem Wunderwissen. Dass manche Menschen solche Spezialgebiete hatten, in die sie sich tiefer und tiefer hineingruben, ohne sich selbst dabei zu ermüden, über Jahre und Jahrzehnte immer das gleiche Thema. Ina hatte sich schon mit ihrer Magisterarbeit schwergetan, das war sehr mühsam gewesen, und am Ende war sie kollabiert. Überlastung, depressive Verstimmung … Begriffe, die sie da zum ersten Mal hörte. Gemerkt hatte sie sich außerdem noch „hyperventilieren“. Das klang lustiger, als es einem vorkam, wenn man dem ausgeliefert war.
So was würde Herrn Lydix nicht passieren, der war die Gleichmut in Person. Und nie schlecht gelaunt. Wenn man selber mal schlecht drauf war, machte man am besten einen Termin mit dem Domkantor. Der ärgerte sich zwar über einiges im Kirchenbetrieb, aber wischte das dann mit einem gelassenen „Ach, was soll’s“ weg, platzierte dann noch einen trockenhumorigen Witz und erzählte weiter vom Oratorium, dem Konzertzyklus oder der Bedeutung des Opus sowieso. Hauptsache, es pfuschte ihm niemand in seine Orgelei und die Konzertplanung hinein.
Zu Ostern wollte die Kantorei den Messias von Händel aufführen. Mit Barock-Orchester und Solisten, im Dom natürlich. Bisschen kalt noch, aber er hatte eine tolle Akustik. Das bekam man im düsteren Festsaal vom Goldenen Hirsch nicht hin.
Beim Konzert würden sie den dritten Teil weglassen, hatte ihr Prof. Lydix erklärt, weil nach dem Halleluja, dem berühmten!, am Ende des zweiten Teils sowieso alle immer wie wild drauflos klatschten, als ob das furiose Finale erreicht wäre. Da hatten das Lamm und das Amen keine Chance mehr, hatte er ihr seufzend sein Kantorleid geklagt. Ja, das war wohl eine schwierige Gratwanderung: dem eigenen Anspruch gerecht werden und gleichzeitig dem des Publikums. Letzterer war im Steininger Milieu naturgemäß etwas niedriger anzusetzen und bewegte sich eher im Best-of-Händel-Bereich. Zum Klassik-Medley mit Kniewippen, das hart an der Musical-Grenze entlangschrammte, kämen wahrscheinlich mehr Leute als zum Messias. Aber das war dem Kantor sicherlich bewusst. Schmerzlich noch dazu.
Messias, Händel … zum Glück hatte Ina das Vorgespräch mit dem Kantor schon gehabt, brauchte sie sich nicht durch Wikipedia zu quälen. Erklär mal ein religiöses Musikstück, von dem du selber keine Ahnung hast. Außer dass es irgendwie um Ostern geht. Hoffentlich konnte sie die Notizen noch lesen, das war ja schon ein bisschen her.
„Herr Lydix, schön, Sie zu hören. Wir wollten ja noch den Termin absprechen, die Messias-Probe …“
Ja, und genau deshalb rufe er an, er habe es gestern schon versucht, da war sie nicht da … ach so, montags, stimmt, vergessen … und nun sei es so, dass sie die Probe vorziehen müssten, weil das Orchester am ursprünglichen Termin nun dringend woanders, und das wäre jetzt die einzige Möglichkeit mit Solisten und Chor und ob es denn hoffentlich bei ihr auch passte und sie dabei sein könnte.
Passte und könnte und werde sie. Zu seinem Glück habe sie Wochenenddienst. „15 Uhr, das ist gut, bis dahin bin ich mit den Kaninchen durch – Nein, nicht kochen, nur gucken, ausmessen und bewerten. Aber vielleicht geben sie mir ja eins mit, das nicht bestanden hat.“
„Na, dann schon mal guten Appetit“, sagte der Kantor lakonisch, holte Luft und:„Ach, bevor ich’s vergesse, ich mache ja ungern Werbung für die Konkurrenz, aber ich soll Sie von meiner Frau grüßen, sie möchte mit Ihnen demnächst gern mal über den Rockchor sprechen. Das ist jetzt komplett, mit Instrumentalisten, und sie planen ihr erstes kleines Konzert. Entweder melden Sie sich oder sie versucht es mal.“
Der Rockchor. Hatte das jetzt also geklappt, und das in Steiningen, so was Modernes! Wenn Ina darüber jetzt auch noch schreibt, neben der Domchor-Sache, dann gibt es garantiert wieder einen pikierten Anruf vom Traditions-Chor Altmark.
„Herr Lydix und seine Frau sind so oft in der Zeitung. Und immer so groß. Wann schreiben Sie denn mal wieder was über uns? Uns gibt es schon so lange.“
Ina würde dann die Augen verdrehen, sah man ja durchs Telefon nicht, sich ein genervtes Schnaufen verkneifen und möglichst versöhnlich-neutral offerieren:
„Dann sagen Sie uns doch gern Bescheid, wenn Sie das nächste Mal wieder was Schönes oder Besonderes vorhaben. Oder ein Jubiläum ansteht.“
Replik: „Dann müssen Sie aber auch kommen.“
Ina: „Also, dass ich persönlich komme, kann ich Ihnen nicht versprechen, aber meine Kollegen sind ja auch nett und machen das sehr gut.“
Replik: „Das haben Sie schon so oft gesagt, und dann schicken Sie bloß wieder Ihren freien Mitarbeiter, dem muss man alles diktieren oder auf einem fertigen Zettel in die Hand drücken, und am Ende stimmt trotzdem wieder alles hinten und vorne nicht. Und bis zum Ende bleibt er auch nie.“
Was Ina verstehen konnte, ein von gealterten Stimmen vorgetragenes Volksliedkonzert war halt kein Händel mit top Solisten und berühmtem Barockorchester. Aber das war wahrscheinlich schon wieder überheblich. Zumindest ungerecht. Also:
Ina: „Ja, das ist dann schade, aber der freie Mitarbeiter hat ja auch oft noch andere Aufträge und kann nicht bis zum Schluss bleiben.“
Replik: „Aber in der Zeitung ist da nichts weiter zu lesen, von Veranstaltungen vom selben Tag, wo er angeblich war.“
Boah, die Leute passten aber auch auf!
Ina: „Na ja, das ist dann die Entscheidung der Redaktion, da kann der Fotograf auch nichts dafür.“
Und so konnte das immer weitergehen mit diesen Aber-Duellen. Abwimmeln war echt nicht einfach. Das brachte ihnen im Volo keiner bei. Dabei war das doch eine Grundtugend im Redaktionsalltag. Abwimmeln, vertrösten, aussitzen. Kein einziges Seminar dazu gehabt.
Ina hörte ein Knarzen. Fritz stand schräg hinter ihr. Genau auf der Knarzstelle. Was will er denn jetzt schon wieder? Hat er schon wieder was zu mäkeln? Und dieses ekelhafte Teddybären-Lächeln …
„Oh, Fritzrich“, sie verhaspelte sich, er bekam es offenbar nicht mit.
„Du, Ina, das haben wir übersehen, heute Abend ist noch Kreis-Ausschuss, Sport und Jugend. Darius ist dann beim Stadtrat, Benjamin hat ein wichtiges Spiel, ob du dann vielleicht …?“
Du dann vielleicht, als ob das die Frage war. Es stand ja wohl jetzt fest, dass sie da hingehen würde. Müsste. Muss. Soll. Sie merkte, wie ihr Hals enger wurde. Diese äußere Bedrängung, die sie gleich immer stechend in der Kehle spürte. Dieses Weinen, das von innen drückt. Und dann meistens auch zu den Augen rauskam. Peinlich. Unerwachsen. Sie würde es gern können: die Tränen runterschlucken. Aber dafür waren sie eben viel zu weit oben.
Eine Weile war sie immer gut drumherum gekommen um diese Ausschüsse – seit sie einmal aus einer solchen Sitzung ohne blassen Schimmer und ohne wirkliche Geschichte wiedergekommen war und eigentlich auch gar nichts kapiert hatte, da war mit Zahlenwerk nur so um sich geworfen worden, das war nichts für sie, und am nächsten Tag hatte sie sich dann ein bisschen extra dumm gegeben, da hatte Holger irgendwann kapituliert und sie seitdem meistens davon ausgenommen. Nur Kulturausschüsse, die musste, oder durfte, sie manchmal noch machen. Das waren weiche Themen, also was für sie. Aber von diesem stillen Konsens wusste Friedrich ja nichts. Oder es war ihm egal, schließlich musste in einer Redaktion jeder alles können. Auch so ein ehernes Prinzip. Für den Mantel galt das nicht. Die saßen alle stur auf ihrer Kernkompetenz. Auch wenn die nur daraus bestand, sich an Landtagsterminen entlangzuhangeln oder auf Minister einzudreschen. Vorzugsweise Ministerinnen, Wie die schon aussieht!
Als sie beim Tageblatt angefangen hatte, da wusste sie nicht mal, was ein Ausschuss war. Viele Leser wahrscheinlich auch nicht, aber auf diese Termine wurde Wert gelegt, das war schließlich Lokalpolitik und die war das Herz der Zeitung. Oder nein: Lokalpolitik ist die Zeitung! Holgers Credo. Der stand auf so was. Dafür war ihm alles andere relativ schnuppe. Alles, was nicht politisch war, kam auf Seite 3. Die Resterampe, Kultur, Gesellschaft, der ganze Firlefanz eben. Seite 1 hätte er am liebsten dreimal gehabt. Aber eigentlich war das ja einfach mit diesen Ausschüssen: Mit den Tagesordnungspunkten konnte man sich über eine ganze Woche retten. Deswegen machten es die anderen wahrscheinlich gern. Ina konnte darauf verzichten. Dieses ewige Gesitze, das zähe Hin und Her, oft war die Akustik so schlecht, dass man manche Redner gar nicht verstand. Und gelüftet wurde auch nie. Da bekam sie schon nach einer halben Stunde Unruheanwandlungen. Sie konnte die abgestandene Luft förmlich sehen!
Ina gelang es gerade so, ihren Unmut zu zügeln – Unmut, der eigentlich eher Verzweiflung war, Hilflosigkeit. Das dünne Zittern in ihrer Stimme aber konnte sie nicht verhindern, als sie Friedrich antwortete: „Ja, na gut. Ich hatte eigentlich was vor, aber ist okay.“ Da konnte sie ihren Sportkurs wieder knicken, das würde sie nicht schaffen.
Ihr Telefon klingelte erneut. Sie schaute auf die Uhr, die Sprechstunden-Stunde war noch nicht rum, also musste sie rangehen.
„Steininger Tageblatt, Boerns, Guten Tag?“
„Na, dit weeß ick doch, dat Ihnen das is. Drum ruf ick doch an. Wissen Se, ham Se sich det schon ma anjeguckt mit die Bänke? Det jeht so nich …“
Dieses Brandenburgisch-Berlinernde, das kam Ina hierzulande völlig deplatziert vor, sie hatte sich erst daran gewöhnen müssen.
„Ja, wenn ich kurz unterbrechen darf, mit wem spreche ich denn?“
„Ach, wat, kennse mich etwa nich, haha, aber ick kenn Sie, aus de Zeitung.“
„Na, dann würde ich mich doch freuen, wenn ich Sie jetzt auch kennenlernen könnte, wenigstens vom Namen her schon mal.“
„Na jut, weil Sie det sind. Ick heiße Schtrawinsky mit y, nee, Spaß. Ick bin Nolte, Werner. Och bekannt als Nörgel-Nolte. Könnse mich so nenn’, wennse woll’n.“
„Okay, aber ich bleib erst mal bei Herr Nolte. Also, Herr Nolte, welche Bänke meinen Sie und was geht da nicht?“
„Na die neuen Bänke überall inne Stadt. Diese komischen Stahljerüste. Hamse da schon ma druff jesessen? Dit is kalt wie nüscht. Ick saach Ihnen, da kriegense Hämoro… na, die Dinger am Arsch, wissense schon, wo wehtut.“
Ina verkniff sich ein Prusten und sagte schnell „Hm, hm, ich weiß, was Sie meinen.“
„Na, sehn Se. Und bestimmt hatten der Bürgermeister und seine Konsorten noch nie solche Hämodingsen. Denn warum sonst hamse jetzt überall, und ick saache, wirklich ü-ber-all inne Stadt diese Folterbänke hinjestellt? Früher warn Sitzbänke aus Holz, dit war jemütlich und warm am Hintern und bequem. Und heute? Sollste gar nich sitzen, is nämlich unjemütlich, kalt am Hintern und unbequem. Der Mensch muss doch mal sitzen dürfen, oder wat? Nu muss ick ma immer n Sitzkissen mitnehm, wenn ick da sitzen will. Is doch Quatsch, oder nich? Oder soll ick mir den Hintern dann uff die komische Solarbank aufwärm’? Oder wat sagen Sie?“
„Ja, das ist wirklich Quatsch. Man will sich ja spontan hinsetzen, wenn man unterwegs ist. Das weiß man ja vorher noch nicht, wenn man zu Hause losgeht. Da könnte ich ja auch vorsichtshalber nen Campinghocker mitnehmen für den Fall, dass es gar keine Bänke gibt …“
„Sehnse, wusst ick doch, Sie vastehn mich. Und nu, wat machen wa nu?“
„Na, ich schlage vor, ich beschreibe das Problem mal der Stadt und dann müssen die mir antworten und dann gucken wir mal, was sie so antworten. Ist auf jeden Fall ein wichtiges Thema, Herr Nolte. Gut, dass Sie deswegen angerufen haben. So nörgelig war’s doch gar nicht.“
„Ach, na, nu wernse ma nich schmeichelhaft, junge Frau. Aber man lebt doch in diese Stadt, nich wahr? Und man is aufmerksam. Und man ist nicht mehr der Jüngste. Und man will doch, dass alle et richtich schön hahm. Und jemütlich.“
„Genau, so soll das sein. Ein Sitzmöbel ist schließlich keine Folterbank, da haben Sie völlig Recht. Und ich kümmer mich mal drum und dann lesen Sie ja in der Zeitung, was draus geworden ist.“
„Morgen denn?“ „Na, nee, nicht ganz so schnell, ich muss ja erst mal die Anfrage stellen und Sie wissen ja, wie lange so was manchmal dauert in den Ämtern … Aber allerspätestens nächste Woche ist da was drin.“
„Na, denn, kiek ick ma in die Zeitung. Mach ick ja sowieso jeden Tach. Is nich immer intressant, so mit die janzen Kitasachen und jetzt alles mit Ostern und so … Aber muss ja für jeden was dabei sein. Und ick finde, Sie machen dit janz jut. Also, Sie und Ihre Kollegen da auch.“
„Na, das werde ich meinen Kollegen mal weitersagen, da freuen die sich bestimmt. Lob ist ja selten.“
„Ja, bestelln Se schöne Grüße von olle Nörgel-Nolte. Und nu, lass ick Sie ma weiter Ihre Arbeit machen, Sie ham ja och nich den janzen Tach Zeit, und sage ahoi und Druschba und schüssikowski.“
„Ja, tschüss, Herr Nolte, und danke für Ihren Anruf und dass Sie so aufmerksam durch die Stadt gehen. Bis dann, tschühüss.“
Ina legte amüsiert auf. Was so ein Leseranruf doch bewirken konnte. Und warum hatte sie in all den Jahren noch nie mit Nörgel-Nolte zu tun gehabt? War da Holger drauf abonniert gewesen? Kurz machte sich Leichtigkeit in ihr breit. Eine, die im Bauch kribbelte und in der Kehle juckte.
Sie griff zu ihrer Teetasse, trank einen Schluck und zuckte zusammen. Der Tee war kalt geworden und schmeckte bitter. Sie kippte ihn in die Topfpflanze. Die hatte schon einiges durch. Wenn Ina nicht da war, kümmerte sich Heike immer um ihren Grünkram im Büro. Dann aber hatte Ina die Pflanze mal umgetopft, war anschließend drei Wochen im Urlaub gewesen, danach vier Wochen krank, und als sie wiederkam, war von der einst üppig-buntblättrigen Pracht nur noch ein graubrauner Stengel übrig gewesen.
Heike hatte gleich, als Ina an ihrem ersten Arbeitstag bei ihr reinkam, entsetzt geschaut und gebeichtet und sich erklärt: „Ina, es tut mir leid, deine große Pflanze, ich kann nichts dafür. Ich hab wirklich immer gegossen, wie sonst auch, aber irgendwas hat sie. Also, kannste mir glauben, ich war ganz lieb zu ihr, hab ihr keinen Kaffee gegeben, keinen Früchtetee oder sonst was Schlimmes. Die hat dich vielleicht vermisst. Mehr als sonst. Wer weiß …“
Ina hatte sich für Behalten entschieden, goss hoffnungsvoll und um Verzeihung bittend, wofür auch immer, und siehe da, eines Tages zeigten sich wieder Blattknospen am Stiel. „Ein Wunder, ein Wunder!“, hatte sie durchs Telefon gerufen, nachdem sie Heikes Durchwahl getippt hatte, „komm mal her, das musst du dir angucken.“ Heike hatte gestaunt, war natürlich auch erleichtert, und hatte anerkennend geraunt: „Ein zähes Luder. So eine will ich auch, wie heißt die?“
Sie musste bald los, zur Ausschusssitzung, es lohnte nicht, jetzt noch mit etwas Wichtigem anzufangen. Also zog Ina ihren Karteikasten zu sich heran und klappte ihn auf. Den hatte sie sich von ihren Kollegen zum Geburtstag gewünscht, kurz nachdem sie hier angefangen hatte und merkte, dass es mit der Zeit immer mehr wichtige Adressen und Telefonnummern wurden, die sie brauchte. Sicher, viele konnte man im Internet nachgucken, aber viele eben auch nicht. Und das Telefonbuch half einem oft auch nicht weiter. Schon gar nicht mit Handynummern – das war ihr Goldstandard in der Redaktion, wenn man mal jemanden wirklich gar nicht erreichte, Hast du eventuell die Handynummer von …? Manche bekam man „nur für dieses Mal ganz ausnahmsweise“. Vorsichtshalber hob man sie sich aber auf. Da hatte Ina auch schon so manches Mal triumphierend genüsslich ihren Kasten aufgeklappt, könnte sein, warte, ich guck mal, und dann, wie eine Zauberin, das entsprechende Kärtchen hervorgezogen, mit kurzem Zögern dem Kollegen hingehalten und gaunerisch-mahnenden Blickes hergegeben: Will ich aber wiederhaben.
Einen Karteikasten hatte nicht mal mehr Heike, alles nur noch digital, aber Ina fand es übersichtlich und praktisch. Und IT-unabhängig. Dieses längliche graue Plasteding mit seinem matt-transparenten Schiebe-Klapp-Deckel füllte sich noch immer. Manche Kärtchen waren handbeschrieben, auf manche hatte Ina einfach die Visitenkarte aufgeklebt, auf andere die aus Mailausdrucken ausgeschnittenen Kontaktdaten. Vereine, Schulleiterinnen, Pfarrämter … Pressestellen, Ärzte, Parteien … Förster, Schützen, Staatsanwalt. Sogar eine Karte vom Bundesverfassungsschutz hatte sie, was das wohl mal für ein Termin gewesen war? Es war die Karte des PR-Beauftragten, dessen Name Ina allzu erfunden vorkam.
In diesen Kärtchen zu blättern hatte was Entspannend-Anarchistisches. Wenn sie so wie jetzt, das Kinn in die linke Hand gestützt, in einer Mischung aus Konzentration und Müßiggang mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand ein Kärtchen erst kurz hochhob und es dann nach einem kurzen Blick darauf nach vorn fallen ließ. Zuerst das harte Rascheln festen Papiers, gleichzeitig das Schaben der Kanten am Plastekasten, dann das stumpfe Klack, mit dem das Kärtchen am Kastenboden wieder aufkam, und manchmal mischte sich noch ein leichtes Quietschen mit hinein, wenn sich ein Kärtchen leicht an der Kastenwand verkantete.
Und wie sie sich da jetzt mehr oder weniger lustlos und zum Zeitvertreib durch ihr wohlsortiertes Steininger Who’s who? fingerte, fiel ihr unter B das aufgeklebte Visitenkärtchen des Designers auf. Jasper Bochnatzki. War der nicht sogar an den Entwürfen für die neuen Bänke beteiligt gewesen? Ina würde ihm gleich noch rasch eine Mail schreiben. Mal hören, ob der wirklich zufrieden damit war. Zum Glück nahm er kein Blatt vor den Mund, da bekam man, wenn es denn sein musste, auch mal sehr direkte Aussagen. Hinterher war ihm diese Direktheit dann manchmal ein wenig unangenehm, aber er blieb dabei.
Details
- Seiten
- 264
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2023
- ISBN (eBook)
- 9783958942349
- ISBN (Buch)
- 9783958942332
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2023 (April)
- Schlagworte
- Befremdeter Realismus Krise Gesellschaft Burnout Seelenleben Altmark Osten Kleinstadt