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Burnout – auf einmal mittendrin

Logbuch einer seelischen Irrfahrt

©2022 176 Seiten

Zusammenfassung

Ein Burnout ist kein Trend, den man mitmachen muss. Es ist eine schwere Krise, die immer mehr Menschen voll erwischt: körperlich, seelisch, sozial. Jede:r von Burnout Betroffene erlebt diese Krise anders. Dennoch ähneln sich Krankheitsphasen, Stimmungen und Gefühle sowie Denkmuster, Therapieerlebnisse und Erkenntnisse.

Dieses Buch ist kein Ratgeber – es ist eine authentische tagebuchartige Darlegung und zugleich der Versuch, zu verstehen, was da eigentlich mit einem geschieht. Die Leser:innen begegnen Verzweiflung, Schmerz und Traurigkeit – aber ebenso Wut, Kraft und Aufbruch. Und manchmal geht es sogar heiter und humorvoll zu. Die Autorin lässt die Leser:innen zudem auf angenehm leichte Weise an ihrem Erleben der Psychotherapie teilhaben.

Ein Buch, das sich geschickt zwischen Abstand und Involviertsein bewegt und vor allem so empathisch vermittelt, mit einem Burnout nicht alleine zu sein und immer einen Weg finden zu können.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Zur Orientierung

Dieses Buch ist durcheinander. Es schlingert. Es ist eine einzige Wirrnis – so wie der Zustand, in dem es entstand, eine einzige Wirrnis ist: Burnout mit Depression. Darum ist es ebenso Verzweiflung, Schmerz, Traurigkeit und Verzagtheit, wie es Wut, Tumult, Trotz und Aufbruch ist. Es ist voller quälender Fragen und Zweifel, aber es findet auch leise Antworten und zaghafte Gewissheiten. Bei aller Trübnis und allem Nebel hat es ebenso Helligkeit und Klarheit.

Es soll keine Abrechnung mit irgendjemandem sein, aber es stellt zur Rede, ist so offen und ehrlich wie nur möglich. Es ist eine authentische, unmittelbare Darlegung und zugleich der Versuch, zu verstehen, warum geschehen ist, was geschehen ist. Es ist kein Ratgeber und erst recht nicht verallgemeinerbar, aber es ist ein Buch für alle, die sich ebenso in sich selbst verirrt haben und daran verzweifeln.

Jede:r von Burnout Betroffene wird die Krise anders erleben – jede:r macht andere Dinge durch, trägt andere Lasten und Verwirrungen mit sich herum.

Dennoch ähneln sich Krankheitsphasen, Stimmungen und Emotionen sowie Denkmuster, Therapieerlebnisse und Erkenntnisse.

Daher versteht sich dieses Buch auch als Ermunterung an all jene, denen ähnliches widerfährt, sich dieser tiefen persönlichen Krise zu stellen, mit dem eigenen biografischen Ballast freundlich umzugehen und kleine Veränderungen zu wagen. Die Kraft dazu entsteht in einem selbst – man kann sie nicht erzwingen, aber ich schreibe diese Worte in der Gewissheit, dass diese Kraft da ist, dass sie sich zeigt, wenn es an der Zeit ist.

Burnout

Irgendwann im Leben kommt manche:r von uns an den Punkt, wo es ohne Hilfe nicht mehr geht. Man selbst merkt das meist gar nicht oder zu spät. Den vor einigen Jahren schon beiläufig von der Ärztin mitgegebenen Zettel mit Adressen von Psychotherapeutinnen hatte man sich zweimal angesehen und jedes Mal wieder weggelegt, dachte sich: Soo schlimm ist es doch nicht, das kriege ich schon alleine hin, das brauche ich doch nicht.

Bis es eines Tages eben doch schlimm ist, man es nicht mehr allein hinkriegt, es doch braucht.

Und man ist so froh, den ersten Termin ausgemacht und ihn doch nicht wieder abgesagt zu haben.

Jede Woche ist da diese Insel, dieser Raum, wo man Halt findet, wo man reden darf und sollte, über alles, was einen bedrückt, beschwert, erfreut und umtreibt; alles, was einen ausmacht, was man erlebt und erlitten hat, was man denkt und fühlt und wie man sich sieht; wo man weinen darf und auch schweigen; in Ruhe reflektieren oder ratlos sein; wo man immer wieder zu sich selbst geführt wird und sich wieder wertzuschätzen lernt; auch wenn es dafür mehrere Anläufe braucht und man manchmal das Gefühl hat, zu versagen, weil man immer wieder am selben Punkt, beim selben Problem landet, ja, manchmal sogar zum wiederholten Mal dieselbe Erkenntnis formuliert; wo man auf sachte Weise durch vorsichtige Nachfrage auf wichtige Worte, Gedanken, Gefühle aufmerksam gemacht wird und vom eigenen Irrweg weggeholt wird. Wo man nichts muss, aber alles darf. Wo man als Mensch wieder gehen lernt, aufrecht und offenen Blickes. Wie gut, dass es diese Geh-Hilfe gibt.

Und nach etlichen Sitzungen, die einen aufgewühlt, verstört, erstaunt, erschöpft, aber unmerklich auch wieder ein kleines bisschen stärker, selbstbewusster und zuversichtlicher gemacht und mit Erkenntnissen beschenkt haben, da schließlich fragt man sich: Wird es mir eines Tages wieder möglich sein, ohne diese Geh-Hilfe durch mein Leben zu gehen? Auch ohne dass jemand an der nächsten schwierigen Passage, vor dem nächsten Dunkel auf mich wartet, der mich begleitet und mir Mut zuspricht? Ich hoffe es sehr.

***

Burnout haben doch nur Manager und Geschäftsführerinnen. Nicht wahr? So Typen, die sich 28 Stunden am Tag abrackern, keinen Feierabend kennen, unersetzbar sind oder sich dafür halten, überall einspringen, wo gerade Not ist, und gern mal noch ein Projekt zusätzlich an sich reißen. Oder Ärzte und Pflegekräfte, die jedem gern helfen möchten; die Zeit und die Strukturen geben es zwar nicht her, aber sie rackern sich trotzdem ab für andere, für das Wohl der Menschen … Alle bis zum Anschlag, längst überlastet und überfordert, aber immer noch 120 Prozent, geht ja nicht anders, muss ja, wer soll’s denn sonst machen?

So denkt man sich das mit dem Burnout der anderen. Bis man selbst mittendrin ist. Und es noch nicht mal realisiert. Geschweige denn, eine Definition dafür hat.

Man hat nur auf einmal so eine Schwere in sich, eine Leere auch, eine Verzögertheit und Gelähmtheit. Kraftlosigkeit, Gefühl von Sinnlosigkeit. Keine Energie mehr, keine Ideen, keine Motivation, keine Lust. Überforderung. Dazu diese Reizbarkeit, Dünnhäutigkeit und Ungeduld. Zynismus, Missmut, Indifferenz. Alles negativ.

Und auf einmal braucht man für Handlungen und Routinen der Arbeit, die man sonst mit Freude und Elan angegangen ist, ewig. Alles ist so zäh, man selbst ist so zäh. Und kann einfach nicht mehr, nichts mehr. Alles ist zu viel, zu anstrengend, zu anspruchsvoll. Man ist perplex: Neulich hat man es doch noch gekonnt?!

Und jetzt: Diese große Müdigkeit, dieses Nichtsmehr-Können und Nichts-mehr-Wollen. Wozu auch? Diese Arbeit … alles immer schneller, immer oberflächlicher, immer anspruchsloser. Und was soll ich noch darin? Was ist mein Sinn?

„Geh mal zum Arzt“, sagt eine Freundin. Glücklicherweise sagt sie das. Dieser Schubs ist der erste Schritt auf einen wichtigen Weg. Einen Weg, von dem ich nicht weiß, wie lang er sein wird und wohin er führt. Ob überhaupt irgendwohin. Es ist der Weg mitten in einer Krise tiefer in diese Krise hinein. Es gibt keinen Routenplaner, keine Landkarte dafür – dichter Nebel, und ich muss losgehen. Nicht hier stehenbleiben und mich noch tiefer in mich hineinziehen lassen von diesem unbegreiflichen Sog.

Ja, da schwebt auf einmal dieses Wort im Raum: Burnout. Die Freundin hat es gesagt, meine Ärztin nicht. Aber auch sie hat es erkannt und gesagt: „Ich schreibe Sie jetzt erst mal krank.“ Und eine Diagnose-Chiffre auf den gelben Schein getippt, die ich kurz darauf im Internet nachschaue: Neurasthenie. Was mir da auf Griechisch kredenzt wird, ist eine „Nervenschwäche“. Schon habe ich eine überspannte, ohnmächtig gewordene Dame des 18. Jahrhunderts im viel zu üppigen, viel zu eng geschnürten Kleid vor Augen, die per Riechfläschchen wieder ins Hier und Jetzt geholt wird und alsdann einige Wochen im Bett verbringen soll, um sich zu schonen.

Nervenschwäche – als ob man sich nur mal ein bisschen zusammenreißen müsste und dann geht das schon wieder. Burnout gibt es also gar nicht.

Es gibt Tage, da kann ich mir im Spiegel nicht in die Augen schauen. Weil ich mich nicht sehe. Das bisherige Mich. Ich sehe eine große Ausdruckslosigkeit, oder nein: eine tiefe und zugleich klare, offengelegte Traurigkeit. Das bin ich? So schaue ich jetzt in die Welt?

Es ist nicht so, dass ich morgens nicht aufstehen kann und meinen Tag nicht zu gestalten weiß. (Hab‘ ich also überhaupt einen echten Burnout? Da ist man doch sicherlich ganz anders depressiv, viel tiefer und schwerer … Wie heißt das überhaupt richtig: der oder das Burnout?) Ich arbeite zwar nicht, aber die Tage im Schutz der gelben Scheine fliegen trotzdem irgendwie so dahin. Oft sind es lauter Banalitäten, mit denen ich „beschäftigt“ bin: frühstücken, Zeitung lesen, Radio hören, etwas einkaufen, kochen und essen, ein bisschen Gymnastik machen, grübeln, rausgehen, lesen, schlafen … Das Leben leben. Ohne erkennbaren Zweck, ohne der Gesellschaft nützlich zu sein. Einfach nur leben. Ist das etwa nichts?

Und: Darf ich das so?

Das ist nicht die Frage. Ich kann es grad nur so. Das ist mitunter schwer genug. Schwer zu akzeptieren und anzunehmen, nicht dagegen anzukämpfen und es negativ zu bewerten.

Es dauert Monate, bis ich es mir tatsächlich erlaube: einfach erst mal nur mein Leben zu leben. Nichts müssen, nichts sollen, auch nichts wollen. Nichts anstreben, nichts planen, nichts von mir fordern, weil ich denke, andere könnten diese Erwartung an mich haben und ich müsste doch schnellstens wieder „dabei“ sein, wieder etwas Sinnvolles tun, wieder wirksam sein. Und nützlich.

Nein, jetzt geht es nur darum: ruhig werden, wieder ich werden.

Dafür muss ich sehr geduldig sein … all das aushalten, mich aushalten.

Eines Tages kann ich erkennen und für mich gutheißen: Es geht mir nicht mehr darum, es loszuwerden, zu überwinden, besiegt zu haben; ich möchte es nur begreifen und es akzeptieren, es mit mir mitnehmen – und meinen Frieden damit machen.

***

Burnout – das klingt ja erst mal so dynamisch. Da hat sich jemand so sehr aufgeopfert und verausgabt, ist ja klar, dass der oder die irgendwann nicht mehr kann. Die hat sich den quasi verdient, diesen Burnout. Früher gab es Urkunden, jetzt halt Burnout.

Aber Burnout ist nicht dynamisch. Und keine Auszeichnung. Burnout ist eine Bürde. Die möchte man nicht haben, die sucht man sich nicht aus. Und: Die hat keinen Zeitplan, das ist kein Termin, keine Sitzung, die so und so lange dauert. („Ach, Entschuldigung, ich bin grad mitten im Burnout, ja, ich schau mal, wenn ich mich beeile und alles etwas straffe und optimiere, könnte ich … ja, also übernächste Woche könnte ich wieder an Bord sein.“)

Burnout ist ein Aushaltenmüssen und Sich-Ausgeliefertsein. Da ist keine Linearität, auch wenn man die gern hätte. Es sind Zustände, Phasen, Episoden. Widersprüche, Widerstände, Weinkrämpfe. Ein Wollen und Nicht-Können. Ein Ersehnen von Besserung, von Wieder-gesund-Sein und Sich-wiedergut-Fühlen. Das kommt sogar manchmal, glimmt kurz auf, lässt einen sogar regelrecht euphorisch werden. Bis es plötzlich wieder weg ist. Und man wieder in ein Luftloch sackt, in eine Morastgrube gerät, in ein wirres Dickicht abseits der Lichtung, auf der man sich eben noch wähnte. Das lässt einen verzweifeln, sich als Versagerin fühlen, nicht genesungskompetent.

Das sieht auch die Krankenkasse so, denke ich beunruhigt, als ich das Schreiben mit der Vorladung zum Medizinischen Dienst bekomme. Bürokratische Routine, formales Rasterwerk – so erklären es beschwichtigend Ärztin und Psychologin. Aber ich selbst fühle mich gedemütigt, nicht ernst genommen, in meiner Glaubwürdigkeit angezweifelt. Unter Druck gesetzt. Und wieder muss ich mich also erklären, irgendjemand Fremdem aus dieser Krankenkassenmaschinerie. Als ob ich mir selbst nicht schon genug Druck machen würde.

***

Nach den ersten vier Wochen Arbeitsunfähigkeit bekomme ich eine Verlängerung verordnet. Und ich frage mich: Wie lange so was wohl dauert?

Nicht nur ich frage mich das offenbar. „Ich würde gern mit Ihnen über Ihre Arbeitsunfähigkeit sprechen“, ereilt mich tatsächlich wenige Wochen später die schriftliche Anfrage meines Arbeitgebers, der ja von der Diagnose keine Ahnung hat. Für mich klingt es wie: „Wir vermuten, dass Sie länger ausfallen, wann können wir denn wieder mit Ihnen rechnen?“ Ich antworte kurz schriftlich, dass ich darüber keine Auskunft geben kann. Wiederum eine Woche später bekomme ich meine grundlose Kündigung per Einschreiben …

Ich bin keine Managerin, keine Ärztin, keine Geschäftsführerin. Ich bin … oder vielmehr war Journalistin. Ich habe bei einer Tageszeitung gearbeitet. Nicht 28 Stunden am Tag, sondern zuletzt sogar in Teilzeit. Und doch war sie mir sehr wichtig, diese Arbeit, sie war mein Ausdruck, mein Sein. Habe von außen viel Bestätigung bekommen, Ermunterung, Anerkennung. Das war schön, einerseits. Aber es hat, andererseits, den Druck auf mich selbst, die Erwartung an mich selbst stetig erhöht. Nur nicht nachlassen im Niveau, immer so weiter, die Leute kennen und erwarten das von dir und mögen das doch so – und du selbst von dir doch auch! Bleib so gut, so anspruchsvoll, lass nicht nach in deinen Ideen, bleib so originell, bleib was Besonderes. Und gleichzeitig diese Indifferenz um mich herum, keine Menschlichkeit in der Firmenkultur, keine Motivation, keine Perspektiven. Einfach nur ein Rädchen im System. Warum sehen sie nicht, wie gut ich meine Arbeit mache, warum kriegt man immer nur seine marginalen Fehler vor Augen gehalten? Und warum dulden sie keinen Widerspruch, keine Kritik, kein Aber? Sie müssten doch anders sein, endlich einsehen, dass sie in veralteten Mustern und verkrustetem Denken agieren ...

Ja, ich möchte gefallen, möchte Erwartungen und Hoffnungen gerecht werden, möchte andere gern übertreffen, möchte mich abheben vom Durchschnitt – und eben anerkannt werden, gelobt werden, angespornt werden. Weil es mich erfüllt? Weil es Befriedigung und Bestätigung bringt? Weil ich nicht anders kann? Weil ich es so gelernt habe, oder es mir „angelernt“ wurde? Weil ich schon immer so ehrgeizig war? Weil ich eben schon immer zu den Leistungsstärksten gehört habe? Oder doch nur, weil ich allein daraus meinen Selbstwert gewinne?

***

Identität über Leistung – das ging eine ganze Weile ganz gut. Leistung bringt Anerkennung, und Anerkennung tut gut. Dieses Prinzip funktionierte in der Schule, im Studium und zuletzt eben 14 Jahre im Beruf. Ich habe meine ganze Energie in diese Arbeit gegeben, Selbstwert und Achtung daraus gewonnen. Was für eine schwere Erschütterung meiner selbst, als ich mich ihr plötzlich fremd und zu ihr unfähig fühlte. Als man mir dann noch mitten in dieser Krise die Arbeit nahm, entriss man mir letztlich meine Identität – mein Dazugehören, mein Wirksamsein, meinen Sinn. Meine Verortung in dieser Welt.

Wer bin ich denn, wenn ich diese Arbeit nicht mehr mache? Bin ich überhaupt wer – oder bin ich nur jemand, wenn ich arbeite? Ich bin ich – aber reicht das? Ist Ich-Sein ein Wert an sich? Wer hat etwas davon? Muss überhaupt jemand etwas davon haben – außer mir selbst?

Was kann ich denn auch schon groß, außer dem, was ich nach Auffassung meines einstigen Arbeitgebers jetzt nicht mehr tun soll? – Also gut, schauen wir mal.

Ich kann:

- freundlich sein und zugewandt, schlagfertig und geistreich

- zuhören, nachdenken, mitfühlen

- anderen helfen oder etwas erklären

- treffende Worte finden und daraus gute Texte machen

- besondere Perspektiven entdecken und fotografieren

- einigermaßen bis sehr schmackhaftes Essen zubereiten

- Fremdsprachen lernen und anwenden

- einfallsreich sein und auch mal rumspinnen

- Wander- und Radrouten planen

- Gemüse säen, pflegen und ernten

- mit dem Messer gut Brot abschneiden

- sogar immer noch den Pionierhalstuchknoten

- sensibel sein und weinen (oh ja, viel weinen, und oft)

- schweigen

Ja, schön und gut, werden Sie jetzt vielleicht denken, aber das ist ja alles nichts Richtiges, kein Beruf, davon kann man doch nicht leben! Stimmt, kann man nicht. Aber vielleicht lässt sich etwas daraus machen, so dass ich damit leben kann.

***

Depression und Burnout – das sind hilfreiche Begriffe und Zuschreibungen; Definitionen von Zuständen, in denen man sich wiederfinden kann. Aber ich tue mich immer noch schwer, sie für mich anzunehmen, auf mich anzuwenden, sie zu gebrauchen. „Dieser Zustand jetzt“, „diese Phase jetzt“, sage ich oft, oder auch: „meine Krise“. Aber egal, wie man das nennt, was da mit einem passiert – es passiert. Und inzwischen, etliche gelbe Scheine später, bin ich absurderweise froh um diese Erfahrung des Burnout. Weil ich manches, was dabei niedergebrannt ist, einfach als Asche erkalten lassen kann; und ich manches, weil es eben doch noch glimmt, wieder entfachen kann; wieder anderes entdecke ich erst jetzt, da es freigelegt worden ist, als behütenswert. Andere Glutnester dagegen muss ich im Blick behalten, weil ich weiß, dass ansonsten ein Feuer daraus wird, das ich nicht kontrollieren kann.

Es wird kein Phönix aus dieser Burnout-Asche erstehen, aber vielleicht und hoffentlich ein Ich, das an sich selbst und seiner Verzweiflung gewachsen ist und sich gut finden kann. Freundlich und nachsichtig mit sich selbst sein und einfach ein bisschen mehr Güte für sich aufbringen kann.

***

Ich dachte, ich würde nie wieder schreiben. Nicht mehr für die Öffentlichkeit, nicht mehr für irgendwelche Leser. Gar nicht. Mein Vertrauen in meine Fähigkeit, zu schreiben, mich auszudrücken, geistreich, humorvoll, klug und gewitzt, war erschüttert. Fort. Ich fühlte mich ungenügend, buchstäblich ausgeschrieben, leer. Der Anspruch an mich selbst war unerreichbar geworden, der imaginierte Anspruch der potenziellen Leserinnen noch unerreichbarer. Dem könnte ich nie mehr gerecht werden. Dachte ich.

Ich wollte mich verabschieden vom Schreiben. Es hatte eben seine Zeit und die war nun vorbei. Es ließ sich aber nicht so einfach entlassen, wie man mich Monate zuvor aus meiner Arbeit als Schreibende entlassen hatte. Es wartete einfach ab. Mit einer Geduld und Gleichmut, wie ich sie selbst immer noch erst lernen muss. Und dann eines Tages wagte sich das Schreiben heraus. Mit einem Satz. Ein Satz, der mir plötzlich in den Kopf kam und dort seine Runden drehte. Das passierte unterwegs beim Radfahren, einfach so. Da war auf einmal dieser eine Satz, und nach einem kurzen Staunen erfüllte mich eine vorsichtige Freude, wie ich sie lange nicht gespürt hatte. Eine Hoffnung auch. Und die beinahe schon gewagte Gewissheit: Daraus wird mal ein Buch ... Eines Tages.

Wie der zweite Satz lauten würde, wusste ich noch eine ganze Weile nicht. Aber ich bewahrte mir den ersten wie einen Schatz. Wie ein wunderschönes, einmaliges Geschenk.

***

Gesund. Was ist gesund? Wann bin ich wieder gesund? Wie ist die Definition von gesund? „Das wird jeder für sich anders beantworten“, sagt meine Ärztin. „Was ich heute als gesund empfinde, kann sich durch einen Unfall, eine Krankheit ändern. Auch wenn mir ein Arm fehlt oder ich im Rollstuhl sitze, kann ich mich trotzdem als gesund bezeichnen.“

Aber die Krankenkasse – die will, dass ich schnell wieder „gesund“ werde. Also arbeitsfähig. Aber wann ist dieser Punkt erreicht? Schwer zu sagen, wenn man gerade keine Grippe oder Hexenschuss auszukurieren hat, sondern eine seelische Erkrankung. Wann ist die Seele gesund – wieder gesund? Und ist es nicht eigentlich sogar sehr gesund von ihr, so auf alles reagiert zu haben, mich in den jetzigen Zustand versetzt zu haben?

Sagen wir es so: Aus der schlimmsten Krise bin ich heraus. Ich fühle mich wieder als ich. Ich kann mir im Spiegel wieder in die Augen schauen. Manchmal ist da sogar wieder Ausdruck statt Leere. Leise Zuversicht. Nur das Lächeln, das fällt mir noch schwer. Und es bleibt Unsicherheit – Unsicherheit mir selbst gegenüber. Ich traue mir nicht mehr, habe das Gefühl, mich auf mich, auf meinen inneren Zusammenhalt nicht verlassen zu können. Da ist so eine große Fragilität …

Und die Angst, dass ich eines Tages wieder innerlich kollabieren könnte, dass ich mir selbst und meinem tragischen Sog nicht gewachsen bin, die bleibt.

Aber vielleicht – und hoffentlich – bin ich dann besser vorbereitet, besser gewappnet. Und werde es wieder aushalten, durchleben, durchstehen und wieder daraus herausfinden.

Vielleicht aber bleibt dieses Schwere und Düstere und Verletzliche auch immer in mir. War schon immer in mir. Ich muss nur aufpassen, dass es nicht die Oberhand gewinnt, mich nicht überwältigt und mit mir macht, was es will. Es wird vielleicht immer da sein. Wer kann das schon wissen … Besser, ich stelle mich darauf ein, als zu glauben, das sei jetzt oder vielmehr eines Tages alles ausgestanden und dann ist wieder alles „normal“. Dieses vermeintliche Normal – solange wir das in unserer Gesellschaft als Orientierungspunkt nehmen, werden noch viele Menschen an sich verzweifeln und die Schuld für ihr vermeintliches Nicht-Funktionieren bei sich suchen.

Also: Ich will versuchen, vorsichtig mit mir zu sein, aufmerksam, nachsichtig und geduldig. Achtsam – ich glaube, ich nähere mich einer Ahnung von der Bedeutung dieses Wortes. Achte auf dich selbst. Achte auf dein Verhalten, deine Reaktionen, aber auch dein inneres Befinden und Behagen, deine Bedürfnisse. Achte auf dein Bauchgefühl. Achte darauf, wie du anderen begegnest, was du sagst und wie. Achte darauf, ob du in alte, ungesunde Reaktionsmuster verfällst, ob du vorschnell urteilst oder dich immerzu vom Handeln der anderen beeinträchtigen lässt. Man könnte statt „achtsam“ vielleicht auch „behutsam“ sagen – behutsam mit sich selbst umgehen.

Das hat nichts mit Esoterik zu tun, sondern mit der Realität. Mit meiner Realität und mit mir.

***

Nun, aus Sicht der anderen, der Gesellschaft, derer, die ihren Jobs, ihrem Beruf, ihren Aufträgen nachgehen, aus ihrer Sicht also habe ich in den letzten mehr als zwölf Monaten wahrscheinlich nichts gemacht.

Hier ist meine Sicht:

Ich habe mich sehr oft selbst befragt, mich bezweifelt und mich mit Hilfe anderer wieder aufgebaut.

Ich habe Brötchen, Baguette, zusammengefallene Gebäckteile und einen komplizierten Kuchen gebacken. Und auch sonst viel am Herd fabriziert. Zum Glück sind wir zu zweit, um es alles aufzuessen.

Ich habe mit meiner Frau angefangen, auf einem schnöden Stück Rasen einen Garten anzulegen, und dabei haben wir beide zum ersten Mal in unserem Leben einen Baum gepflanzt.

Ich habe ein kleines, gar nicht mal so windschiefes Hochbeet gebaut.

Ich habe oft nichts gemacht. Habe mir erlaubt, auch mal faul zu sein, zu entspannen, ruhig zu werden, weniger getrieben zu sein.

Ich habe irgendwann aufgehört zu grübeln. (Bis ich dann doch wieder anfing, und wieder aufhörte, und …)

Ich habe eine Psychotherapie begonnen und bin noch mittendrin.

Ich habe Taiji-Übungen aus dem Internet gemacht und bin dabei durch mein Wohnzimmer ge-pferdet und ge-wolkt und ge-kesselt.

Ich habe viele Spaziergänge gemacht, egal wie grau und trüb es draußen oder in mir drinnen war.

Ich habe Ideen gehabt, manche wieder verworfen und manchen eine zweite Chance gegeben.

Ich habe ein Ehrenamtlichen-Projekt initiiert und andere mit meiner Begeisterung dafür angesteckt.

Ich habe ungefähr dreimal eine künftige Selbstständigkeit geplant und mich – viel zu früh – mit wirrem Businessplanzeugs und Gründerwissen zugeballert.

Und mich damit total überfordert.

Ich habe mich ein wenig zurückgezogen.

Ich habe bestimmt zwei oder drei Menschen vor den Kopf gestoßen oder sie enttäuscht, weil ich Treffen mit ihnen abgelehnt oder wieder abgesagt oder so vage aufgeschoben habe.

Ich habe zwei Projektanfragen erst euphorisch zugesagt, habe mich dabei selbst überschätzt und also auch diese wieder abgesagt.

Ich habe Vogelfutterknödel aus Kiefernzapfen und Baumrinde selbst gebastelt.

Ich habe oft schlecht geschlafen – und mich umso mehr gefreut, wenn es mal wieder besser klappte.

Ich habe aus meinem Balkon einen Tomaten-Kräuter-Blumen-Dschungel gemacht.

Ich habe eine für mich ungewohnte Fähigkeit entdeckt und möchte sie gern bewahren und pflegen: die zur Gelassenheit und Langmut.

Ich habe ein Gedicht auswendig gelernt und seither das Gefühl, dass es guttut, sich „lähmender Gewöhnung zu entraffen“, und möchte so gern „heiter Raum um Raum durchschreiten“.

Ich habe mich, so gut es ging, mit mir selbst versöhnt.

Ich habe dies hier alles aufgeschrieben.

Therapie I

Jetzt bloß nicht heulen. Dachte sie und wusste genau, dass das trotzdem gleich passieren würde. Das kannte sie ja schon. Als Erwachsene, hier, ausgerechnet. Warum muss ich denn immer gleich heulen?

Der Hals hatte sich innerlich bereits zusammengeschnürt, eigentlich war es schon zu spät, das wusste sie, beim Schlucken stach es wieder so, als wollte die Speiseröhre gerade zusammenwachsen, der Druck in den Augen wurde stärker, und da spürte sie auch schon, wie das Tränenwasser anfing, förmlich aus dem Augapfel herauszuquellen, durchzusickern, ins Freie zu diffundieren, wie sich die Oberfläche des Auges und der Lidrand mit einem feuchten Film überzogen, das ließ sich kaum noch wegblinzeln; sie spürte, wie sich die Muskeln an Stirn und Schläfen und Wangen spannten, wie sie zuckten und sich, ja, zusammenrissen, um gegen den Schleusendruck anzukämpfen; sie schluckte und musste im Erzählen innehalten, um ein Zittern der Stimme zu vermeiden ... Aber das hatte die Therapeutin sicherlich sowieso schon mitbekommen.

Warum eigentlich wehrte sie sich so sehr dagegen? Was war schon daran, zu weinen? Noch dazu in der Therapiestunde. Gerade hier musste es doch möglich sein. Warum die Scham, das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen. Dabei wusste sie doch, wie gut es ihr tat, das Weinen. Es nahm den Druck in stressigen Situationen, wenn sie sich bedrängt oder aufgewühlt fühlte, wenn ihr etwas naheging, es aus ihrem sehr persönlichen tiefen Inneren kam, wenn es an etwas von früher rührte, etwas sehr Empfindsames.

Das Weinen öffnete innere Pforten und Tore, Wehre und Staue, es erlöste, entspannte, befreite und brachte ihr letztlich Frieden. Und darum ging es doch hier: den eigenen Frieden wiederfinden – sich mit sich selbst und der Welt versöhnen. Ohne Weinen? Unmöglich. Sollten nicht alle mehr weinen? Weinen dürfen? Wären nicht alle viel entspannter, viel gelöster, viel mehr sie selbst?

Trotzdem, sie erlaubte sich das Weinen nicht. Nicht in offiziellen, nicht-privaten Begegnungen. Das macht man doch nicht, was soll denn das Gegenüber denken. Meine Güte, jetzt heul doch nicht gleich, ermahnte sie sich dann selbst Da fiel es ihr ein: So war es früher immer gewesen, schon als Kind hatte sie oft und viel geheult. Das war einfach so. Später, als Jugendliche, ging das immer noch nicht weg. Gerade in diesen inquisitorischen Vater-Tochter-Gesprächen, ach was, Monologe und Verhöre waren das, wortreiche psychische Bedrängung, natürlich immer zu ihrem Besten, um sie irgendwie so hinzubiegen, wie man sich das vorstellte. Warum haste denn nicht… Mach doch mal… Wie denkst du dir das denn… Was soll denn mal werden … Ja, nun sag doch mal was dazu und sitz nicht so da … Und dann der Satz, der die Schmach komplettierte: Warum heulste denn da jetzt? So ging das immer. Und das Heulen wurde nicht weniger.

Sie atmete ein, hielt kurz die Luft an, als ob sich dadurch alles aufhalten ließe, richtete ihren schon tränenverschwommenen Blick in die Weite des Raumes, an die Decke, irgendwohin, nur nicht zur Therapeutin, damit sich der Tränenfluss vielleicht doch noch abwenden ließe, und vor allem der Schnodder, der ja immer ein akustisches Eigenleben führte; sich vor jemand Fremdem die heul-verrotzte Nase zu putzen, war ja nun wirklich unangenehm, das hört sich nicht gut an und sieht nicht gut aus. Also bloß nicht heulen …

Aber da spürte sie schon, wie sich die erste Perle am Lid bildete – und kapitulierte. Endlich, nach diesen quälenden Sekunden der Selbstunterdrückung, dieses inneren Kampfes, gab sie nach und ließ die Tränen heraus. Ließ sie heranrollen und herunterlaufen und quellen und quellen… Woher nur kam dieser immer bereite, nie versiegende Tränenstrom? So warm, so tröstend, so wohltuend. Dann jetzt eben auch hier.

Und dann griff sie doch mal in diese oben offene Pappschachtel auf dem Hocker neben sich, aus der man wie ein Zauberer ein Taschentuch nach dem anderen ziehen konnte, scheinbar endlos … Für nicht enden wollendes Weinen. Sogar die Industrie war auf Weinen eingestellt – wenn das kein gutes Zeichen war.

Leben

Es gibt wohl Menschen, die sagen: Das Leben ist schön.

Dann gibt es aber auch Menschen, die sagen: Das Leben hat viel Schönes.

Und es gibt solche, die sagen: Das Leben kann durchaus manchmal schön sein.

Vergessen wir auch die nicht, die sagen: Das Leben ist selten schön.

Sowie jene, die sagen: Das Leben … will ich nicht.

Alle haben ihre Berechtigung und sollten sich nicht erklären müssen.

Ich finde: Man kann und soll niemanden zwingen, das Leben schön und unbedingt lebenswert zu finden.

Und ich, bin ich lebensmüde? Das wohl nicht. Nur manchmal des Lebens müde. Menschheitsmüde.

Klarsichthülle

Manchmal wäre ich gern eine Klarsichthülle. Die hat Format, ist übersichtlich, lässt sich gut einordnen, und man weiß auf einen Blick, was einen erwartet. Vor allem ich selbst wüsste es dann besser. Und zusammen mit vielen anderen interessant gefüllten Klarsichthüllen wäre ich Teil einer immens wichtigen Gemeinschaft, die auf jeden Fall gebraucht wird. Zumindest hat jemand irgendwann festgelegt, dass solche Ansammlungen wichtig sind und sogar existenziell.

Klarsichthülle – was für ein Wort! Diese Mischung aus zielstrebiger Prägnanz (Klarsicht) und wohliger Geborgenheit (Hülle), ja, das hätte und wäre ich auch gern. Aber wäre ich ein Büroutensil, wäre ich wohl eher eines dieser äußerlich total aufgeräumt wirkenden, aber im Grunde ziemlich unsortierten und mit der Zeit in Vergessenheit geratenen Plasteablagefä-cher, die man so herrlich imposant übereinanderstapeln konnte, um zu suggerieren, man hätte total den Überblick. Dabei wirft man in die anfänglich so hübsch übersichtlich daherkommenden Regalschalen mit der Zeit einfach alles hinein, von dem man nicht weiß, was man gerade damit soll und wohin damit – auf jeden Fall sehr eindrucksvoll! Genauso gut könnte man es auch gleich in den Papierkorb segeln lassen, aber nein, lieber häuft man ein Gedanken-und-Grübel-Chaos an, bis es einen eines Tages böse anzufunkeln scheint, warum man es bitte schön so lange vernachlässigt hat und man möge sich ihm doch jetzt auch mal endlich zuwenden. JETZT! Und noch während man versucht, diese Frotzeleien von der Seite zu ignorieren, gerät dieser mit der Zeit erstaunlich hoch gewordene, wunderschöne Plaste-Ablageschalen-Stapel ins Wanken und poltert auch schon in sich zusammen, noch bevor man die Augen ordentlich schreckgeweitet hat.

Tja, und dann liegt die ganze Misere vor einem, um einen herum und man weiß: Das musst du jetzt wohl oder übel durchgucken, sortieren, aufräumen und entscheiden, was wegkann oder soll und was nicht … Das schiebt man aber routiniert noch ein Weilchen vor sich her, weil es ja doch arg unübersichtlich und befremdlich ist; macht also einfach erst mal das Licht aus und die Tür zu und sucht sich was anderes zu tun, doch die Gedanken kreisen ja doch bloß immer um diesen blöden, in sich zusammengekrachten Stapel Zeugs. Warum nur hat man das nicht von Anfang an alles fein säuberlich in Klarsichthüllen sortiert? Rechtzeitig. Immer dann, wenn es erforderlich war. Also gleich und flugs und ohne großes Aufhebens. Dann hätte man jetzt den Überblick und wäre nicht heillos überfordert.

Andererseits ist da auch wenig Überraschendes bei so einer Klarsichthülle. Ein Blick, und man weiß, womit man es zu tun hat, also weiterblättern, nächste Hülle, aha, so so, Ordner wieder zu. Schematisch, uninspirierend, formal. Irgendwie so vorhersehbar, langweilig, null-acht-fuffzehn. Es sei denn, man stopft hinter die sichtbaren Blätter noch etliche mit hinein, so dass man irgendwann nicht mehr so genau weiß, was da alles noch dazugehört. Also muss man sie rausfummeln und sich mit ihnen erst mal beschäftigen. Zumindest für einige Augenblicke, bis man wieder weiß: Aah ja … So wie wenn man in der eigenen Vergangenheit kramt und in den Erinnerungen wühlt und das eigene Jetzt-so-Sein ergründen möchte … warum bin ich, wie ich bin, wo kommt das alles her, wer hat da so viele Blätter reingestopft mit so viel wirrem Zeug drauf?!

Selbstgespräch

Dieses ständige innere Formulieren der eigenen Befindlichkeiten. Stumme Selbstgespräche oder eher wohl Selbstmonologe. Vor allem wenn sie mit dem Rad fuhr. Statt sich zu freuen, wie schön der spätsommerliche Herbst den Wald golden und warmbunt leuchten ließ, wie die Natur da einfach so da war, stoisch, duldsam, genügsam, ausgeliefert auch, aber einfach da; statt sich daran also zu erfreuen und auch daran, dass sie hier einfach mitten an einem Wochentag ganz ohne Zwänge, die sie bedrängen könnten, durch die Weltgeschichte radeln konnte, dass sie im Grunde doch körperlich ganz und komplett war, ja, bis auf diese blöde Rückensache, und geistig doch eigentlich auch, ja, bis auf diese seelische Erschütterung; und daran, dass in ihrem anderen Zuhause jemand auf sie wartete und sich ganz sehr freute, wenn sie übermorgen wieder hinkäme und man zusammen ein womit auch immer gefülltes schönes Wochenende haben würde, dies alles konnte sie einfach nicht davon abhalten, in Schwermut zu verfallen. Melancholie im goldenen Herbst – das kann auch nicht jeder. Aber sie konnte das sogar im Hochsommer, da erst recht.

Aber was war eigentlich so schlimm an Schwermut? Ach ja, sie hatte immer die Selbstzweifel im Schlepptau. Aber ist doch alles eine Frage der Einstellung. Beim nächsten Mal musste sie da gelassener mit umgehen. Wie wäre es mit: Hallooo, liebe Selbstzweifel, ja was für eine Überraschung, ihr seid’s, wart doch gerade erst vor einer Woche da. Na, aber nun kommt erst mal rein! Hab noch gar nicht wieder aufgeräumt nach eurem letzten Besuch, aber dieses Durcheinander kennt ihr ja schon, fühlt euch also wie zu Hause. Und, nun erzählt mal: Was gibt’s Altes?

Ohnehin wollte sie ja jetzt gelassener werden, ruhiger, demütiger und versöhnlicher sich selbst gegenüber. Nicht so fordernd und sich ständig in Frage stellend. Da gab es doch echt blödere Leute, die sich wirklich mal in Frage stellen sollten. Ruhiger werden wollte sie, sich auf sich konzentrieren, Gedanken neugierig betrachten und ziehen lassen. Nicht bewerten. Naja, aber … Kein Aber, nicht bewerten, sind nur Gedanken.

Immerhin, ein paar Taiji-Übungen aus dem Internet hatte sie sich rausgesucht und einige Zeit sogar abends vor dem Schlafengehen ausgeführt. War ganz gut, immerhin musste sie sich dabei so auf den Ablauf und das Atmen konzentrieren, dass ihr keine Gelegenheit zum Grübeln blieb. Das war doch schon mal was. Überhaupt, das Atmen schien ja der Schlüssel zum Glück zu sein. Konzentriere dich auf deinen Atem und alles wird sich fügen. Aber wie sollte das gehen?

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2022
ISBN (eBook)
9783958942325
ISBN (Buch)
9783958942318
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Juni)
Schlagworte
Burnout Erschöpfung Achtsamkeit Depression

Autor

Nora Knappe, geb. 1978, ist ein Harzer Kind und lebt seit 2007 in der Altmark. Nach ihrem Sinologie-Studium schlug sie den Weg gen Journalismus ein, arbeitete 14 Jahre als Redakteurin einer Tageszeitung und veröffentlichte 2013 ihr erstes Buch mit Kolumnen, es folgten weitere Publikationen. Sie ist Burnout-Betroffene. Seit 2022 erkundet sie neue berufliche Pfade und: schreibt. Außerdem liest, radelt, spaziert und gärtnert sie gern.
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Titel: Burnout – auf einmal mittendrin